Anosmie 1893-028/1893
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    Anosmie (αν- οσμη, Geruch; Verlust des Riechvermögens), ist eine – analog
    der beim Menschen herabgesetzten Bedeutung dieses Sinnes – praktisch wie
    diagnostisch wenig wichtige Erscheinung, obwohl sie interessante Beziehungen zu
    anderen Symptomen bietet. A. kommt congenital vor als Folge von Entwickelungs-
    hemmung oder Abwesenheit der Bulbi olfactorii. Sie findet sich ferner als
    Symptom der Senescenz, da der Riechnerv besonders häufig und frühzeitig von
    seniler Atrophie befallen wird. A. bei einem anderweitig erkrankten, aber greisen
    Individuum hat demnach nicht die Bedeutung eines für die Diagnose verwertli-
    chen Symptomes.

    Findet sich A. als vereinzelntes Symptom, so hat man an mannigfache Möglich-
    keiten ihrer Entstehung zu denken und kann den Angriffspunkt der Läsion an ver-
    schiedenen Stellen des Riechapparates suchen. Die U n t e r s u c h u n g s m e t h o d e n
    für die Störungen dieses Sinnes sind wenig ausgebildet, so dass man nach der
    klinischen Erscheinung der A. selbst eine peripherisch bedingte von einer centralen
    A. nicht zu trennen vermag. Man prüft vermittels riechender Substanzen, am
    besten ätherischer Oele, die man bei Verschluss des einen Nasenloches durch das
    andere aufziehen lässt. Man hütet sich dabei, Substanzen wie Essigsäure, Ammoniak
    zu wählen, welche eine Trigeminusempfindung in der Nasenhöhle hervorrufen.

    Die A. kann zunächst hervorgerufen sein durch pathologische Bildungen
    in der Nase oder im Nasenrachenraum, welche den Zutritt der mit Riechstoffen
    beladenen Luft zur Riechschleimhaut verhindern, also durch Polypen, Narben und
    Neubildungen dieser Regionen, die man durch locake Inspection entdecken wird.
    In gleicher Weise führen chronisch-entzündliche Processe und specifische Processe
    wie die Ozaena zum Verlust des Geruches; in diesen Fällen wird die sichtbare
    Schleimhautveränderung, der Geruchsschwund oder -Afficirung erklären, w-
    welche Veränderungen des peripherischen Apparates fehlen, muss man an eine Affection
    der Bulbi und Tractus olfactorii denken. In einigen dieser Fälle wird die Anamnese
    aufklärend wirken. Es wird nämlich behauptet, dass der Geruch nach Ueber-
    siedlung der Riechnerven (bei beständiger oder sehr intensiver Einwirkung riechender
    Stoffe) schwinden kann. Ferner kann A. Folge einer traumatischen Quetschung
    der Riechstreifen sein, meist nach Fall auf das Hinterhaupt.

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    ANOSMIE.  ANTEFLEXIO UTERI.                                                                                 149

    Processe an dem Theil der Schädelbasis, wo Bulbi und Tractus olfactorii
    aufliegen, Neubildungen, Meningitis können gleichfalls A. bedingen, doch wird
    man diese Diagnose kaum ohne Concurrenz anderer Symptome stellen können.

    Als Begleiterscheinung eines grösseren Symptomcomplexes findet sich A.,
    und zwar halbseitig, bei der cerebralen sensitiv-sensoriellen Hemianästhesie, die dann
    auf einen Herd in hinteren Drittel des hinteren Schenkels der inneren Kapsel oder
    auf einen Herd, der auf diese Region Fernwirkung übt, zu beziehen gewohnt ist.

    Man muss sich vorstellen, dass durch Erkrankung in dieser Region intra-
    cerebrale Fortsetzungen der Riechbahn getroffen werden, die vom Bulbus und
    Tractus olfactorius (nach einer Kreuzung) zu einem noch nicht sicher bekannten
    Region der Hirnrinde ziehen. In ähnlicher oder identischer Weise findet man halb-
    seitige A. bei hysterischer Hemianästhesie, bei welcher übrigens jedes Sinnes-
    vermögen auch doppelseitig aufgehoben sein kann.

    Ganz besonders interessant ist das Zusammentreffen halbseitiger A. mit
    Hemiplegie oder Hemiplegie und Aphasie. Die A. ist dann eine gegenständige,
    d. h. sie betrifft die linke Nasenhälfte, wenn Aphasie und eine rechtsseitige Hemi-
    plegie vorhanden ist. Man kann aus diesem Zusammentreffen die Diagnose eines
    Verschlusses der Arteria cerebri media schöpfen, welcher Gefäss einen Theil des
    Bezirkes, in den sich die Riechstreifen einsenken, versorgt. Die A. ist mit der
    Hemiplegie gekreuzt, weil sie auf Affection des Tractus olfactorius vor der Kreuzung
    seiner intracerebralen Bahnen zurückzuführen ist. A. ist bei Hirntumoren nicht
    selten, aber nicht immer als Localsymptom zu verwerthen, weil die olfactorii
    wie die anderen Hirnnerven durch den fortgepflanzten Hirndruck leiden können.
    Einseitige A. nebst anderen halbseitigen Symptomen, z. B. einer einseitigen Stauungs-
    papille, wird die Localdiagnose des Tumors ermöglichen.
                                                                                                         

    Für die Untersuchung auf A. ist stets zu beachten, dass Kranke mit
    beiderseitiger A. auch über Geschmackstörung beim Essen klagen. Das sogenannte
    Schmecken der Speisen ist nämlich aus Geschmacks- und Geruchsempfindungen
    zusammengesetzt. Diese Klage findet viel auch bei Facial- und Trigeminuslähmung,
    bei ersterer, weil das Aufziehen der Luft durch das Nasenloch erschwert ist, bei
    letzterer, weil Lähmung der Trigeminusäste der Nase Nasensekretveränderungen in
    der Nase bedingt, oder weil eine kräftigere Function der anderen Sinne an die
    Intactheit der Trigeminuswahrnehmung gebunden ist.
                                                                                                            Freud.