Beispiele des Verrats pathogener Phantasien bei Neurotikern 1910-007/1928
  • S.

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    KURZE MITTEILUNGEN

    I.

    BEISPIELE DES VERRATS PATHOGENER
    PHANTASIEN BEI
    NEUROTIKERN

    Erschien 1910 im „Zentralblatt für Psycho-
    analyse“, 
    I. Jahrgang, Heft I.

    A) Ich sah kürzlich einen etwa zwanzigjährigen Kranken, der ein un-
    verkennbares, auch von anderer Seite agnosziertes Bild einer Dementia praecox
    (Hebephrenie) bot. In den Anfangsstadien des Leidens hatte er periodischen
    Stimmungswechsel gezeigt, eine erhebliche Besserung erreicht und wurde
    in einem solchen günstigen Zustand von den Eltern aus der Anstalt geholt
    und durch etwa eine Woche zur Feier seiner vermeintlichen Herstellung
    mit allerlei Vergnügungen regaliert. An diese Festwoche schloß sich die
    Verschlimmerung unmittelbar an. In die Anstalt zurückgebracht, erzählte
    er, der konsultierende Arzt habe ihm den Rat gegeben, „mit seiner Mutter
    etwas zu kokettieren“. Es ist nicht zweifelhaft, daß er in dieser wahnhaften
    Erinnerungstäuschung der Erregung Ausdruck gegeben, welche durch das
    Beisammensein mit der Mutter in ihm hervorgerufen wurde, und die der
    nächste Anlaß seiner Verschlimmerung war.

    B) Vor länger als zehn Jahren, zu einer Zeit, da die Ergebnisse und
    Voraussetzungen der Psychoanalyse nur wenigen Personen vertraut waren,
    wurde mir von verläßlicher Seite folgender Vorfall berichtet. Ein junges
    Mädchen, Tochter eines Arztes, war an Hysterie mit lokalen Symptomen
    erkrankt; der Vater verleugnete die Hysterie und ließ verschiedene somatische
    Behandlungen einleiten, die wenig Nutzen brachten. Eine Freundin stellte 

  • S.

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    einmal an die Kranke die Frage: Haben Sie denn noch nie daran gedacht,
    den Dr. F. zu Rate zu ziehen? Darauf antwortete die Kranke: Wozu sollte
    ich das tun? Ich weiß ja, er würde mich fragen: Haben Sie schon die Idee
    gehabt, mit Ihrem Vater geschlechtlich zu verkehren? – Ich halte es für
    überflüssig, ausdrücklich zu versichern, daß ich eine solche Fragestellung weder
    damals geübt habe noch heute übe. Man wird aber aufmerksam darauf,
    daß gerade vieles, was die Patienten als Äußerungen oder Handlungen der
    Ärzte erzählen, als Verrat ihrer eigenen pathogenen Phantasien verstanden
    werden darf.