Ansprache im Frankfurter Goethe-Haus 1930-051/1930.02
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    Die Frauen haben mir die Bedeutung,
    daß diese Stellen im Radio gesendet werden.


    Hochverehrter Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren!

    M
    eine Lebensarbeit war auf ein einziges Ziel eingestellt. Ich
    beobachtete die feineren Störungen der seelischen Leistung bei Gesunden
    und Kranken und wollte aus solchen Anzeichen erschliessen -oder, wenn
    Sie es lieber hören: erraten-, wie der Apparat gebaut ist, der diesen
    Leistungen dient, und welche Kräfte in ihm zusammen und gegen einander
    wirken. Was wir, ich, meine Freunde und Mitarbeiter, auf diesem W E G E
    Wege lernen konnten, erschien uns bedeutsam für den Aufbau einer Seelen-
    kunde, die normale wie pathologische Vorgänge als Teile des nämlichen
    natürlichen Geschehens verstehen lässt.

    Von solcher Einengung ruft mich Ihre mich überraschende Auszeichnung
    zurück. Indem sie die Gestalt des grossen Universellen heraufbeschwört,
    d e r in d i e s e m H a u s e geboren wurde, in diesen Räumen seine Kindheit erlebte,
    mahnt sie, sich gleichsam vor ihm zu rechtfertigen, wirft sie die Frage
    auf, wie er sich verhalten hätte, wenn sein für jede Neuerung der Wissen-
    schaft aufmerksamer Blick auch auf die Psychoanalyse gefallen wäre.

    A
    n Vielseitigkeit kommt G o e t h e ja L e o n a r d o d a V i n c i, dem Meister
    der Renaissance nahe, der Künstler und Forscher war wie er. Aber Menschen-
    bilder können sich nie wiederholen, es fehlt auch nicht an tiefgehenden
    Unterschieden zwischen den beiden Grossen. In L e o n a r d o s Natur vertrug
    sich der Forscher nicht mit dem Künstler, er störte ihn und erdrückte
    ihn vielleicht am Ende. In G o e t h e s Leben fanden beide der Persönlichkeiten
    Raum nebeneinander, sie lösten einander zeitweise in der Vorherrschaft
    ab. Es liegt nahe, die Störung bei L e o n a r d o mit jener E x w i c k l u n g s h e m m u n g
    zusammen zu bringen, die alles Erotische und damit die Psychologie seinem
    Interesse entrückte. In diesem Punkt durfte G o e t h e s Wesen sich freier
    entfalten.


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    Ich denke, G o e t h e hätte nicht wie so viele u n s e r e r Zeitgenossen
    die Psychoanalyse unfreundlichen Sinnes abgelehnt. Er war ihr selbst in
    manchen Stücken nahe gekommen, hatte in eigener Einsicht vieles erkannt,
    was wir seither bestätigen konnten und manche Auffassungen, die uns
    Kritik und Spott eingetragen haben, werden von ihm wie selbstverständ-
    lich vertreten. So war ihm z. B. die unvergleichliche Stärke der ersten
    a f f e k t i v e n Bindungen des Menschenkindes vertraut. Er feierte sie in der
    Zueignung der F a u s t d i c h t u n g in Worten, die wir für jede unserer Analysen
    wiederholen könnten:

    „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
    Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
    Versuch‘ ich wohl, euch diesmal festzuhalten?
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    Gleich einem alten, halbverklungenen Sage
    Kommt erste Lieb‘ und Freundschaft mit herauf.“

    Von der stärksten L i e b e s a n z i e h u n g, die er als reifer Mann erfuhr, g a b
    er sich Rechenschaft, indem er der Geliebten zurief:

    „Ach, du warst in abgelebten Zeiten meine S c h w e s t e r oder meine Frau.“

    Er stellte somit nicht in Abrede, dass diese unvergänglichen ersten
    Neigungen Personen des eigenen F a m i l i e n k r e i s e s zum Objekt nehmen.

    Den Inhalt des T r a u m l e b e n s umschreibt G o e t h e mit den so stimmungs-
    vollen Worten:

    „Was von Menschen nicht gewusst,
    Oder nicht bedacht,
    Durch das L a b y r i n t h der Brust
    Wandelt in der N a c h t.“

    Hinter diesem Zauber erkennen wir die altehrwürdige, unbestreitbar richtige
    Aussage des A r i s t o t e l e s, dass Träumen sei die Fortsetzung unserer Seelen-
    tätigkeit in den Schlafzustand, vereint mit der Anerkennung des Unbewussten,

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    die erst die Psychoanalyse hinzugefügt hat. Nur das Rätsel der Traum-
    entstellung findet dabei keine Auflösung.

    In seiner vielleicht erhabensten Dichtung, der I p h i g e n i e, zeigt
    uns G o e t h e ein ergreifendes Beispiel einer Entsühnung, einer Befreiung
    der leidenden Seele von dem Druck der Schuld und er lässt diese K a t h a r s i s
    sich vollziehen durch einen leidenschaftlichen Gefühlsaufbruch unter
    dem wohltätigen Einfluss einer liebevollen T e i l n a h m e. Ja, er hat sich
    selbst wiederholt in psychischer Hilfeleistung versucht, so an jenem
    Unglücklichen, der in den Briefen K r a f t genannt wird, an dem Professor
    P l e s s i n g, von dem er in der „C a m p a g n e in F r a n k r e i c h “ erzählt, und das
    Verfahren, das er dabei anwendete, geht über das Vorgehen der k a t h o l i s c h e n
    Beichte hinaus und berührt sich in merkwürdigen Einzelheiten mit der
    Technik unserer P s y c h o a n a l y s e. Ein von G o e t h e als scherzhaft bezeichnetes
    Beispiel einer psychotherapeutischen Beeinflussung möchte ich hier aus-
    führlich mitteilen, weil es vielleicht weniger bekannt und doch sehr
    charakteristisch ist. Aus einem Brief an F r a u v o n S t e i n (Nr.1444 vom
    5. S e p t e m b e r 1785):

    „Gestern Abend habe ich ein recht Psychologisches Kunststück gemacht.
    Die Herder war immer noch auf das Hypochondrischste gespannt über
    alles, was ihr im C a r l s b a d unangenehmes begegnet war. Besonders von
    ihrer Hausgenossin. Ich liess mir alles erzählen und beichten,
    fremde Unarten und eigene Fehler mit den kleinsten Umständen und
    Folgen und zuletzt absolvierte ich sie und machte ihr scherzhaft
    unter dieser F o r m e l begreiflich, dass diese Dinge nun abgethan und
    in die T i e f e des M e e r e s geworfen seyen. Sie ward selbst lustig
    darüber und ist wirklich kurirt.“


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    Den E r o s hat G o e t h e immer hochgehalten, seine Macht nie zu ver-
    kleinern versucht, ist seinen p r i m i t i v e n oder selbst mutwilligen
    Aeusserungen nicht minder achtungsvoll gefolgt wie seinen hochsubli-
    mierten und hat, wie mir scheint, seine Wesenseinheit durch alle seine
    Erscheinungsformen nicht weniger entschieden vertreten als vor Z e i t e n
    P l a t o. Ja, vielleicht ist es mehr als zufälliges Zusammentreffen, wenn
    er in den „W a l v e r w a n d t s c h a f t e n“ eine I d e e aus dem Vorstellungskreis
    der Chemie auf das L i e b e s l e b e n anwendete, eine Beziehung, von der der
    Name selbst der P s y c h o a n a l y s e zeugt.

    Ich bin auf den Vorwurf vorbereitet, wir A n a l y t i k e r hätten das
    Recht verwirkt, uns unter die Patronanz G o e t h e s zu stellen, weil wir
    die ihm schuldige E h r f u r c h t verletzt haben, indem wir die A n a l y s e auf
    ihn selbst anzuwenden versuchen, den grossen Mann zum Objekt der
    a n a l y t i s c h e n F o r s c h u n g erniedrigten. I c h aber bestreite zunächst,
    dass
    dies eine E r n i e d r i g u n g beabsichtigt oder bedeutet.

    Wir alle, die wir G o e t h e verehren, lassen uns doch ohne viel Sträuben
    die Bemühungen der B i o g r a p h e n gefallen, die sein Leben aus den vorhandenen
    Berichten und Aufzeichnungen wiederherstellen wollen. Was aber sollen
    uns diese B i o g r a p h i e n leisten? Auch die beste und vollständigste könnte
    die beiden Fragen nicht beantworten, die allein wissenswert scheinen.
    Sie würde das Rätsel der wunderbaren Begabung nicht aufklären, die den
    Künstler macht, und sie könnte uns nicht helfen, den Wert und die Wirkung
    seiner Werke besser zu erfassen. Und doch ist es unzweifelhaft, dass eine
    solche B i o g r a p h i e ein starkes Bedürfnis bei uns befriedigt. Wir verspüren
    dies so deutlich, wenn die Ungunst der historischen U e b e r l i e f e r u n g
    diesem Bedürfnis die Befriedigung versagt hat, z. B. im Falle S h a k e s p e a r e s.
    Es ist uns allen unleugbar peinlich, dass wir noch immer nicht wissen,


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    wer die Komödien, Trauerspiele und Sonette S h a k e s p e a r e s verfasst hat,
    ob wirklich der ungelehrte Sohn des S t r a t f o r d e r K l e i n b ü r g e r s, der in
    L o n d o n eine bescheidene Stellung als Schauspieler erreicht, oder doch
    eher der hochgeborene und feingebildete, leidenschaftlich unordentliche,
    einigermassen deklassierte Aristokrat E d w a r d d e V e r e, siebzehnter E a r l
    o f O x f o r d, erblicher L o r d C h a m b e r l a i n von E n g l a n d. Wie rechtfertigt sich
    aber ein solches Bedürfnis, von den L e b e n s u m s t ä n d e n eines Mannes Kunde
    zu erhalten, wenn dessen Werke für uns so bedeutungsvoll geworden sind?
    Man sagt allgemein, es sei das Verlangen, uns einen solchen Mann auch
    menschlich näher zu bringen. Lassen wir das gelten; es ist also das
    Bedürfnis, a f f e k t i v e Beziehungen zu solchen Menschen zu gewinnen, sie
    den Vätern, Lehrern, Vorbildern anzureihen, die wir gekannt oder deren
    Einfluss wir bereits erfahren haben, unter der Erwartung, dass ihre
    Persönlichkeiten ebenso grossartig und bewundernswert sein werden wie
    die Werke, die wir von ihnen besitzen.

    Immerhin wollen wir zugestehen, dass noch ein anderes Motiv im
    Spiele ist. Die R e c h t f e r t i g u n g des B i o g r a p h e n enthält auch ein B e k e n n t-
    nis. Nicht herabsetzen zwar will der B i o g r a p h den Heros, sondern ihn
    uns näherbringen. Aber das heisst doch, die D i s t a n z, die uns von ihm
    trennt, v e r r i n g e r n, wirkt doch in der Richtung einer E r n i e d r i g u n g.
    Und es ist unvermeidlich, wenn wir vom Leben eines G r o s s e n mehr erfahren,
    werden wir auch von G e l e g e n h e i t e n hören, in denen er es wirklich nicht
    besser gemacht hat als wir, uns menschlich wirklich nahe gekommen ist.
    Dennoch meine ich, wir erklären die Bemühungen der B i o g r a p h i k für legitim.
    Unsere Einstellung zu V ä t e r n und L e h r e r n ist nun einmal eine a m b i v a l e n t e,
    denn unsere Verehrung für sie deckt regelmässig eine Komponente von
    f e i n d s e l i g e r A u f l e h n u n g. Das ist ein p s y c h o l o g i s c h e s Verhängnis, lässt


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    sich ohne gewaltsame Unterdrückung der Wahrheit nicht ändern und muss
    sich auf u n s e r Verhältnis zu den grossen M ä n n e r n, deren Lebensgeschichte
    wir erforschen wollen, fortsetzen.

    Wenn die P s y c h o a n a l y s e sich in den Dienst der B i o g r a p h i k begibt,
    hat sie natürlich ein R e c h t, nicht härter behandelt zu werden als diese
    selbst. Die P s y c h o a n a l y s e kann manche Aufschlüsse bringen, die auf an-
    deren Wegen nicht zu erhalten sind und so neue Zusammenhänge aufzeigen
    in dem W e b e r m e i s t e r s t ü c k, das sich zwischen den T r i e b a n l a g e n, den
    E r l e b n i s s e n und den W e r k e n eines K ü n s t l e r s ausbreitet. Da es eine der
    hauptsächlichsten Funktionen unseres Denkens ist, den S t o f f der Aussen-
    welt psychisch zu bewältigen, meine ich, man müsste es der P s y c h o a n a l y s e
    danken, wenn sie auf den grossen M a n n angewendet zum Verständnis seiner
    grossen Leistung beiträgt. Aber ich gestehe, im Falle von G o e t h e haben
    wir es n o c h nicht weit gebracht. Das rührt daher, dass G o e t h e nicht
    nur als Dichter ein grosser Bekenner war, sondern auch trotz der Fülle
    autobiographischer Aufzeichnungen ein sorgsamer V e r h ü l l e r. Wir können
    nicht umhin, hier der Worte M e p h i s t o s zu gedenken:

    „Das B e s t e, was du wissen kannst,
    Darfs t du den Buben doch nicht sagen.“

    S i g m. F r e u d.