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Beiträge zur Kasuistik der Hysterie.
Von Dr. SIGM. FREUD, Dozenten für Nervenkrankheiten in Wien.I.
Beobachtung einer hochgradigen Hemianästhesie bei einem
hysterischen Manne.
(Schluss.)Untersuchung des Sehorgans vom Dozenten Dr. L. Königstein.
Es war vorauszusehen, dass, wenn Anästhesie der gan-
zen linken Körperhältte vorhanden und diese, wie wir eben
gesehen haben, als eine hysterische begründet werden, auch
das Auge gewisse Erscheinungen darbieten werde, wie sie
bei der hysterischen Hemianästhesie beobachtet werden, die
nun ihrerseits wieder die Diagnose Hysterie bestätigen.Ich will nun den Befund, wie ich ihn bei zwei ver-
schiedenen Untersuchungen erhalten, vorerst mittheilen und
mir dann erlauben, einige Bemerkungen anzuknüpfen. Ich
sah den Patienten zum ersten Male am 23. v. M. in der
Wohnung des Kollegen Freud und untersuchte zuerst seine
Sehschärte für die Ferne an den nach Snellen’schem Prinzipe
verfertigten Zillertafeln. Das rechte Auge zeigte normale
Sehschärfe, Sn.6/6, das linke Auge nur 6/9 und auch das
nicht vollständig; nach kurzer Zeit schon waren, wie der
Kranke sich ausdrückte, die Zeilen in einander verschwom-
men. Ich hielt nun ein Planglas vor dasselbe, die Sehschärfe
steigerte sich auf 6/6 und die Buchstaben konnten durch
längere Zeit fixirt werden. Ich legte nun abwechselnd Kon-
vexgläser und das Planglas vor, regelmässig wurde das Plan-
glas bevorzugt und die Konvexgläser verworfen. Ich prüfte
nun die Akkommodation. Mit dem rechten Auge wird Sn.
0.5 geläufig gelesen und kann fast bis an den seinem Alter
entsprechenden Nahepunkt gebracht werden, aber nur für
kurze Zeit, Patient erklärt dann, er sehe gar nichts mehr.
Mit dem linken Auge dagegen können Sn. 0.5, 06 und 0.8
gar nicht gelesen werden, es erscheint Alles grau. Hielt
ich jetzt das Planglas vor, so werden die oben genann-
ten Schriftproben ganz deutlich gelesen und wird auch
das rechte Auge durch das Vorsetzen dieses indifferenten
Glases ausdauernder. Nahm ich anstatt des Planglases ein
schwaches Konvexglas + 0.5 D. bis 2 D., so wurden die
Schriftprobcn gar nicht oder doch relativ schlecht gelesen.
Ich überzeugte mich durch öftere Kontrolluntersuchungen,
dass stets dem Planglase der Vorzug gegeben wurde.Liess ich meinen Finger bei geschlossenem linken Auge
fixiren, so wurde derselbe bis in den Bereich des Nahepunktes
hinein einfach gesehen, übernahm dagegen das linke Auge
die Fixation, so erschien der Finger, wenn er dem Auge
genähert wurde, grösser und dann doppelt, dagegen kleiner
und mehrfach (3-4fach), wenn er von demselben abgerückt
wurde. Dies wiederholte sich regelmässig, so oft diese Pro-
zedur vorgenommen wurde.Das Gesichtsfeld konnte nur durch Handbewegungen
gemessen werden, schien an beiden Augen nicht different und
auch nicht eingeschränkt zu sein. Der Farbensinn wurde mit
Wollbündeln geprüft. Violett wurde für schwarz erklärt,
dunklere Nuancirungen von blau desgleichen, gelb für braun
mit Ausnahme seiner gesättigten hellen Nuancen, lichtes
Grün für grün, die dunkleren Nuancen für grau oder schwarz,
roth aber wurde richtig erkannt, nur ein dunkles Rothbraun
für schwarz gehalten. Drei Tage später hatte ich abermals
Gelegenheit, den Patienten zu untersuchen. Die Sehschärfe
hatte sich nicht geändert, auch wurde diesmal die Angabe
gemacht, dass Plangläser verbessern, dasselbe wurde aber
auch von schwachen Konvexgläsern 0.25 und 0.5 behauptet.
Auch bei Prüfung der Akkommodation zeigte sich ein Unter-S.
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schied. Es konnten diesmal die kleinsten Schriftproben mit
dem linken Auge gelesen werden, wenn auch nur für sehr
kurze Zeit. Mit einem Planglase wurde besser gelesen, das
Auge ermüdete aber ebenfalls nach kurzer Zeit; ich ging zu
Konvexgläsern über, bei jedem wurde anfangs behauptet,
dass mit ihm besser gesehen würde, desgleichen aber auch,
wenn ich wieder nach abwärts ging und schwächere Konvex-
gläser nahm oder das Planglas wieder versetzte. Eine Zeit
lang konnte immer relativ deutlich gelesen werden, dann
wurde immer Alles grau. Polyopie, sowie Makro- und Mikro-
pie bestanden in gleichem Masse, wie bei der ersten Unter-
suchung.Dagegen zeigte das Gesichtsield, am Perimeter geprüft,
wie die beigedruckten Schemata zeigen, sehr bedeutende Ano-Gesichtsfeld-Bezeichnung: ..... weiß, ..... roth, ..... grün, ..... gelb, ..... blau.
malien. Es ist vor Allem das Gesichtsfeld für weiss in ziem-
lich hohem Grade konzentrisch eingeengt, und zwar auf dem
linken Auge in höherem Grade, als rechts; es ist ferner auf
dem Schema nur noch das Gesichtsfeld für roth von einiger
Ausdehnung, die anderen Farben werden nur mehr im Zen-
trum erkannt, wie z. B. blau, oder nur einige Grade um
das Zentrum herum, wie gelb und grün.Diese beiden Befunde stimmen im Grossen und Ganzen
überein, wenn sie auch gewisse Schwankungen aufweisen, die
vielleicht der Ermüdung zuzuschreiben sind. Solche Schwan-
kungen wurden mehrfach bei Neurasthenie beobachtet und wer-
den als Asthenopia nervosa beschrieben. Der Zustand unseres
Kranken ist sicher, was Akkommodation und sein Gesichts-
feld für weiss betrifft, rnit dem eines neurasthenischen ver-
wandt. Er hat vor einiger Zeit Konvexgläser verordnet er-
halten, die, wie aus dem obigen Befunde, dass er das eine
Mal ein Planglas vorgezogen, das andere Mal bald mit dem
Planglase, bald mit einem Konvexglase besser gesehen, für
ihn natürlich gegenwärtig ohne Nutzen sind. Zur Vervoll-
ständigung füge ich noch hinzu, dass die Pupillarreaktion
prompt vor sich geht und dass der Augenspiegelbefund ne-
gativ ist.Die erste Kenntniss der hysterischen Amblyopie kam
uns vor mehr als einem Jahrzehnte von Charcot und seinen
Schülern, und hat speziell Landolt verschiedene Typen der-
selben aufgestellt. Dann wurde auch von anderen Seiten
kasuistisches Material geliefert und haben wir auch in Wien
Gelegenheit gehabt, derartige, ganz besonders charakteristische
Fälle bei Mädchen und Frauen zu sehen, ich erinnere z. B.
nur an ein Mädchen Namens Eisler, die sicher von allen
Okulisten Wiens untersucht wurde, und die von Mauthner
in seinen Vorträgen aus dem Gesammtgebiete der Augen-
heilkunde in dem Abschnitte „Gehirn und Auge“ beschrieben
wurde. Es darf nicht geläugnet werden, dass wir seinerzeit
sehr geneigt waren, diese Erkrankung als Simulation oder doch1676
als Uebertreibung einzelner Symptome aufzufassen. Das
Schwanken und Wechseln in den Erscheinungen liess uns
kein rechtes Zutrauen fiir die erhaltenen Befunde fassen,
heute aber wissen wir jedoch, dass gerade die Labilität mit
ein charakteristisches Symptom der Hysterie ist. Aber trotz
dieser Labilität treten gewisse funktionelle Störungen, wenn
auch mit Wechselnder Intensität, fast ständig auf, von denen
eines allein uns schon zur Diagnose Hysterie berechtigt
oder den Verdacht auf dieselbe lenkt. Diese Anomalien sind:
die konzentrische Einengung des Gesichtsieldes für weiss, aber
insbesondere die Farbensinnstörungen, ferner die monokulare
Polyopic‚ verbunden mit Makro- und. Mikropie.Die Kasuistik bringt zahlreiche Beispiele, bei welchen
totale Amanrose, einseitige oder beiderseitige oder hochgra-Gesichtsfeld-Bezeichnung: ..... weiß, ..... roth, ..... grün, ..... gelb, ..... blau.
dige Amblyopie gefunden, bei denen Hemianopie, und zwar
zumeist temporale, beobachtet wurde; auch ich hatte Gelegen-
heit, solche Individuen zu untersuchen, es war bei ihnen an
der Diagnose Hysterie wohl kein Zweifel, aber die charak-
teristischen Symptome der hysterischen Hemianästhesie waren
nicht deutlich ausgesprochen.Die Farbensinnstörungen sind bei der Hysterie fast
ausnahmslos derartige, wie sie in unser gewöhnliches Schema
nicht hineinpassen. Bei Erkrankungen des nervösen Apparates
sehen wir zuerst roth und grün verschwinden und zu aller-
letzt blau; bei der Hysterie ist es umgekehrt, zuerst ver-
schwindet blau und zum Schlusse erst roth, doch wird zu-
meist, wenn auch Blindheit für blau, gelb und grün ein-
getreten ist, roth noch erkannt.Die monokuläre Polyopie, verbunden mit dem charak-
teristischen Grösser- und Kleinersehen, wurde wohl schon
früher beschrieben, doch ist es uns wieder entgangen, zum
Mindesten mir, und wurde ich erst durch den Vortrag von
Kollega Freud an dieselbe erinnert. Sie muss wohl nicht
häufig sein, oder eigentlich richtiger, es wird auf dieselbe
nicht untersucht, denn die Literatur der letzten Jahre, so-
weit sie mir zugänglich ist, bringt mit Ausnahme eines ein-
zigen Falles kein Beispiel von hysterischer Polyopie‚ dage-
gen haben wir von Kollege Freud in seinem Vortrage über
männliche Hysterie erfahren, dass von Charcot diesem
Symptome sehr viel Gewicht beigelegt wird, und dass stets
auf dasselbe untersucht und dieses auch häufig gefunden wird.Die Gesichtsfeldeinschränkung, die Farbensinnstörung
und die Diplopie, resp. Makro- und Mikropie, sind die Kar-
dinalsymptome der okularen Hysterie; wir finden diese drei
in prägnanter WVeise bei unserem Kranken ausgesprochen.
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