S.
Beitrag zur Kenntniss der Cocawirkung.
Von Dr. SIGM. FREUD,
Sekundararzt im k. k. Allgemeinen Krankenhause in Wien.
Im Julihefte des von Dr. H e i t l e r herausgegebenen Centralblattes für
Therapie habe ich eine Studie über die Cocapflanze und deren Alkaloid Cocaïn
veröffentlicht1, welche auf Grund einer Prüfung der in der Literatur
enthaltenen Berichte und eigener Erfahrungen dieses lang vernachlässigte
Mittel der Aufmerksamkeit der Aerzte empfahl. Ich darf sagen, dass der Erfolg
dieser Anregung ein unerwartet rascher und vollkommener war. Während
Herr Dr. L. K ö n i g s t e i n auf mein Ersuchen es unternahm, die
schmerzstillende und sekretioneinschränkende Wirksamkeit des Cocaïns in
krankhaften Zuständen des Auges zu prüfen, hat mein Kollege in diesem
Krankenhause, Herr Dr. Karl K o l l e r , unabhängig von meiner persönlichen
Anregung, den glücklichen Gedanken gefasst, durch das Cocaïn, dessen
abstumpfender Einfluss auf die Sensibilität der Schleimhäute seit Langem
bekannt ist,2 eine vollständige Anästhesie und Analgesie der Cornea und
Conjunctiva zu erzeugen, und hat fernerhin den hohen praktischen Werth
dieser lokalen Anästhesie durch Thierversuche und Operationen am Menschen
erwiesen. In Folge der darauf bezüglichen Mittheilung K o l l e r ’s an
den diesjährigen Kongress der Augenärzte zu Heidelberg ist das Cocaïn als
lokales Anästhetikum zur allgemeinen Aufnahme gelangt.In Fortsetzung meiner Studien über das Cocaïn habe ich nun versucht, die
wunderbare Allgemeinwirkung dieses Alkaloids, welche in einer Hebung der
Stimmung, der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit und Ausdauer
besteht, durch objektive Zeichen auszudrücken und gleichzeitig messend zu
verfolgen. Zu diesem Unternehmen drängte mich auch die Erfahrung, dass
die subjektiven Symptome der Cocawirkung bei verschiedenen Personen so
sehr verschieden ausfallen. Während manche eine Euphorie angeben, welche
noch viel glänzender ist, als die ich an mir beschrieben habe, fühlen sich Andere
nach Cocaïn unbehaglich, verworren, entschieden toxisch beeinflusst.
Zu diesen Letzteren scheint auch der ältere S c h r o f f gehört zu haben,
welcher als der Erste (1862) die Wirkung des Cocaïns prüfen konnte, und
diese zufällige, persönliche Disposition ist mitschuldig an der langjährigen
Zurücksetzung gewesen, welche das Alkaloid betroffen hat. Von einer objektiven
Prüfungsmethode erwartete ich denn auch, dass sie mir eine grössere
Gleichförmigkeit der Cocawirkung verrathen werde.Als Mittel, die Cocawirkung durch die Veränderung messbarer
Grössen – vielleicht nach verschiedenen Richtungen – zu kennzeichnen,
wählte ich die Prüfung der motorischen Kraft einer bestimmten Muskelgruppe
und die Prüfung der psychischen Reaktionszeit. Die erstere Prüfung wird mittelst
eines Dynamometers angestellt, einer federnden Metallspange, deren Zusammendrückung
einen Zeiger längs einer Gradtheilung verschiebt, so dass
derselbe nach Aufhören des Druckes stehen bleibt. Es standen mir zwei solche
Instrumente zur Verfügung, ein schwereres, welches auffälligere Resultate gab,
weil man daran mit beiden Händen drücken konnte, aber den Nachtheil eines
grossen Kraftaufwandes und rascher Ermüdung hatte, und ein leichteres
Dynamometer nach der Konstruktion des Dr. V. B u r q für den Druck einer
Hand. Ich habe bald Zutrauen zu den Angaben der Dynamometer gewonnen,
weil ich gefunden habe, dass die Druckwirkungen, besonders die Maxima derselben,
von der Willkür des Drückenden in hohem Grade unabhängig sind,
und die Art der Applikation des Druckes nur wenig und belanglose Abänderungen
zulässt. Die Prüfung der psychischen Reaktionszeit geschah mit dem
E x n e r ’schen Neuramöbimeter, welches im Wesentlichen aus einer Metallfeder
besteht, die auf 100 Schwingungen in der Sekunde abgestimmt ist, und
deren Vibration der Untersuchte unterbricht, sobald er den beim Freiwerden
der eingespannten Feder entstandenen Ton vernimmt. Die Zeit, welche
von dem Hören des Tones bis zur ausgeführten Abhebung der Feder verläuft,
ist die Reaktionszeit und durch die Anzahl der von der Feder geschriebenen
Schwingungen in Hundertstel von Sekunden direkt gegeben. In Betreff der
näheren Einrichtung des kleinen Apparates und der bei solchen Versuchen
erforderlichen Vorsichten verweise ich auf E x n e r ’s „Experimentelle Untersuchung
der einfachsten psychischen Prozesse“3. Herr Dr. H e r z i g hatte
die Freundlichkeit, diese etwas mühsamen Versuche mit mir vorzunehmen.Diese beiden Reihen von Pruefungen habe ich nun zu wiederholten Malen
an mir selbst durchgeführt, respektive durchführen lassen. Ich weiss, dass
solche Selbstversuche das Missliche haben, für die Person, die sie anstellt, in
derselben Sache zweierlei Glaubwürdigkeit zu beanspruchen, aber ich musste
es aus äusseren Gründen thun, und weil keines der mir zur Verfügung stehenden
Individuen eine so gleichmässige Reaktion gegen Cocaïn aufwies.
Die Ergebnisse der Untersuchung wurden indess auch durch meine Prüfung
anderer Personen, meist Kollegen, bestätigt.Das Ergebniss der Dynamometerprüfung war, dass 0.05-0.10 Gr. C o -
c a ï n . m u r . d i e m o t o r i s c h e K r a f t d e r A r m e
m e r k l i c h e r h ö h t , und zwar tritt das Maximum der Wirkung bei
mir in etwa 10–15 Minuten zugleich mit der Cocaeuphorie ein und bleibt in
etwas geringerem Maasse1 „Ueber Coca“, Centralbl. f. d. ges. Therapie. II. Jahrgang, VII, Juli (nicht, wie vielfach
fälschlich zitirt wurde: August) 1884.2 Die siebente der von mir für den Gebrauch des Cocaïns aufgestellten Indikationen
behandelt die örtliche Anwendung und schliesst mit den Worten: „Anwendungen,
die auf der anästhesirenden Eigenschaft des Cocaïns beruhen, dürften sich wohl
noch mehrere ergeben.“3 P f l ü g e r ’s Archiv, VII, Anhang zur genannten Abhandlung.
S.
mehrere Stunden bestehen. Ich theile einige Versuche ausführlicher mit:
I. Versuch vom 9. November 1884. Dynamometer für beide Hände; die
Drucke in Pfunden angegeben. Um den Einfluss der Ermüdung zu studiren,
wurde bei jedem Versuche drei Mal rasch hintereinander gedrückt.Zeiten Drucke Maxima Mittel Anmerkung
8 Uhr Früh 66–65–60 66 63,6 nüchtern
10 „ „ 67–55–50 67 57,3 nach Frühvisite
10 „ 22 M. 67–63–56 67 62 nach Frühstück
10 „ 30 „ 65–58–67 67 63,6 –
10 „ 33 „ 0,10 Cocaïnum muriaticum –
10 „ 45 „ 82–75–69 82 75,3 darauf erstes Aufstossen
10 „ 55 „ 76–69–64 76 69,6 ermüdet
11 „ 20 „ 78–71–77 78 75,3 Euphorie
12 „ 30 „ 72–66–74 74 70,6 vor Mittagessen
12 „ 55 „ 77–73–67 77 72,6 –
1 „ 35 „ 75–66–74 75 71,6 nach Mittagessen
1 „ 50 „ 76–71–61 76 69,3 –
3 „ 35 „ 65–58–62 65 61,6 Euphorie vorüberWie man sieht, hatte Cocaïn eine sehr erhebliche Steigerung der motorischen
Kraft, mag man dieselbe nach den Mittel- oder nach den Maximalzahlen
obiger Tabelle beurtheilen, hervorgerufen, welche etwa fünf Stunden
lang anhielt. Mein Allgemeinbefinden war an dem Tage des Versuches ein
schlechtes und meine motorische Kraft eine geringe.
Ein anderer Versuch mag die Cocawirkung bei höheren Anfangszahlen für
die motorische Kraft zeigen.II. Versuch vom 10. November 1884. Dasselbe Dynamometer.
Zeiten Drucke Maxima Mittel Anmerkung
8 Uhr Früh 60 60 60 müde
10 „ „ 73–63–67 73 67,6 nach Visite
– darauf eine geringe, nicht bestimmte Menge Cocaïn
10 Uhr 20 M. 76–70–76 76 74 heiter
10 „ 30 „ 73–70–68 73 70,3 –
11 „ 35 „ 72–72–74 74 72,6 –
12 „ 50 „ 74–73–63 74 70 –
2 „ 20 „ 70–68–69 70 69 –
4 „ – „ 76–74–75 76 75 normales Befinden
6 „ – „ 67–64–58 67 63 nach angestrengter
Arbeit
8 „ 30 „ 74–64–67 74 68,3 etwas müde
– darauf 0,1 Cocaïn. mur.
8 „ 43 „ 80–73–74 80 75,6 Aufstossen
8 „ 58 „ 79–76–71 79 75,3 –
9 „ 18 „ 77–72–67 77 72 Gefühl von Leichtigkeit
Als ich solche Versuche durch mehrere Wochen fortsetzte, mussten mir
zwei Thatsachen auffallen: erstens, d a s s d i e Z a h l e n f ü r d i e
m o t o r i s c h e K r a f t e i n e r M u s k e l -
g r u p p e w ä h r e n d e i n e s Ta g e s e i n e g e s e t z m ä s s i g e
S c h w a n k u n g e r k e n n e n l a s s e n , z w e i t e n s , d a s s
d i e s e l b e n a n v e r s c h i e d e n e n T a g e n r e c h t v e r -
s c h i e d e n e a b s o l u t e We r t h e e r r e i c h e n . Es sind das
Dinge, die mit der Cocawirkung selbst nicht viel zu thun haben, aber vielleicht
interessant genug sind, einige Bemerkungen zu verdienen.Von dem Ablaufe der täglichen Schwankung der motorischen Kraft bei
mir möge folgende Tabelle zeugen.Versuche vom 27. und 28. November 1884. Drucke in Kilogrammen;
Dynamometer von B u r q ; die Zahlen entsprechen Maxima bei dreimaligem
Drucke mit der rechten Hand.27. November 28. November
Zeiten Maxima Anmerkung Zeiten Maxima Anmerkung
7 Uhr 20 M. 32 beim Aufstehen 7 Uhr 20 M. 32 beim Aufstehen
9 „ 30 „ 35 nach Visite, nüchtern
7 „ 50 „ 34–5 nüchtern
12 „ – „ 37+ nach mehrstündiger
Arbeit
10 „ – 37– nach Visite
2 „ 45 „ 37– nach Kaffee, sonst
nüchtern
10 „ 30 „ 36–7 nach Frühstück
4 „ – „ 38 nach einer Vorlesung
1 „ 40 „ 36 nach Arbeit
5 „ 45 „ 37+ nach dreistündiger
Arbeit
2 „ 40 „ 36 vor Vorlesung
6 „ 45 „ 38– – 4 „ – 36 nach Vorlesung
7 „ 15 „ 35+ ermüdet 5 „ 30 „ 36 nach Visite
8 „ – „ 36.5 in Ruhe 8 „ 30 „ 37 nach Kaffee
9 „ 15 „ 34 nach Nachtmahl 10 „ 30 „ 35+ nach NachtmahlAus diesen wie aus allen anderen Beobachtungen geht hervor, dass die motorische
Kraft des Morgens am geringsten ist – es findet gleichsam ein un-
vollständiges Erwachen derselben statt – dass sie dann rasch zunimmt, um
noch am Vormittage eine Höhe zu erreichen, auf welcher sie tagsüber bleibt,
und dass sie am Abende langsam, aber stetig absinkt, doch nicht bis zum
Minimum am Morgen. Angestrengte Arbeit, so lange sie nicht zur schweren
Ermüdung führte, schien mir die motorische Leistungsfähigkeit eher
zu steigern. Einen Einfluss der Mahlzeiten oder des Wegbleibens derselben
konnte ich nicht erkennen. Es liegt natürlich nahe, die Tagesschwankung
der motorischen Kraft mit der Tageskurve der Temperatur zusammenzustellen.Nachdem ich diese Beobachtungen vollendet hatte, wurde ich auf eine
vorläufige Mittheilung von Dr. Max B u c h 4 aufmerksam, welche von den
Tagesschwankungen der motorischen Kraft handelt. B u c h ’s Angaben
weichen von den meinigen nur darin ab, dass er nach einem Maximum am
Nachmittage ein Absinken bis zu einem zweiten, niedrigeren Maximum am
Abende findet, an welches sich dann erst der nächtliche Abfall schliesst. Ob
die Verschiedenheit unserer Lebensweise oder der Umstand, dass B u c h
mit einem auf kleinere Einheiten (¼ Kg.) graduirten Instrumente untersuchte,
die geringe Differenz unserer Ergebnisse verschuldet hat, darf ich
dahingestellt sein lassen. B u c h erwähnt auch einer Inauguraldissertation
von P o w a r n i n 5 , in der die wesentliche Thatsache, das Minimum der
Kraft am Morgen, schon hervorgehoben ist.Als zweite bemerkenswerthe Thatsache habe ich angeführt, dass die motorische
Kraft an verschiedenen Tagen verschiedene Werthe erreicht, so dass
ihre Tagesschwankung über einem höheren oder niedrigeren Niveau abläuft.
So habe ich manche Tage verzeichnet, an denen ich mit einem Minimum von
28 Kg. begann und kein höheres Maximum als 35 Kg. erzielen konnte. Die
höchste Differenz zwischen4 Ueber die Tagesschwankungen der Muskelkraft des Menschen. Berliner klin.
Wochenschr. Nr. 28, 1884.
5 Ueber den Einfluss des Schlafes auf die Muskelkraft des Menschen. Petersburg
1883.S.
dem täglichen Maximum und Minimum
betrug bei mir 6 Kg., die höchste Differenz entsprechender Zahlen an verschiedenen
Tagen dagegen nur 4 Kg.Es ist mir ganz unzweifelhaft geworden, dass die zuletzt erwähnte, von
der Tageszeit unabhängige Variation der motorischen Kraft ein Ausdruck
des Allgemeinbefindens ist, dessen subjektive Erscheinung als Gemeingefühl
und Stimmung ja ein auf die motorische Leistungsfähigkeit bezügliches
Element enthält. Die Cocawirkung selbst möchte ich nicht als eine direkte
Beeinflussung – etwa der motorischen Nervensubstanz oder der Muskeln –
sondern als eine indirekte, durch die Herstellung eines besseren Allgemeinbefindens
bewirkte ansehen. Für diese Auffassung sprechen zwei Momente:
erstens dass die auffälligste Steigerung der motorischen Kraft so rasch nach
der Cocaeinnahme eintritt, zu einer Zeit, wo zwar die Cocaeuphorie entwickelt
ist, aber kaum alles Cocaïn in den Kreislauf aufgenommen sein kann;
zweitens, dass die Steigerung der motorischen Kraft weit beträchtlicher ist,
wenn Cocaïn bei schlechtem Befinden und herabgesetzter motorischer Kraft
einwirkt. Die dann unter Cocaïn erreichten Zahlen übersteigen noch immer
das Maximum im normalen Zustande.Wenn man den Werth der am Lebenden bestimmbaren Körperkonstanten
zur Charakterisirung des Zustandes eines Individuums in Betracht zieht, so
wird der Vorrang natürlich jenen Grössen gebühren, welche wie die Temperatur
keine erheblichen individuellen Variationen zeigen. Für die Charakterisirung
verschiedener Zustände eines bestimmten einzelnen Menschen wird die
motorische Kraft einer ausgezeichneten Muskelgruppe nicht zu verwerfen sein.Die Versuche über die Einwirkung des Cocaïns auf die Reaktionszeit haben
ein ähnliches, im Ganzen minder deutliches Ergebniss geliefert. Ich beobachtete
mehrmals, dass meine Reaktionszeiten im Cocaïnzustande kürzer
und gleichförmiger waren, als vor Cocaeinnahme, hatte aber andere Male
ebenso günstige Verhältnisse der psychischen Reaktion, wenn ich mich in
heiterer und leistungsfähiger Stimmung befand. Die Veränderung der Reaktionszeit
gehört also der durch Coca erzeugten Euphorie an, welcher ich auch
die Steigerung der Muskelkraft zugeschrieben habe.I. Versuch vom 26. November 1884:
Zeiten Reaktionszeiten Maxima Minima Mittel Anmerkung
7 U. 10 M.
Abends
15½–21½–19–
21
18½–24–24
24 15½ aus 7 Versuchen
20.5
motor. Kraft, 36–,
müde
um 7 Uhr 30 Min. Cocaïn. mur. 0.10 Gr.
7 U. 38 M. 17–21½–16–21
17–16
21½ 16 aus 6 Versuchen
18
motorische Kraft 39+
8 „ 5 „ 17–17–18–17 18 17 aus 4 Versuchen
17.2
noch etwas Cocaïn
8 „ 15 „ 13½–11–16–15
16–12
16 11 aus 6 Versuchen
13.9
Euphorie
10 „ 30 „ 15½–14½–15
13½–17½
17½ 14½ aus 5 Versuchen
15.2
anhaltend. Wohlbefinden,
motor. Kraft
37.5II. Versuch vom 4. Dezember 1884 in bestem Wohlbefinden ohne Cocaïn:
Zeiten Reaktionszeiten Maxima Minima Mittel Anmerkung
8 U. 15 M.
Abends
13½–13–14½
13½
14½ 13 aus 4 Versuchen
13.6
motor. Kraft 38–39
Kilo
8 U. 30 M. 15–14–14–19
15½–15½
19 14 aus 6 Versuchen
15.5
bei der 4. Reaktion
ein störendes Geräusch
8 „ 45 „ 11½–13½–14½
12½–16½
16½ 12½ aus 5 Versuchen
13.7
–
9 „ – „ 12½–13–13
15½–14–18½
18½ 12½ aus 6 Versuchen
14.2
motor. Kraft 38
129
–133