S.
Beiträge über die Anwendung des Cocaïn.
Zweite Serie.
I.
Bemerkungen über Cocaïnsucht und Cocaïnfurcht
mit Beziehung auf einen Vortrag W. A. Hammond's.
Von Dr. SIGM. FREUD, Dozent für Nervenkrankheiten in Wien.
Die glänzende Anwendung, welche Karl Koller von
der anästhesirenden Eigenschaft des Cocaïn zum Heile der
Kranken und zur Förderung der ärztlichen Kunst zu machen
verstand, hat fir eine Weile in Vergessenheit gebracht, dass
für das neue Medikament auch eine beachtenswerthe Stellung
in der Therapie interner und nervöser Erkrankungen in An-
spruch genommen war. Doch hat später von diesen Anwen-
dungen des Cocaïn, die ich auf meine im Juli 1884 im ,Cen-
tralblatt für Therapie" veröffentlichte Arbeit ,über Coca"
zurüekführen darf, eine die allgemeine Aufmerksamkeit der
Aerzte gewonnen. Ich meine die Branchbarkeit des Cocaïn
zur Bekämpfung des Morphinhungers und der beängstigen-
den Kollapserscheinungen, welche bei Morphinisten während
der Entziehungskur auftreten. Ich hatte auf diese Eigenschaft
des Cocain nach amerikanischen Berichten (in der Detroit
Therapeutic Gazette") aufmerksam gemacht und gleichzeitig
über den überrasehend günstigen Verlauf der ersten auf dem
Kontinente unter Cocain vorgenommenen Morphinentziehung
berichtet. (Es ist vielleicht nicht überHüssig, zn bemerken,
dass es sich hiebei nicht um eine Erfahrung am eigenen
Leibe, sondern um einen Rath handelte, den ich einem An-
deren ertheilte.)
Prof. H. Obersteiner nahm dieselhe Beobachtung zum
Anlasse, um die Wirksamkeit des Cocaïn bei der Morphin-
entziehung auf dem Kongresse zu Kopenhagen den dort ver-
sammelten Aerzten mitzutheilen. Er machte aber wenig Ein-
druck; erst die Zirkuläre der chemischen Fabrik E. Merck
in Darmstadt und ein überschwänglich gehaltener Aufsatz
von Wallé in der ,Deutschen Medizinalzeitung" (Nr. 3,
1885) brachte die neue Verwerthung des Cocaïn zur allge-
meinen Kenntniss der Aerzte- und leider auch der Mor-
phinisten,
Es erfolgte nun ein sehr energischer Widerspruch von
Seiten Erlenmeyer's (in dessen Centralblatt 1885), welcher
Autor auf Grund einer durch grosse Zahlen imponirenden
Versuchsreihe dem Cocaïn jede Brauchbarkeit bei der Morphin-
entziehungskur absprach und dasselbe wegen seiner Wirkung
auf die Gefässinnervation als ein gefährliches Mittel hinstellte.
Aber die Ergebnisse Erlenmeyer's beruhten trotzdem auf
einem groben Versuchsfehler, der sofort von Obersteiner,
Smidtund Rank u. A. aufgedeckt wurde. Erlenmeyer hatte,
anstatt nach meinem Vorschlage wirksame Dosen (mehrere
Decigramm) per OS zu verabreichen, minimale Mengen in sub-
kutaner Injektion gegeben, und so von einer für die Dauer
unwirksamen Gabe einen flüchtigen toxischen Effekt bekom-
men. Die Autoren, die ihn widerlegten, hatten ihrerseits eine
volle Bestätigung meiner ursprünglichen Angaben zu bringen.
Der Werth des Cocaïn für die Morphinisten ging aber
auf andere Weise verloren. Die Kranken selbst begannen sich
des Mittels zu bemächtigen und es demselben Missbrauche zu
unterwerfen, den sie mit Morphin zu treiben gewohnt waren;
das Cocaïn sollte ihnen ein Ersatz für das Morphin werden
und muss sich wohl als ein ungenügender Ersatz erwiesen
haben, da die meisten Morphinisten rasch zur enormen Dosis
von 1 Grm. pro die in subkutaner njektion gelangten. Es
stellte sich nun heraus, dass das Cocaïn bei solcher Verwen-
dung ein viel gefährlicherer Feind der Gesundheit ist, als
das Morphin. Anstatt eines langsamen Marasmus ein rapider
physischer und moralischer Verfall, halluzinatorische Auf
regungszustände wie beim Alkoholdelirium, ein chronischer
Verfolgungswahn, der nach unseren Erfahrungen durch die
Halluzination von kleinen Thierehen in der Haut eine charak-
teristische Färbung erhält, und der Cocaïnhunger an Stelledes Morphinhungers dies waren die traurigen Ergebnisse
des Versuches, den Teufel durch Beelzebub auszutreiben.
Viele Morphinisten, die sich bis dahin in der Gesellschaft
behauptet hatten, erlagen nnn dem Cocaïn. Erlenmeyer,
welcher durch seine ersten Veröffentliehungen über die , Cocain-
sucht" seine Agitation gegen das neue Alkaloid erfolgreicher
als zu Anfang fortführen konnte, sprach von einer ,dritten
Geissel des Menschengeschlechtes, die schrecklicher sei, als
die beiden ersten (Alkohol und Morphin).
Da ungefähr gleichzeitig die ersten Nachrichten über
die toxischen Effekte der Cocaïneinnahme von Seiten der
Augen- und Kehlkopfärzte kamen, gerieth das Cocain nun in
den Ruf eines höchst geführlichen Mittels, dessen längere
Anwendung überhaupt eine , Sucht", einen , dem Morphinismus
ähnlichen Zustand hervorruft. Ich finde eben in der letzten
Publikation iüber das Cocain (von 0. Chiari, diese Wochen-
schrift Nr. 8) eine solche Warnung.
Ieh glaube, das ist viel zu weit gegangen. Ich kann
eine naheliegende Bemerkung nicht unterdrücken, welche ge-
eignet ist, die sogenannte dritte Geissel des Menschen
geschlechtes, wie Erlenmeyer das Cocan sehr pathetisch
heisst, ihres Sebreckens wieder zu entkleiden. Alle Berichte
über Cocaïnsucht und Coeanverfall beziehen sich
nämlich auf Morphinisten, Personen, die bereits dem
einen Dämon verfallen waren, und deren geschwächte Willens-
kraft und Reizbedürftigkeit jedes ihnen dargebotene Stimu-
lans missbrauchen würde und thatsächlich missbraucht hat.
Das Cocaïn hat bei uns keine anderen, keine eigenen
Opfer gefordert. Ich habe mannigfache Erfahrungen über
länger fortgesetzten Cocangebrauch bei Personen, die nicht
Morphinisten waren, und habe auch selbst das Medikament
durch Monate genommen, ohne etwas von einem besonderen,
dem Morphinismus ähnlichen Zustande oder von einem Ver-
langen nach weiterem Cocaïngebranche zu verspiären oder zu
erfahren. Im Gegentheile, es trat häufiger, als mir lieb sein
konnte eine Abneigung gegen das Medikament ein, die zur
Einstellung der Anwendung desselben Anlass gab. Meine Er
fahrangen über die Branehbarkeit des Cocain bei gewissen
nervösen Zuständen nd über das Ausbleiben einer Cocan-
sucht decken sich so vollkommen mit den Mittheilungen,
welche eine bekannte ausländische Autorität, W. Hamn-
mond, diesbeziiglich vor Kurzem gemacht hat, dass ich es vor
ziehe, die Aeusserungen Hammond's zu übersetzen, anstatt
meine in der Arbeit ,über Coca" (, Centralblatt für Therapie"
1884) und in dem späteren Aufsatze (Beitrag zur Kenntniss
der Cocawirkung, ,Wr. Med. Wochenschrift Nr. 5, 1885)
gemachten Angaben zu wiederholen. Ich will nur vorher einige
Bemerkungen über die akuten Cocainintoxikationen, welche
von Augen- und Kehlkopfärzten beobachtet wurden, anfügen.
Dieselben sind zum Theile gewiss ur Kollapszustände,
wie sie nach jeder Operation, besonders an empfindlichen
Körpertheilen, auftreten, und können kaum dem oft in mini-
maler Menge verbrauchten Alkaloide zugeschrieben werden.
Eine andere Reihe dieser Beobachtungen kennzeichnet sich
aber unzweifelhaft als Cocaïnintoxikation wegen der Aehn
lichkeit der dabei auftretenden Symptome mit denen, welche
experimentell durch Einführung_einer übergrossen Cocaindose
in den KÖrper erzengt werden könen, als: rauschartige Be
täubung, Sehwindel, Steigerung der Pulstrequenz, Veränderung
der Athmung, Appetitlosigkeit und Schlafaufhebung, in noch
weiterer Folge Delirien und Muskelsch wäche. Solehe unzwei-
felhaft dureh das Cocaïn hervorgerufene Zustände haben sich
einige Male nach Resorption des Mittels von den Schleim-
häuten des Kopfes, andere Male, und zwar hänfger nach
subkutaner Injektion ergeben. Sie sind im Verhältnisse zur
Häufigkeit der Cocaïnverwendung in den letzten zwei Jahren
als seltene Ereignisse za bezeichnen, haben in keinem Falle
zur Lebensgefahr geführt und daher bei den meisten Aerzten
mit Recht den Eindruck hinterlassen, dass die möglichen
toxischen Effekte des Cocaïn nicht von der Anwendung des
Mittels zur Erreichung ernsthafter operativer Zwecke abzu
halten branchen. Wichtig ist, dass solche Intoxikationen auch
1*S.
bei kleinen Cocaïngaben vorkommen, so dass man die Empfind-
lichkeit einzelner Personen gegen das Cocaïn, im Zusammen-
halte mit dem Ausbleiben jeder Reaktion nach grösseren
Gaben bei anderen Personen, geradezu als Idiosynkrasie be-
zeichnet hat. Ich glaube nun, diese eine Unzuverlässigkeit
des Cocain, nämlich, dass man nicht weiss, wann ein toxischer
Effekt eintreten wird, hängt sehr innig mit einer anderen
zusammen, welche ich dem Alkaloid zum Vorwurfe machen
muss, nämlich, dass man nicht recht weiss, wann und bei
wem überhaupt eine Wirkung zu erwarten ist. (lch sehe
natiürlich von der anästhesirenden Wirkung ab.) Der Zusam-
menhang, der uns das Verständniss dieser Figenthümlichkeit
erleichtern kann, dürfte foigender sein: Das Cocaïn hat eine
ganz evidente Wirkung auf die Innervation der Blutgefässe.
Bei lokaler Anwendung macht es, wie man sich an jedem
cocaïnisirten Auge ete. überzeugen kann, Gefässverengerung,
also Ischämie der Gewebe. Nach B. Fränkel (Diskussion in
der Berliner medizinischen &esellschaft vom 4. Nov. 1885)
erzeugt Cocaïn an der Zunge des kurarisirten Frosches Ge-
fässerweiterung, erst in Verdünnung von 1 : 20.000 Gefäss-
verengerng. Nach Erlenmeyer wirkt Cocaïn schon in
Dosen von 0005 Grm. injizirt, lähmend auf die Gefässzentren,
setzt die arterielle Spannung herab; nach Litten (Diskussion
ete.) wirkt es exquisit tonisirend, den Blutdruck steigernd.
Ich könnte noch eine ganze Reihe von solchen gegensätzlich
klingenden Angaben verschiedener Forseher anführen, aus
denen allen Eines hervorgeht, dass Cocaïn auf die Gefässe
wirkt, und zwar nach Konzentration, Art der Einführung,
Natur des Objektes zu verschiedenem Efekte. leh bemerke
hiezi, dass die Beschreibung der akuten Cocaïnintoxikation
bald auf einen Zustand von Getässverengerung, bald auf einen
Zustand von Gefässlähmung deutet. Der wechselnde Faktor,
von dem die Ungleichartigkeit der Cocaïnwirkung abhäugt,
scheint mir demnach in dem jedesmaligen Zustande und in
der Labilität der Gefässinnervation gelegen zu sein. Dass die
Erregbarkeit der Gefässnerven (oder Gefässnervenzentren) bei
verschicdenen Menschen sehr versehieden ist und bei dem Ein-
zelnen variirt, halte ich für unzweifelhaft. In der Labilität
der Gehirngefäsinnervation ist wahrscheinlich eines der
Hauptsymptome des nervösen Status gegeben. Man denke nur
an den verschiedenen Effekt einer Galvanisation am Rücken,
je nachdem sie bei einem Gesunden oder bei einem Nervösen
dieser oder jener Beschaffenheit ausgeführt wird. In ähnlicher
Weise wird das Cocaïn, wenn dessen Allgemeinwirkung durch
die Beeinflussung der Gelirnzirkulation zu Stande kommt,
das eine Mal - bei einem stabilen Gefässtonus wirkungs
los sein, das andere Mal drch eine rapid auftretende Schwan-
kung einen toxischen Effekt herbeiführen, dazwischen in an-
deren Fällen eine günstige tonisirende oder hyperämisirende
Wirkung äussern. lch vermuthe also: D er trund für
die Un gleich mässigkeit der Cocainwirkung
liegt in der individuell verschiedenen Er-
regbarkeit und in der Vers chiedenheit der
ustände in den Gefä ssnerven, a uf welche
das Co cain wirkt.
Da man den Grad dieser Erregbarkeit im Allgemeinen
nicht kennt, auf diesen Faktor der individuellen Disposition
überhaupt wenig geachtet hat, halte ich es angezeigt, von
einer Darreichung des Cocaïn in subkutaner Injektion bei
der Behandlung interner und Nervemkrankheiten möglichst
abzusehen.
W. Hammond äusserte sich in der Sitzung der New-
York Neurological Society vom 2. Nov. 1886 fol endermassen
iüber das Cocaïn 1)
Er bediente sich eines nach seiner Angabe präparirten
Cocaweines, weleher 2 grain des salzsauren Salzes in einer
pint Wein enthielt und machte damit zahlreiche Versuche
an sich selbst, wie an Anderen. Dieses Cocapräparat erzielte
vortreftliche Wirkngen bei sogenannter Spinalirritation,
Wirkungen, die er nicht allein dem Weine zuschreiben konnte.
) Vielfach gekürzt wiedergogoben.Auch als Tonicum und als Hilfe gegen Ermüdung war es
ihm von Nutzen; er pflegte selbst eine Zeit lang ein Wein-
glas voll nach der Mühe des Tages zu nehmen und faul sich
jedes Mal erfrischt, ohne dafür mit einer nachfolgenden De-
pression zn büssen.
Er habe das Präparat auch bei einigen Fällen von
Dyspepsie mit grosser Reizbarkeit des Magens angewendet
und davon eine sehr auffällige beruhigende Wirkung gesehen.
Er gab es in Dosen von zwei bis drei Theelöffel alle 15 bis
20 Minuten bis etwa zur sechsten Dosis. Die ersten Löffel
wurden meist ausgebrochen, die folgenden aber stets ängere
Zeit behalten, bis endlich das Erbrechen anfhörte. älle von
Magenreizbarkeit, die wahrscheinlich der Spinalirritation
(Neurasthenie) zugehörten, fanden sich schon nach wenigen
Stunden bei dieser Behandlung erleiehtert.
Dr. Hammond berührte dann kurz die physiologischen
Wirkungen der Coca und bemerkte, dass die ersten Autoren,
welehe über den Gebrauch derselben bei den Eingeborenen
Süd-Amerikas berichteten, die Schädlichkeit dieses Genusses
weit übertrieben haben. Ihre Berichte wurden später immer
wieder von Neuem ohne Angabe der Quelle aufgewärmt und
erregten so das gegenwärtig herrschende Vorurtheil. Um die
grauenerweckenden Berichte über die Wirkung des Cocaïn,
die in letzter Zeit die Zeitungen erfüllten, auf ihre Wahr-
heit zu prüfen, machte er sich selbst zn wiederholten Malen
Cocaïninjektionen, deren leicht toxischen Effekt er ausftührlich
besehreibt. Er vertiel aber in keine Cocaïnsucht, konnte das
Mittel nach seinem Belieben aufgeben. Was die sogenannte
Coeainsucht betrifft, so theilt er mit, dass er einer an Morb.
Basedowii leidenden Dame das Mittel in Dosen von 1 bis
5 Gran durch drei Monate gegeben hat. Nichtsdestoweniger
liess sie davon ohne jede Beschwerde ab. Er gab es auch
einer Morphinistin Monate lang, und zwar in subkutaner In-
jektion bis zu 5 Gran täglich. Er konnte so die Morphium-
sucht überwinden, und die Kranke verfiel nicht der Cocaïn-
sucht. Bei all diesen Kranken erzeugte das Cocaïn, wie bei
ihm selbst, ausserordentliche Hebung der Herzthätigkeit, Stei-
gerung des Blutdruckes und der Temperatur, Schweissaus-
bruch und Schlaflosigkeit.
In drei Fällen von Melancholie bei Franen, welche sich
des Sprechens enthielten, gelang es îhm, die Kranken durch
Cocaininjektionen zum Reden zu bringen, was einige Male
von entschiedenem Nutzen war.
Dr.Hammond stellt die Gewöhnung an Cocan der Kaffee-
oder Theegewöhnung gleich; sie sei aber ganz verschieden von
der Morphiumsucht. Er glaube nicht, dass es einen einzigen be-
glaubigten Fall von Cocaïnsucht (ausser bei Morphinisten)
gebe, nämlich der Art, dass die Kranken nicht im Stande
seien, nach ihrem Belieben das Medikament auszusetzen. Wenn
Jemand durch lange Zeit Cocaïn nehmen sollte, so wäre eher
eine Schädigung des Herzens als der anderen Organe zu er-
warten.
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