Aphasie 1893-029/1893
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            Aphasie (φάσις, Sprache). Unter A. versteht man heute eine Reihe von
    erworbenen Störungen in der Aufnahme oder in der Ausübung der articulirten
    Sprache, welche noch die Bedingung erfüllen, dass sie nicht durch Erkrankung
    der peripherischen Apparate für die Sprachaufnahme (Gehörorgan) oder für die
    Sprachausübung (Sprachmusculatur) zu Stande gekommen sind, und nicht von
    einer allgemeinen Trübung der Gehirnleistung herrühren (Coma, Psychosen). Von
    A. kann also nur die Rede sein, wenn ein Mensch nicht taubstumm ist (es sei
    denn, dass er durch Unterricht zur Laut- oder Zeichensprache geleitet wurde) und
    wenn sein sonstiges Verhalten erkennen lässt, dass nicht ein Wahnideé oder ein
    besonderer Bewusstseinszustand ihn am Sprechen und Antworten verhindert. Die
    Sprachstörung durch motorische Lähmung der Sprachmusculatur verdient gleich-
    falls nicht den Namen einer A.; sie bildet nicht so scharf von der echten
    A. trennen; sie ist unter Aponeurotik behandelt worden.

    Da es sich bei der Diagnostik der A. um die Beurtheilung einer compli-
    cirten psychischen Function handelt, werden einige orientirende Bemerkungen
    nach der Verf. Studio der Auffassung der „Aphasia“ nicht überflüssig sein.

    Die Sprachleistung ist eine mühsam erworbene Gewohnheitsleistung; zu
    welcher psychische Elemente verschiedener Herkunft zusammentreten. Dieselbe
    wird erlernt auf dem Wege des Hörens und Nachsprechens, und die Intactheit
    des Gehörs ist auch für das Kind eine unerlässliche Bedingung für das Zustande-
    kommen des Sprechens (Taubstummheit). Eine Reihe von Jahren beschränkt sich
    nun die Sprachleistung auf die Association zwischen acoustischen und motorischen
    Elementen (Wahrnehmungsresten, Erinnerungsbildern), also auf die Verknüpfung
    von Klangbildern mit Wortbewegungsbildern und die Reproduction der letzteren.
    Später wird das Lesen und Schreiben erlernt; es treten dadurch neue optische
    und motorische Erinnerungsbilder in die Association ein, deren Bedeutung in der
    Beziehung zu den älteren acoustischen und sprachmotorischen Erinnerungsbildern
    enthalten ist. Nachdem dieser Fortschritt erfolgt ist, steht sich ein einzelnes Wort
    als ein Complex von vier (oder mehr) verschiedenen psychischen Elementen dar:
    dem Klangbild des gehörten Wortes, dem Bewegungsbild des gesprochenen Wortes,
    dem Gesichtsbild des gesehenen Wortes und dem Bewegungsbild des geschriebenen
    Wortes. Einige andere psychische Elemente, z. B. das Klangbild des gesprochenen
    Wortes, das Gesichtsbild des geschriebenen Wortes mögen dabei eine untergeord-
    netere Rolle spielen. Diese psychischen Elemente muss man sich derart mit einander

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    APHASIE.

    verknüpft denken, dass jedes derselben mit jedem anderen direct associirt werden
    kann, dass aber doch der Association mit dem Klangbild des gehörten Wortes
    die Hauptrolle für die Sprachfunction zufällt. Bei den einzelnen Sprachleistungen
    dürfte ein ähnliches Verhältniss zutreffen wie bei allen Leistungen, die auf Asso=
    ciationen beruhen: je nach der Intensität des Vorganges werden nur einzelne oder alle
    Glieder des Associationsnetzes wachgerufen. Endlich bleibt es den individuellen
    Organisation und Einübung überlassen, dem einen oder dem anderen der Asso=
    ciationselemente eine hervorragendere Rolle bei der wirklichen Ausübung der
    Sprachleistungen zuzuweisen.
    Die Sprachleistung ist gewissermassen nur ein Specialfall der allgemeinen
    Hirnrindenleistung, die gleichfalls in Association von verschiedenartigen Wahr=
    nehmungsresten (Erinnerungsbildern) beruht. Wie dort das „Wort“ sich als Asso=
    ciationscomplex darstellt, so hier das „Object“; nur dass die Associationen, die
    das „Wort“ zusammenfassen, eine beschränkte Anzahl haben, während die „Object=
    Associationen“ ihrer Zahl nach unbestimmt sind. Zwischen „Object“ und „Wort“
    besteht eine jener Beziehungen, die wir „symbolische“ nennen. Jedem Objecte
    ist ein Wort als „Symbol“ associirt. Wir erhalten ein vollständigeres Bild der
    Sprachassociationen erst, wenn wir die Association mit dem Object hinzunehmen.
    Es ist nun recht wahrscheinlich, dass die Association zwischen Object
    und Wort sich nicht in beliebiger Weise zwischen irgend welchem Bestandtheil
    des Objectcomplexes und irgend einem anderen des Wortcomplexes vollzieht, sondern
    muss von stets des Objects die optischen, von Seite des Wortes die acoustischen
    Elemente hiezu am nächsten sind. Demnach würde das Schema der Sprachassociationen
    (Fig. 23) folgendermassen aussehen:
     

    Fig. 23.

    [Diagram of Objectassociations and Wortassociation is omitted here for pure textual transcription.]
     

    Die Wortvorstellung entsteht als ein abgeschlossener Vorstellungscomplex, die Objectvorstellung
    dagegen als ein offener. Die Wortvorstellung ist nicht selbst nur durch ihre Bestandtheile, sondern bloss
    durch Klangbild und Wortbewegungsbild, mit den übrigen Elementen direct associirt, während nur
    die Elemente des Objectcomplexes durch ihre Association mit den Wortelementen wieder associirt wer=
    den. Wir studieren, welche das Object in ähnlicher Weise vertreten, wie das Klangbild das Wort ver=
    tritt. Die Association zwischen Wort und Object erfolgt direct zwischen dem Klangbild (oder Sprech=
    punkt ?) , die Verbindungen des Wortklangbildes mit anderen Objectassociationen als den visuellen
    Elementen sind als secundär zu betrachten.

    Aus diesem Schema ergiebt sich sofort eine Eintheilung der Sprachstörungen
    nach einem psychologischen Gesichtspunkte:
    Störungen innerhalb der Wort=
    associationen selbst wird man  verbale  A.,  Störungen  in  der  Association  zwischen
    Wort  und  Object  asymbolische  A.  heissen  dürfen;  und  wenn  es  Sprach=
    störungen  giebt,  die  durch  Störung  innerhalb  der  Objectassociationen  entstehen,  so
    werden  diese  dieselben  die  Bezeichnung  agnostische  A.
     

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    Bisher haben wir die Sprachfunction psychologisch betrachtet, wir wenden
    uns nun zur anatomisch-klinischen Erörterung der Sprachstörungen.
    Sectionsbefunde haben uns gelehrt, dass die Verbalassociationen der Sprache sich
    innerhalb eines bestimmten Gebietes der Hirnrinde vollziehen (Associationsfeld der
    Sprache), welches nur in der linken Hemisphäre ausgebildet ist, ferner und wir
    im Stande, ungefähr die Gegend der Hirnoberfläche anzugeben, deren Läsion eine
    rein asymbolische Sprachstörung verursacht (ein Fall von H E U B N E R). Agnostische
    Sprachstörungen kommen dagegen nur zu Stande, wenn ausgedehnte Läsionen in
    beiden Hemisphären vorhanden sind, wobei das Sprachfeld selbst ganz intact sein
    kann. Im Sprachfeld der linken Hemisphäre, dessen Ausdehnung aus Figur 24
    ersichtlich ist, ist haben nicht alle Stellen gleiche Bedeutung:
    Die Zerstörung des centralen Gebietes (in welches die Inselwindungen
    fallen) wird von der Sprachfunction ziemlich gut vertragen und ruft nur das Bild
    einer unbestimmten A. hervor. Dieses besteht in einer allgemeinen Herabsetzung
    der Associationsleistung, deren Charaktere im Einzelnen noch beschrieben werden.<br>

    Fig. 24.
    [Diagram of the brain hemisphere is omitted here for pure textual transcription.]

    Die schraffirten Stellen entsprechen dem Sprachfeld, die darüber geschwärzten den sogenannten
    Sprachcentren, und zwar ist 1 die Gegend, deren Läsion Agraphie hervorruft (Grenzbezirk gegen
    den vorderen der Hand); 2 die Gegend deren Läsion nur Agraphie hervorruft (Grenzbezirk gegen
    die Centrale der Sprach- und Kehlkopfmusculatur); 3 die Wernicke’sche Stelle, deren Läsion
    Worttaubheit mit Aphasie verursacht; 4 die Stelle der optischen Aphasie, welche sie in ihrer reinen
    Form erzeugt; 5 die Gegend, deren Läsion Alexie macht (Grenzbezirk am optischen Rindencentrum).
    Ein weiterer Theil der Centralwindung liegt tiefer als die Tiefe der hier gezeichneten Linie.

    sollen. Die Zerstörung der Randpartien des Sprachfeldes hingegen ruft A. von
    bestimmtem Charakter. Je nach der Lage der randständigen Läsion findet man
    das motorische, acoustische oder visuelle Element in den Sprachassociationen ge=
    schädigt und kann eine motorische A. (und Agraphie), eine acoustische (sensorische)
    A. und eine visuelle A. (Alexie) diagnosticiren und mit annähernder Sicherheit
    localliseren. Diese Randpartien des Sprachfeldes führen dann auch den Namen
    der „Sprachcentren“, welcher Name zur irrigen Vermuthung führen können,
    dass in ihnen allein die Leistungen der Sprachassociationen vollzogen werden. Vielmehr
    verdanken sie ihre Bedeutung nur dem Umstande, dass sie den Centren anderer
    Functionen direct anstossen, so dass durch ihre Zerstörung dem Sprachfelde
    die Association mit dem einen oder anderen Elemente (dem motorischen, acousti=
    schen, visuellen) gänzlich entzogen ist. Figur 24 zeigt auf den ersten Blick die
    Lage des Sprachfeldes der linken Hemisphäre und die Bedeutung der doppelt
    schraffirten „Sprachcentren“ als Grenzbezirke gegen die anderen motorischen,
    visuellen und acoustischen Centren derselben Hemisphäre. Eine scharfe Abgrenzung
     

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    APHASIE.                                                                                                         173
    ist weder zwischen Sprachcentrum und dem übrigen Sprachfeld, noch zwischen
    Sprachfeld und den übrigen Rindencentren zu erwarten.

    Man wird die Bedeutung dieser Figur noch besser würdigen, wenn man
    sich erinnert, dass das Sprachassociationsfeld nur einseitig, die Felder der Hand,
    der Sprachmuskuln, des Gesichts und Gehörs aber doppelseitig ausgebildet sind,
    und dass die Associationsfasern von den letzteren Rindenfeldern der rechten Hemi-
    sphäre gleichfalls in diese Grenzbezirke einmünden.

    Die diagnostische Aufgabe angesichts eines Falles von A. ist nun eine
    zweifache. Sie geht erstens dahin, aus der Symptomatologie des Falles die Art
    der A. und damit die L o c a l i s a t i o n der Läsion zu bestimmen, zweitens die Bedeutung
    des Symptomes der A. für das Krankheitsbild und den Krankheitsprocess zu er-
    kennen. Für den ersten Theil der Aufgabe mögen folgende Bemerkungen dienen:

    Die Untersuchung eines Falles von A. wird erst fruchtbringend sein,
    wenn die Allgemeinerscheinungen verholten sind; sie wird häufig wiederholt werden
    müssen, weil die Erscheinungen häufig wechseln und eine allmälige Erholung von
    der ursprünglichen Schädigung fast die Regel darstellt. Man wird eine Prüfung
    nicht zu lange fortsetzen dürfen, weil die Ermüdung bei einer geschädigten Func-
    tion ungemein in Betracht kommt und das Maass der Schädigung leicht übertrieben
    darstellt. Man wird ferner nicht erwarten dürfen, von den einzelnen Sprach-
    functionen die einen völlig erhalten – die anderen völlig aufgehoben zu finden.
    Dies trifft nur in den seltensten Fällen zu; in der Regel sind alle einzelnen
    Sprachleistungen geschädigt, nur die eine in viel höherem Grade, als die andere.
    Zur Prüfung der Sprachleistungen darf man nur die l e i c h t e s t e n Proben
    wählen, muss aber andererseits bei der Deutung dieser Proben manchen Irrthümern
    ausweichen. Diese Verhältnisse machen die Prüfung eines Falles von A. zu einer
    recht schwierigen Aufgabe.

    Einzelne der aphasischen Symptome sind augenfällig, andere müssen
    mühsam gesucht werden. Einige der Symptome haben topische Bedeutung für die
    Diagnostik, während andere ohne solche Bedeutung auf die allgemeine Functions-
    schädigung des Apparates zurückzuführen sind.

    Gehen wir von einem Falle von Sprachstörung aus, der noch nicht A.
    zu nennen ist: Ein Kranker zeigt eine incorrecte, schwer verständliche Sprach-
    ausführung; er ist kaum verständlich, weil er die einzelnen Consonanten nicht
    produciren kann und sich in Betreff der Articulation ähnlich verhält wie ein
    Kind in der Periode des Sprechenlernens. Der Grund hiefür sei etwa eine theilweise
    Zerstörung der Kerne des Nervus facialis, hypoglossus und vagus in der Medulla oblon-
    gata oder eine Affection der peripherischen Nerven mit consecutives Atrophie der
    zur Sprachausführung dienenden Muskeln. Doch können wir an diesen Kranken
    b e o b a c h t e n , dass er für jedes Wort eine Intention versucht, welche wenigstens
    etwas Aehnliches liefert, dass er niemals zwei oder mehr Worte durch dieselbe
    Innervation wiedergiebt, dass er so oft zum Sprechen ansetzt, als die beabsichtigte
    Wort Silben enthält u. dergl. m. Dieser Kranke hat das Wort offenbar nicht ver-
    gessen, er ist nur u n f ä h i g , es in correcter Weise zu reproduciren. Wir heissen
    ihn nicht aphasisch, und bezeichnen sein Leiden als A l a l i e oder A n a r t h r i e (s. d.).
    Ein anderer Kranker zeigt sich dagegen durchaus fähig, correct zu articuliren;
    man versteht deutlich, was er sagt, aber man merkt, dass er nicht das passende
    Wort gebraucht hat, was er wahrscheinlich sagen wollte. Er verspricht sich
    häufig, setzt ein unpassendes, dem Sinne oder dem Klange nach ähnliches Wort
    an die Stelle, bemerkt diesen Irrthum und kann ihn corrigiren – oder auch
    nicht. Wir heissen dieses Symptom P a r a p h a s i e ; es hat keine topische dia-
    gnostische Bedeutung, bezeugt aber eine herabgesetzte Leistungsfähigkeit des
    Sprachassociationsapparates und findet sich in geringem Maass auch in Zuständen
    physiologischer Ermüdung, bei getheilter Aufmerksamkeit des Redners, als Symptom
    sogenannter Zerstreutheit. Weitere Beobachtung desselben Kranken wird sein, nun
    ein zweites Symptom entdecken lassen, welches der Zugehört, die A m n e s i e (s. d.),

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    174                                                                                                    APHASIE.

    Wir sehen, dass der Kranke sich oft ein Wort besinnt, dass er es auch auf
    keine Weise zu finden vermag, so sehr er verharrend, dass er es kennt, dass er
    endlich genehmigt ist, es durch ein Wort von allgemeiner Bedeutung oder durch
    eine Umschreibung zu ersetzen, und erinnern uns allert ähnlichster Vorkommnisse
    in unserem täglichen Gespräch, in denen wir uns gleichfalls amnestisch für
    manche Worte zeigen. Die Amnesie betrügt hauptsächlich Eigennamen und Haupt-
    wörter; es kommen Fälle vor, in denen die Kranken jedes Hauptwort um-
    schreiben müssen.

    Wo sich Paraphasie und Amnesie in mehr als physiologischem Masse
    beisammen vorfinden, haben wir das Recht, A. zu diagnosticiren. Durch die Amnesie
    wird das Wortschatz der Kranken in höherem oder geringerem Grade eingeschränkt.
    So lange diese Wortverarmung nicht allzuweit geht, kann man den Fall, der durch
    Paraphasie, Amnesie und Erschwerung aller complicierteren Sprachleistungen
    (z. B. beim Lesen und Schreiben) ausgezeichnet ist, noch als u n b e s t i m m t e A.
    bezeichnen. Wir vermissen in solchen Fällen unvollständige und central gelegene
    Läsionen des Sprachfeldes.

    Geht die Amnesie, die Verarmung des Sprachschatzes weiter, so muss
    natürlich die Paraphasie zurücktreten, und wir erhalten das durch die Beschränkung
    auf wenige Worte gekennzeichncte Bild der motorischen A. bei der wir die
    Läsion in die Broca'sche Stelle verlegen dürfen. Der motorischen Aphasie-Kranke
    vollkommen stumm sein, er kann 2 oder 3 Worte, meist „ja, nein" und andere
    „Sprachreste" zu seiner Verfügung haben. Ist er vollkommen sprachlos, so wird
    es natürlich w i c h t i g , zu bestimmen, ob er das Sprachverständnis besitzt. Dies
    gelingt leicht, wenn man auf psychisches Verhalten und Mimik des Patienten achtet.
    Ein Kranker, der weder Sprachverständnis noch motorische Sprachfähigkeit besitzt,
    wird Aufforderungen, die man an ihn richtet, nicht nachkommen, wird keine Ver-
    änderung seiner Mine zeigen, wenn man beleidigende oder absurde Fragen an
    ihn stellt. Wir heissen einen solchen Kranken T o t a l a p h a s i s c h. Ein der Totalen
    A. entsprechendes Verhalten ergibt sich oft in den ersten Tagen nach einer
    schweren Beschädigung des Sprachapparates; später stellt sich das Sprachver-
    ständniss wieder her und es erübrigt eine m o t o r i s c h e A. Der motorisch Apha-
    sische zeigt sich heilsuchend. Er spricht bemüht, sich verständlich zu machen,
    verwendet oft dasselbe Wort zu verschiedenen Bedeutungen, die er durch geeignete
    Mimik unterscheidet; er kann in der Regel vorgesprochene Worte nicht wieder-
    holen. So oft er dazu ansetzt, bringt er stets einen bestandtheil seines kleinen
    lichen Sprachschatzes hervor; wenn ihm einmal ein anderes Wort nachzusprechen
    gelungen ist, drängt sich ihm dieses Wort dann auch bei unpassendem Anlasse
    über die Lippen. Er kann seine Sprachreste, die oft complicierte Sätze darstellen,
    nicht zerlegen, also auch über sie nicht nach Willen verfügen. Sein Wortver-
    mögen ist also vor allem, die neuere Zunft charakterisirt. Sein Wortver-
    ständniss ist uneingeschränkt, die Beziehung zwischen Wort und Object stellt er
    so l e i c h t her, wie ein Gesunder, er erkennt also jedes ihm vorgesprochene Wort
    als Klangbild und bezieht es richtig auf sein Object. Legen kann der motorisch
    Aphasische in der Regel nicht schreiben in seinen Fällen, wenn diese Function
    nicht durch eine begleitende Lähmung der Hand unmöglich gemacht ist.

    Ist die Diagnose der motorischen A. durch alle diese Umstände erleichtert,
    so gilt für die acustische A. als Regel, dass der Zustand sorgfältig, gesucht und
    nicht mit andern verwechselt werden darf. Die a c u s t i s c h ( s e n s o r i s c h ) A p h a s i e
    zeichnet sich durch den Mangel des Sprachverständnisses aus, sie
    beschränken sich also im Verkehre wie Verworrene, geben keine oder verkehrte
    Antworten, und nur der Widerspruch mit ihrem sonstigen besonnenen und zweck-
    mässigen Betragen wird darauf aufmerksam machen, dass es sich vielleicht um
    eine Störung des Sprachverständnisses bei ihnen handelt. Eigenthümlich ist ihnen
    ferner, dass sie auf Grund des gehörten Illusionen; sie glauben etwas verstanden
    zu haben und richten darnach ihre Antwort ein, welche dann unsinnig erscheinen

  • S.

    APHASIE.                                                                                                       175
    muss. In einer Reihe von Fällen gelingt es, durch eindringliches Wiederholen der
    Frage ein Verständniss zu erzwingen, auch sieht man oft, dass einzelne kurze
    und geläufige Fragen verstanden werden, andere hingegen nicht. Man möchte
    sagen, dass die acustische A. (die man auch als Worttaubheit bezeichnet)
    selten total gefunden wird.

    Man darf bei dem Symptom der acustischen A. die Läsion in die erste
    und zweite linke Temporalwindung (WERNICKE'sche Stelle) verlegen, wenngleich
    Zerstörung dieser Region häufig ohne Worttaubheit ertragen wird. Bei der hohen
    Bedeutung der Klangbilder als Knotenpunkte der Sprachassociation wird es ver-
    ständlich, dass die acustische A. die schwersten Störungen in den übrigen Sprach-
    leistungen hervorruft. Die spontane Sprache ist in einzelnen seltenen, nicht
    genügend aufgeklärten Fällen ungestört gefunden worden. Zumeist aber ist die
    Sprache diesen Kranken wie bei den anderen Aphasischen mit Paraphasie und
    Wortverarmung behaftet. Als Unterschied von der Sprache bei motorischer A. ist
    festzuhalten, dass die Reichlichkeit der Sprachimpulse nicht gelitten hat. Die
    acustisch Aphasischen sprechen also viel, aber nicht correct, ihr Wortschatz ist
    an Hauptwörtern und an Wörtern engerer Bedeutung sehr verarmt, ist reich an
    Partikeln, an Gefühlswörtern, an Wiederholungen. Bei höheren Graden der Affection
    wird zwar noch immer viel gesprochen, aber das Ergebniss der Innovation ist
    ein Kauderwelsch, eine oft endlose Aneinanderreihung von sinnlosen, correct arti-
    culirten Silben. Da die Association von Wort und Object durch die Klangbilder
    vermittelt wird, sind die acustisch A. auch jeder „symbolischen“ Sprachleistung
    unfähig. Sie wissen für ein gezeigtes Object keine Association mit einer der Vor-
    stellungen des „Wortcomplexes" zu finden. Sie kennen den Namen des Objectes
    weder spontan auszusprechen noch ihn niederzuschreiben, noch ihn aus vorgelegten
    Buchstaben zusammenstellen. Das Lesen ist unmöglich, eine etwa noch vor-
    handene optische A. wird durch die acustische, auf die weitergehende Störung
    gedeckt. Indes hat man gerade hier mit den häufigen Vorkommnissen der Dissoziation
    der einzelnen Sprachleistungen in Folge der Läsion zu rechnen, welche sich
    allgemeine Regeln nicht aufgeben lassen, und thut gut, sich für die Diagnose auf
    den Hauptcharacter, den Ausfall oder die Erschwerung des Sprachverständnisses zu
    stützen.

    Die dritte Art der A., die o p t i s c h e , ist ausgezeichnet durch die Störung
    im Verständniss der Buchstaben, im Weiteren durch die Unfähigkeit zu lesen.
    Von diesen beiden Symptomen ist aber nur das erstere, das Nichterkennen der
    Buchstaben, für die Diagnose der optischen A. zu verwerthen. Denn es kommt
    auch bei anderen Arten der A. vor, dass nicht gelesen werden kann, obwohl die
    einzelnen Buchstaben gut erkannt werden, und solches Verhalten hat dann keine
    typische Bedeutung. Die optische A. kann mit Sicherheit nur diagnosticirt werden,
    wenn keine acustische, also keine Störung des Sprachverständnisses vorhanden
    ist. Dieselbe ist gleichfalls mit Paraphasie und Wortverarmung verbunden, indessen
    sind gerade bei dieser Form die Veränderungen im spontanen Sprechen so gering,
    dass sie gesucht werden müssen. Die Kranken verstehen es oft, ihren Sprach-
    mangel durch Umschreibung, vorsichtige Wahl der Worte und zögerndes Sprechen
    zu verbergen. Die optische A. kommt verhältnissmässig häufig als isolirte und
    intensiv ausgebildete Partialstörung vor (vergl. „Alexie“).

    Die Störungen des Schreibens, welche Verrichtung doch im engern An-
    schluss an das Lesen erlernt wurde, zeigen sich bei der A. ziemlich unabhängig
    von den Lesestörungen, gehen aber den Störungen der motorischen A. ziemlich
    parallel. In ganz seltenen Fällen kann man Kranke finden, deren einzige Sprach-
    störung in A g r a p h i e (s. d.) besteht, obwohl keine Lähmung der rechten Hand
    zu finden ist. Noch seltener und vielleicht die Fälle, in denen nur die Schreib-
    fähigkeit erhalten geblieben ist.

    Die topische Diagnostik der A. ist also durch vorstehende Andeutungen
    erledigt. Je auffälliger die Wortverarmung hervortritt, desto mehr ist die Läsion

  • S.

    176                                                                                                    APHASIE.

    an's frontale Ende des Sprachfeldes zu verlegen, je mehr die Störung des Sprach-
    verständnisses sich ausprägt, desto sicherer ist dieselbe im temporalen und bei
    deutlicher Störung im Verständnisse der Buchstaben am parietooccipitalen Ende
    des Sprachfeldes zu suchen. Die topische Diagnose wird häufig noch durch die
    begleitenden Symptome bestärkt. So kann sich neben der motorischen A. rechts-
    seitige Facialsparese oder halbseitige Körperparese finden, die unbestimmte A.
    kann von einer cerebralen Hemianästhesie begleitet sein, die optische A. in reinster
    Form (Alexie) findet sich überwiegend häufig neben einer rechtsseitigen Hemianopsie.
    Bei der acustischen A. ist darauf zu achten, ob nicht partielle Taubheit, halb-
    seitige Einschränkung des Gehörs, Verlust der Wahrnehmung für gewisse Arten
    von Tönen gleichzeitig vorhanden ist.

    Andere Symptome der A. bieten kein diagnostisches Interesse, erscheinen
    aber der Untersuchung werth, weil sie ein Bild von der Selbstständigkeit und
    Abhängigkeit der einzelnen Sprachleistungen, von deren Dissoication und von der
    Möglichkeit vicarirender Leistung geben. Will man sich eine Uebersicht von
    diesen Verhältnissen verschaffen, so prüfe man jede der motorischen Sprachleistungen,
    inwiefern sie spontan und auf sensiblen Anreiz erfolgen kann. Man hat
    dann etwa folgendes Schema:

    I. Sprechen                                                          II. Schreiben

    1. spontan,                                                          1. spontan,
    2. a) nach dem Gehörten (Nachsprechen),   2. a) nach dem Gehörten (Dictat-
      b) nach dem Gesehenen (Vorlesen).                     schreiben),
                                                                     b) nach dem Gesehenen (Abschreiben).
     

    Es gilt dann die Regel, dass man zwar häufig eine Erhaltung der
    motorischen Sprachleistung auf sensiblen Anreiz (2 a und 2 b) findet bei Verlust
    der spontanen (1), aber niemals das Umgekehrte.

    Bei den sensorischen Sprachleistungen, die ja immer auf sensiblen Anreiz
    erfolgt, hat man die Verbalassociation und die Symbolassociation besonders zu prüfen.

    III. Lesen                                                                   IV. Hören

    Verbalass. 1. Lautlesen.                                                          1. Nachsprechen,
                       2. Abschreiben.                                                          2. Nachschreiben,
    Symbolass. 3. Verstehen des Gelesenen.                                     3. Verstehen des Gehörten,
                                                                                    4. Verstehen des Nachgesprochenen,
                                                                                    5. Verstehen des Nachgeschriebenen.

    Es kommen hier Fälle vor, dass die Verbalassociation noch möglich ist,
    die Symbolassociation aber nicht mehr. Wie man sieht, können die meisten Sprach-
    leistungen als Associationen durch mannigfachen Sitz der Läsion gestört werden.

    Die k l i n i s c h e  B e d e u t u n g des Symptomes der A. lässt sich mit wenigen
    Worten bestimmen. A. ist, gleichgültig, welche Form – ist ein Ausfallssymptom
    von der Rinde der linken Hemisphäre. Dieser Satz bedarf nur weniger Ein-
    schränkungen. Man darf behaupten, dass es keine A. in Folge subcorticaler
    Läsionen gibt. Es kann aber eine solche Läsion der Rinde so nahe gelegen sein,
    dass sie die gewebliche Integrität und Function derselben schädigt. Dann entsteht
    A. als Symptom der Verwirkung, die übrigens von derselben Art sein muss, wie
    eine direct entstandene. Nur für die subcorticale Läsion unterhalb der Broca’schen
    stelle muss eine Ausnahme zugestanden werden. Erkrankung dieser Region erzeugt
    dysarthrische Störungen, und wenn einem Falle von motorischer A. Symptome von
    Dysarthrie beigefügt sind, so darf man schliessen, dass die Erkrankung von der
    Rinde aus in die Tiefe der Marksubstanz geht. Eine zweite Einschränkung betrifft
    die Seite der Läsion, in der weitaus überwiegenden Mehrheit darf man A. auf
    Erkrankung der linken Hemisphäre beziehen. Doch muss man bei Linkshändern
    daran gefasst sein, dieselbe mit Symptomen von der rechten Hemisphäre beisammen
    zu sehen. Es wäre also richtiger zu sagen: A. ist ein Ausfallssymptom von der
    Rinde und angrenzenden Markschicht der vorwiegenden Hemisphäre.

  • S.

    APHASIE. APHONIE.                                                                                                 177

    Als solchem kommt ihr genau die nämliche klinische Bedeutung zu, wie
    den sonstigen motorischen und sensorischen Lähmungen durch Erkrankung der
    Rinde, den brachialen und cruralen Monoplegien, der Hemianopsie u. s. w., nur
    dass die A. mit grösserer Sicherheit als Rindensymptom anzusprechen ist, und
    demnach bei einem sonst topisch mehrdeutigen Lähmungscomplex für die Mit-
    betheiligung der Rinde entscheidet.

    Für die Diagnose des Krankheitsprocesses kommt der A. eine besondere
    Bedeutung nicht zu. Bei dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntnisse lässt sich
    aus der klinischen Ausprägung einer A. allein nicht erkennen, ob dieselbe von
    einer vasculösen Störung, einer Embolie, Hämorrhagie, Thrombose, von einem
    Tumor, einem scit entzündlichen Processe u. dergl. abzuleiten ist. A. bleibt das
    Localsymptom des Sprachfeldes der vorwiegenden Hemisphäre, und man darf bei
    der klinischen Erzeugung eines Falles davon ausgehen, dass die vorliegende Läsion
    eine motorische oder sensorische Lähmung erzeugt hätte, wie sie nur an anderer
    Stelle erfolgt wäre. Für alles Weitere ist daher auf die diagnostische Würdigung
    der Lähmung (s. d.) zu verweisen.

    Da das Sprachfeld fast vollständig in das Gebiet fällt, welches von der
    Arteria fossae Sylvii versorgt wird, erklärt sich die Häufigkeit der A. bei solchen
    Erkrankungen, welche diese Arterie bevorzugen, wie die Embolie und die luetische
    Arteritis. Verschluss einzelner Aeste dieser Arterien ergibt die besten Bilder von
    partiell aphasischen Störungen.

    Es sei ausdrücklich bemerkt, dass eine Reihe von Sprachstörungen (s. d.),
    welche nicht auf erworbener Erkrankung des Sprachfeldes in der Hirnrinde
    beruhen, hier nicht abgehandelt sind.                                                                              Freud.