Aphasie 1888-029/1899
  • S.

    Aphasie, die [a priv. — φάσις Sprache
    (griech.)]; (frz. aphasie f; engl. aphasia, aphasys; 
    it. afasia f, afazia f); Synonyme: Aphemie,
    Alogie. Unterabteilung: Wortblindheit,
    Agraphie. Unter A. versteht man die Auf-
    hebung oder Beeinträchtigung des Vermö-
    gens, seine Gedanken durch konventionelle
    Zeichen auszudrücken oder solche Zeichen
    zu verstehen, trotz des Fortbestandes eines
    hinreichenden Grades von Intelligenz und
    trotz der Integrität der peripheren, sen-
    soriellen, nervösen und Muskelapparate,
    welche bei dem Ausdrucke oder beim Ver-
    ständnis der Sprache beteiligt sind. Die
    Taubstummheit, die Sprachlosigkeit der
    Idioten und die Sprachaufhebung im Koma,
    sowie durch Lähmung der Zunge und der
    Lippen fällt daher nicht unter den Begriff
    der A. Die A. ist eine psychische Erkran-
    kung, es ist aber festzuhalten, dass sie nicht
    notwendig mit Intelligenzstörung verbunden
    ist, letztere ist jedesmal als eine Kompli-
    kation aufzufassen. Man unterscheidet die
    natürliche oder emotionelle Sprache (Ge-
    bärdensprache) und die künstliche oder arti-
    kulierte Sprache; von denen die letztere
    häufiger Störungen unterliegt, weil sie später
    erworben wird. Die mannigfachen Stö-
    rungen der artikulierten Sprache (eigent-
    liche A. im Gegensatze zur Amimie) werden
    nur verständlich, wenn man nachfolgende
    Betrachtungen über den normalen Hergang
    der Sprache würdigt: Ein „Wort“ ist keine
    einfache Vorstellung, sondern ein Komplex,
    welcher aus vier Elementen, zwei sensoriellen
    und zwei motorischen besteht. Die beiden
    sensoriellen sind: das Erinnerungsbild des
    gehörten Wortes (die Gehörsvorstellung) und
    das optische Bild des gesehenen Wortes (in
    Schrift oder Druck); die zwei motorischen:
    die Bewegungsvorstellung (von den Sprach-
    werkzeugen) des gesprochenen und die Be-
    wegungsvorstellung (von der rechten Hand)
    des geschriebenen Wortes. Der zweite und
    vierte dieser Bestandteile spielen nur bei
    Gebildeten eine Rolle. Erlernt wird die
    Sprache auf dem Wege des Gehörs. Ausser-
    dem sind die Verknüpfungen in Betracht
    zu ziehen, welche diese vier Elemente der
    Wortvorstellung mit der Vorstellung des Ob-
    jektes in Verbindung bringen. Es gibt
    demnach zwei Hauptarten der A., die mo-
    torische und die sensorische, und vier reine
    Formen, nämlich: die Worttaubheit,
    Wortblindheit, motorische A. (Aphe-
    mie) und Agraphie. Diese Formen werden
    mitunter rein in der Klinik angetroffen;
    viel häufiger sind aber komplexe Sprach-
    störungen, bei denen alle vier Weisen der

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    Sprachfunktion in wechselnder Beteiligung
    gelitten haben. Der Teil des Gehirns, in
    welchem die Verknüpfung des Materials von
    Sprachvorstellung vor sich geht, ist dessen
    Erkrankung also Sprachstörung nach sich
    zieht, ist die Reilsche Insel mit dem sie um-
    ziehenden Windungsbogen, welcher als erste
    Stirnwindung, Fuss der Zentralwindungen
    unteres Scheitelläppchen und erste Schläfen-
    windung vom Stirnende zum Schläfenende
    der Hemisphäre zieht. Das Sprachfeld ist
    also zum Teil in der Tiefe, zum Teil in der
    Umrandung der Sylvischen Grube gelegen.
    Dasselbe ist jedoch nicht in beiden Hemi-
    sphären ausgebildet; bei den meisten (rechts-
    händigen) Menschen ist er die linke, bei
    anderen (Linkshändern) die rechte Hemi-
    sphäre, welche das Sprachfeld enthält. Es
    gibt einzelne Stellen im Sprachfelde der
    linken Hemisphäre, deren Verletzung eine
    reine Form von A. erzeugt. Dieselben führen
    den – übrigens missverständlichen – Namen
    von Zentren; ihre genauere Umgrenzung ist
    derzeit unmöglich. So liegt das Zentrum
    der motorischen Sprachfähigkeit im hinteren
    Teil der ersten Stirnwindung (Brocasche
    Stelle), das Zentrum der Schreibfähigkeit im
    hinteren Teil der zweiten Stirnwindung; der
    Rindenort, von dessen Integrität das Ver-
    ständnis der gehörten Sprache abhängt, ist
    die erste Schläfenwindung, der entsprechende
    Rindenort für die gelesenen Sprachszeichen
    das untere Scheitelläppchen. Die Zentren
    der Sprache sind bemerkenswerterweise die
    äussersten Bezirke der Sprachfelder und
    stossen an Zentren anderer Funktionen (der
    Zunge und Lippen, des Armes, des Gehörs
    und Gesichtes überhaupt) direkt an, während
    Läsionen der zwischen den Zentren gelegenen
    Sprachfeldes stets komplexe Sprachstörungen
    zu ergeben scheinen. Die sog. Zentren der
    Sprache sind also wahrscheinlich bloss die
    Einstrahlungsstellen der von anderen (Ge-
    bieten zum Sprachfeld kommenden Assozia-
    tionsbündel). Die vier reinen Formen der
    A. charakterisieren sich klinisch in folgen-
    der Weise:
    1.) Die sensorischen A.-en: a) Die
    Worttaubheit. Die Kranken verstehen
    nicht mehr, was man zu ihnen spricht, trotz
    erhaltenem Gehör und guter Intelligenz. Die
    Sprache tönt ihnen wie ein verworrenes Ge-
    räusch. Der Sprachschatz aber, dessen sich
    die Kranken selbst bedienen, ist unbeeinträchtigt.
    Fast immer findet man aber bei der Wort-
    taubheit motorische Sprachstörung, sog. Par-
    aphasie, die darin besteht, dass der Kranke,
    ohne es zu merken, unpassende Worte zum
    Ausdruck seiner Gedanken verwendet. Diese
    Paraphasie kann so weit gehen, dass die
    Sprache des Kranken ganz sinnlos wird, Z.
    und dass die Kranken für Geistesgestört ge-
    halten werden.
    b) Die Wortblindheit (besser Schrift-
    blindheit). Die Kranken sind bei sonst gutem
    Sprachvermögen nicht im stande, die Be-
    deutung geschriebener oder gedruckter

    Sprachzeichen, welche sie sehr gut sehen,
    zu erkennen. Sie können daher nicht lesen
    (Alexie), oder sie lesen mit Hilfe eines Kunst-
    griffs, indem sie die einzelnen gesehenen
    und nicht erkannten Buchstaben nacheigen.
    Diese „Blindheit“ besteht manchmal
    nur für Silben, während einzelne Buchstaben
    noch erkannt werden, andere Male auch für
    Buchstaben. Nicht selten werden dabei Zahlen
    noch erkannt. Die Wortblindheit ist fast
    immer mit halbseitiger Einschränkung des
    Gesichtsfeldes (Hemianopsie) kompliziert.
    II. Die motorischen A.-en: a) Die
    eigentliche motorische Aphasie (Aphemie).
    Diese ist bei weitem die häufigste Sprach-
    störung und wird am ehesten rein angetroffen.
    Sie ist gekennzeichnet durch die Aufhebung
    oder Verminderung des Sprachschatzes. Der
    Kranke hat in extenso einen nur Gebärden,
    in anderen nur einzelne Silben oder Worte,
    selbst ganze Phrasen zur Verfügung, mit
    denen er auf alles antwort gibt. Er ist sich
    aber des unzureichenden Charakters dieser
    Aeusserungen sehr wohl bewusst und ist
    sichtlich über sein Unvermögen, mehr als
    die ihm gebliebenen stereotype Wendung zu
    sagen, gekränkt. Die resstierenden Reden
    des A. schem haben häufig den Charakter
    von Interjektionen „Ja“, „Nein“ oder
    von sinnlosen einzelnen Silben:  s t a n - t a n  und
    bestehen Zusammensetzungen von solchen:
    wie  a k o k o ,  m o m o n e n t , endlich in
    ganzen, einfach gebauten Sätzen. Alle diese
    Reden werden korrekt artikuliert, was die
    A. streng von der Lähmung der Sprach-
    werkzeuge (Alalie) unterscheidet. Wenn die
    Verringerung des Sprachschatzes keine hoch-
    gradige ist, betrifft sie zumeist die Haupt-
    wörter und äussert sich darin, dass der
    Kranke dieselben durch Angaben von Hand-
    lungen zu umschreiben sucht. So z. B. sagt
    er anstatt: „Geben Sie mir meinen Hut“:
    „Geben Sie mir das, was man setzt auf
    den  S i n n “. Die Sprachfähigkeit eines A.-schen
    schwankt indessen mit seinem Allgemein-
    zustand und kann häufig unter dem Ein-
    flusse einer Erregung eine plötzliche Stei-
    gerung erfahren. Es ist ferner zu beachten,
    dass viele A.-sche, die nicht im stande sind,
    aus eigenem, d. h. von ihren Gedanken
    gang aus, ein bestimmtes Wort auszusprechen,
    dasselbe korrekt wiederholen, wenn es ihnen
    vorgesagt wird. Dies hängt davon ab, welch-
    der vielfachen Assoziationsbahnen der Sprache
    zerstört oder erhalten sind, und findet seine
    Analogie bei den anderen Formen der Sprach-
    störung. Die motorische A. ist häufig,
    aber nicht notwendig, mit einer Lähmung
    der rechtsseitigen Extremitäten, oder mit
    Lähmung der cerebralen Bahnen, welche
    Zungen, Lippen, Kehlkopf und Schlund-
    muskeln beherrschen, vergesellschaftet. Ganz
    gewöhnlich findet sich motorische A. in den
    ersten Tagen nach einem linksseitigen apo-
    plektischen Insult, solange noch die ganze
    Hemisphäre unter den Folgen des Insultes
    leidet. Die Sprachstörung pflegt sich dann

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    alsbald zurückzubilden; sie kann in solchen
    Fällen als ein indirektes Herdsymptom auf-
    gefasst werden.
    b) Die Agraphie kann nach einem glück-
    lichen Ausdruck Charcots als „A. der Hand“
    bezeichnet werden. Agraphie findet sich
    verhältnismässig selten als reine Form. Wenn
    eine rechtsseitige Lähmung vorhanden ist,
    lässt sich die Frage nach dem Vorhanden-
    sein von Agraphie natürlich nicht entschei-
    den. Sonst begleitet die Agraphie in der
    Regel die motorische A., hält aber nicht
    notwendig gleichen Schritt mit ihr. Sie
    besteht darin, dass die Kranken zum Schrei-
    ben aufgefordert, nur sinn- und zusammen-
    hanglose Striche zusammenbringen. Auch
    solche Kranke schreiben mitunter noch richtig
    auf Diktat oder kopieren Vorgaben, während
    sie ohne solche Anregung nicht schreiben
    können. — Die komplizierteren aphasischen
    Störungen wird man in der Art analysieren
    müssen, dass man durch genaue Unter-
    suchung feststellt, welche Verknüpfungen
    zwischen den einzelnen Elementen der Wort-
    vorstellung und zwischen diesen und der
    Vorstellung des bezeichneten Objectes er-
    halten oder unterbrochen sind. Da die A.
    ein exquisites Herdsymptom ist, kann sie
    durch jede Läsion, welche das Sprachfeld
    betrifft, hervorgerufen werden, so durch:
    Gehirnblutungen, Erweichungen, Tumoren,
    traumatische Einwirkungen, Abscesse, chro-
    nische Momente wie Herz- und Gefäss-
    erkrankung, Syphilis, Morbus Brightii, akute
    Infektionskrankheiten (Typhus, Variola), Dia-
    betes mellitus etc., kommen hier, wie bei den
    anderen Formen der Gehirnerkrankung in
    Betracht, ohne dass die eine oder andere
    der Ursachen eine besondere Beziehung zur
    Form der A. darböte. Letztere hängt viel-
    mehr einzig von der Lokalisation und Aus-
    dehnung der im Sprachfelde etablierten
    Läsion ab. A. ist nicht immer Folge eines
    materiellen Gehirnprozesses; vielmehr können
    auch Neurosen, wie die Hysterie und die
    Neurasthenie, aphasische Störungen erzeugen.
    Die hysterische A. ist eine rein motorische,
    soweit sie bis jetzt studiert ist. Sie kenn-
    zeichnet sich aber durch ihre Vollständiger-
    keit oder vielmehr durch ihren absoluten
    Charakter. Die Kranken sind nicht etwa
    auf den Gebrauch einzelner Worte einge-
    schränkt, sondern sie sind vollkommen sprach-
    los, ja stimmlos; nicht ein Laut, nicht ein
    Schrei kommt zu stande. Die hysterische
    A. ist also eine eigentliche „Stummheit“.
    Dabei ist aber die Schreibfähigkeit stets er-
    halten und gesteigert. Die Kranken deuten
    Befragt auf ihren Mund, greifen dann zur
    Feder und schreiben mit ungewöhnlicher
    Rapidität und Sicherheit ihre Gedanken nie-
    der. Die Sprachstörung infolge neurasthe-
    nischer Gehirnermüdung beschränkt sich auf
    das Vergessen einzelner konkreter Worte,
    der die Verwechselung ähnlich klingender
    Worte in der Rede und steht so der bei
    gesunden Menschen vorkommenden Para-

    phasie nahe. — Die Prognose und Thera-
    pie der A. ist dieselbe wie die einer Läh-
    mung und richtet sich nach dem Grund-
    leiden. Alle Formen der aphasischen Störung
    sind unter günstigen Bedingungen einer Bes-
    serung oder eines Ausgleichs fähig. Bleibt
    ein nicht weichender Defekt des Sprachver-
    mögens zurück, so kann man versuchen, den-
    selben durch Neuerziehung des Kranken aus-
    zufüllen. So lernt der Wortblinde, wenn
    auch mühsam, wieder lesen, der Agraphische
    wieder schreiben. Letzterer kann sich zum
    Schreiben der linken Hand bedienen, die
    entweder in Spiegelschrift oder in normalen
    Charakteren schreiben lernt. Erhaltene In-
    telligenz ist für solche Lernversuche Be-
    dingung.