Beobachtungen einer hochgradigen Hemianästhesie bei einem hysterischen Manne 1886-004/1886.3
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    Beiträge zur Kasuistik der Hysterie.

    Von Dr. SIGM. FREUD, Dozenten für Nervenkrankheiten in Wien.

    I.

    Beobachtungen einer hochgradigen Hemianästhesie bei einem
    hysterischen Manne.*)

    Meine Herren! Als ich am 15. Oktober d. J. die Ehre
    hatte, Ihre Aufmerksamkeit für einen kurzen Bericht
    über Charcot's neuere Arbeiten auf dem Gebiete der männlichen
    Hysterie in Anspruch zu nehmen, erging an mich von Seiten
    meines verehrten Lehrers, des Herrn Hofrathes Prof. Mey-
    nert, die Aufforderung, ich möge doch solche Fälle der
    Gesellschaft vorstellen, an denen die somatischen Kenn-
    zeichen der Hysterie, die „hysterischen Stigmata", durch
    welche Charcot diese Neurose charakterisirt, in scharfer
    Ausprägung zu beobachten sind. Ich komme heute dieser
    Aufforderung nach – allerdings in ungenügender Weise,
    soweit eben das mir zufliessende Material an Kranken es
    gestattet – indem ich Ihnen einen hysterischen Mann
    zeige, welcher das Symptom der Hemianästhesie in nahezu
    höchstgradiger Ausbildung darbietet. Ich will nur, ehe ich
    die Demonstration beginne, bemerken, dass ich keineswegs
    glaube, Ihnen hiemit einen seltenen und absonderlichen Fall
    zu zeigen. Ich halte ihn vielmehr für einen sehr gemeinen
    und häufig vorkommenden, wenn er auch oft genug über-
    sehen werden mag.

    Ich verdanke den Kranken der Freundlichkeit des
    Herrn Kollegen v. Beregszászy, welcher ihn zur Bekräfti-

    *) Vorgetragen in der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien am
    26. November 1886.

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    gung seiner Diagnose in meine Ordination geschickt hat. Es
    ist der 29jährige Ciseleur August P., den Sie hier sehen;
    ein intelligenter Mann, der sich in der Hoffnung auf baldige
    Wiederherstellung bereitwillig meinen Untersuchungen dar
    geboten hat.

    Gestatten Sie mir zunächst, Ihnen seine Familien- und
    Lebensgeschichte mitzuteilen. Der Vater des Kranken ver-
    starb, 48 Jahre alt, an Morbus Brightii; er war Kellermeister,
    schwerer Potator und jähzornigen Charakters. Die Mutter
    ist im Alter von 46 Jahren an Tuber-kulose gestorben, sie
    soll in früheren Jahren viel an Kopfschmerzen gelitten
    haben; von Krampfanfällen u. dergl. weiß der Kranke nichts
    zu berichten. Von diesem Elternpaare stammen sechs Söhne,
    von denen der erste einen unordentlichen Lebenswandel ge-
    führt hat und an einer luëtischen Gehirnerkrankung zu
    Grunde gegangen ist. Der zweite Sohn hat für uns ein be-
    sonderes Interesse; er spielt eine Rolle in der Aetiologie der
    Erkrankung bei seinem Bruder und scheint auch selbst ein
    Hysteriker zu sein. Er hat nämlich unserem Kranken
    erzählt, dass er an Krampfanfällen gelitten hat; und ein
    eigenthümlicher Zufall liess mich heute einem Berliner Kol-
    legen begegnen, der diesen Bruder in Berlin während einer
    Erkrankung behandelt und die auch im dortigen Spitale be-
    stätigte Diagnose einer Hysterie bei ihm gestellt hatte. Der
    dritte Sohn ist Militärflüchtling und seither verschollen, der
    vierte und fünfte sind im zarten Alter gestorben, und der
    letzte ist unser Kranker selbst.

    Unser Kranker hat sich während seiner Kindheit nor-
    mal entwickelt, niemals an Fraisen gelitten und die gewöhn-
    lichen Kinderkrankheiten überstanden. In seinem 8. Lebens-
    jahre hatte er das Unglück, auf der Strasse überfahren zu
    werden, erlitt eine Ruptur des rechten Trommelfells mit
    bleibender Störung des Gehörs am rechten Ohre, und verfiel
    in eine Krankheit von mehrmonatlicher Dauer, während
    welcher er häufig an Anfällen litt, deren Natur heute nicht
    mehr zu eruiren ist. Diese Anfälle hielten durch etwa zwei
    Jahre an. Seit diesem Unfalle datirt eine leichte geistige
    Hemmung, die der Kranke an seinem Fortschritt in der
    Schule bemerkt haben will, und eine Neigung zu Schwindel-
    gefühlen, so oft er aus irgendeinem Grunde unwohl war.
    Er absolvierte später die Normalschule, trat nach dem Tode
    seiner Eltern als Lehrling bei einem Ciseleur ein, und es
    spricht sehr zu Gunsten seines Charakters, dass er als
    Geselle zehn Jahre lang bei demselben Meister verblieben

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    ist. Er schildert sich selbst als einen Menschen, dessen Ge-
    danken einzig und allein auf Vervollkommnung in seinem
    Kunsthandwerke gerichtet waren, der zu diesem Zwecke
    viel las und zeichnete und allem Verkehre wie allen Ver-
    gnügungen entsagte. Er musste viel über sich und seinen
    Ehrgeiz nachdenken, gerieth dabei häufig in einen Zustand
    von aufgeregter Ideenflucht, bei welchem ihm um seine gei-
    stige Gesundheit bange wurde; sein Schlaf war häufig un-
    ruhig, seine Verdauung durch seine sitzende Lebensweise
    verlangsamt. An Herzklopfen leidet er seit neun Jahren,
    sonst aber war er gesund und in seiner Arbeit niemals
    gestört.

    Seine gegenwärtige Erkrankung datirt seit etwa drei
    Jahren. Er gerieth damals mit seinem lüderlichen Bruder,
    welcher ihm die Rückzahlung einer geliehenen Summe verwei-
    gerte, in Streit; der Bruder drohte ihn zu erstechen und ging
    mit dem Messer auf ihn los. Darüber gerieth der Kranke in
    eine namenlose Angst, er verspürte ein Sausen im Kopfe,
    als ob ihm dieser zerspringen wolle, eilte nach Hause, ohne
    sich besinnen zu können, wie er dahin gekommen sei, und
    fiel vor seiner Thürschwelle bewusstlos zu Boden. Es wurde
    später berichtet, dass er durch zwei Stunden die heftigsten
    Zuckungen gehabt und dabei von der Szene mit seinem Bru-
    der gesprochen habe. Als er erwachte, fühlte er sich sehr
    matt; er litt in den nächsten sechs Wochen an heftigem
    linksseitigem Kopfschmerze und Kopfdrucke, das Gefühl in
    seiner linken Körperhälfte kam ihm verändert vor, und seine
    Augen ermüdeten bei der Arbeit, die er bald wieder
    aufnahm. So blieb sein Zustand mit einigen Schwankungen
    durch drei Jahre, bis vor sieben Wochen eine neue Auf-
    regung eine Verschlimmerung herbeiführte. Der Kranke
    wurde von einer Frauensperson des Diebstahls beschuldigt,
    bekam heftiges Herzklopfen, war durch etwa 14 Tage so
    deprimirt, dass er an Selbstmord dachte, und gleichzeitig stellte
    sich ein stärkerer Tremor an den linksseitigen Extremitäten
    ein; die linke Körperhälfte verspürte er so, als ob sie von
    einem Schlage gestreift worden wäre; seine Augen wurden
    sehr schwach und liessen ihn häufig Alles grau sehen; der
    Schlaf wurde von schreckhaften Erscheinungen und von
    Träumen, in denen er von einer grossen Höhe herabzufallen
    glaubte, gestört; Schmerzen traten am Halse links, in der
    linken Weiche, am Kreuze und an anderen Orten auf; der
    Magen war ihm häufig „wie gebläht", und er sah sich genö-
    thigt, seine Arbeit einzustellen. eine neuerliche Verschlim-

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    merung all dieser Symptome datirt seit einer Woche. Der
    Kranke unterliegt überdies heftigen Schmerzen im linken
    Knie und in der linken Sohle, wenn er längere Zeit geht,
    verspürt eine eigenthümliche Empfindung im Halse, als ob
    ihm die Zunge gefesselt wäre, hat häufig Singen in den
    Ohren u. dergl. mehr. Sein Gedächtniss ist für die Erlebnisse
    während seiner Krankheit herabgesetzt, für frühere Ereignisse
    gut. Die Krampfanfälle haben sich in den drei Jahren sechs
    bis neun Mal wiederholt; doch waren die meisten derselben
    sehr leicht, nur ein nächtlicher Anfall im letzten August
    war mit stärkerem „Schütteln" verbunden.

    Betrachten Sie nun den etwas bleichen, mittel-
    kräftig entwickelten Kranken. Die Untersuchung der inneren
    Organe weist, von dumpfen Herztönen abgesehen, nichts
    Krankhaftes nach. Drücke ich auf die Austrittsstelle des
    N. supra-, infraorbitalis und mentalis linkerseits, so wendet
    der Kranke den Kopf unter dem Ausdrucke heftiger Schmer-
    zen. Es besteht also, wie man meinen sollte, eine neuralgi-
    sche Veränderung am linken Trigeminus. Auch das Schädel-
    gewölbe ist in seiner linken Hälfte sehr empfindlich gegen
    Perkussion. Die Haut der linken Kopfhälfte verhält sich aber
    ganz anders, als man erwarten sollte: sie ist völlig unempfind-
    lich gegen Reize jeder Art; ich kann stechen, kneipen, das
    Ohrläppchen zwischen meinen Fingern wälzen, ohne dass der
    Kranke auch nur die Berührung verspürt. Es besteht hier
    also eine höchstgradige Anästhesie; dieselbe betrifft aber nicht
    blos die Haut, sondern auch die Schleimhäute, wie ich Ihnen
    an den Lippen und an der Zunge des Kranken zeige. Führe
    ich ein Papierröllchen in den linken äusseren Gehörgang und
    dann durch's linke Nasenloch ein, so wird dies keinerlei
    Reaktion hervorrufen. Ich wiederhole den Versuch auf der
    rechten Seite und konstatire daselbst die normale Empfind-
    lichkeit des Kranken. Der Anästhesie entsprechend, sind auch
    die sensibeln Reflexe aufgehoben oder herabgesetzt. So kann
    ich mit dem eingeführten Finger alle Schlundgebilde linker-
    seits berühren, ohne dass Würgen erfolgt. Die Schlundreflexe
    sind aber auch rechts herabgesetzt; erst wenn ich die Epi-
    glottis rechterseits erreicht habe, tritt eine Reaktion ein.
    Die Berührung der linken Conjunctiva palpebrarum und bulbi
    erzeugt fast keinen Lidschluss, der Cornealreflex ist dagegen
    vorhanden, aber sehr erheblich abgeschwächt. Die Conjunk-
    tival- und Cornealreflexe sind übrigens auch am rechten
    Auge herabgesetzt, nur in geringerem Grade, und ich kann
    schon aus diesem Verhalten der Reflexe den Schluß ziehen,

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    daß die Störungen des Sehens nicht auf das eine – linke
    – Auge beschränkt sein dürften. In der That bot der
    Kranke, als ich ihn zum ersten Male untersuchte, auf beiden
    Augen die eigenthümliche Polyopia monocularis der Hysteri-
    schen und Störungen des Farbensinnes. Mit dem rechten
    Auge erkannte er alle Farben bis auf Violett, das er für
    Grau erklärte, mit dem linken blos ein lichtes Roth und
    Gelb, während er alle anderen Farben, wenn licht, für grau,
    wenn dunkel, für schwarz hielt. Herr Dr. Königstein
    hatte dann die Freundlichkeit, die Augen des Kranken einer
    eingehenden Untersuchung zu unterziehen, und wird nachher
    über seine Befunde selbst berichten. Um von den anderen
    Sinnesorganen zu sprechen, so ist der Geruch wie der Ge-
    schmack auf der linken Seite gänzlich verlorengegangen.
    Nur das Gehör ist von der cerebralen Hemianästhesie ver-
    schont geblieben. Das rechte Ohr ist, wie Sie sich erinnern,
    in seiner Leistungsfähigkeit seit dem Unfalle, der den
    Kranken im Alter von 8 Jahren betraf, schwer beeinträch-
    tigt; das Ohr der linken Seite ist das bessere; die daselbst
    vorhandene Herabsetzung des Gehörs wird nach der freund-
    lichen Mittheilung von Prof. Gruber durch eine am Trom-
    melfelle ersichtliche materielle Erkrankung genügend erklärt.

    Uebergehen wir nun zur Untersuchung des Rumpfes
    und der Extremitäten, so finden wir auch hier, zunächst am
    linken Arme, eine absolute Anästhesie. Ich kann, wie Sie
    sehen, eine spitze Nadel durch eine Hautfalte stossen, ohne
    dass der Kranke dagegen reagirt. Auch die tiefen Theile,
    Muskeln, Bänder, Gelenke, müssen ebenso hochgradig un-
    empfindlich sein, denn ich kann das Handgelenk verdrehen,
    die Bänder zerren, ohne dass ich irgendwelche Empfindung
    bei dem Kranken hervorrufe. Dieser Anästhesie der tiefen
    Theile entspricht es, dass der Kranke bei verbundenen Augen
    auch keine Ahnung von der Lage seines linken Armes im
    Raume, oder von einer Bewegung, die ich mit diesem Gliede
    vornehme, hat. Ich verbinde ihm die Augen und frage dann,
    was ich mit seiner linken Hand gethan habe. Er weiss es
    nicht. Ich fordere ihn auf, mit seiner rechten Hand nach
    seinem linken Daumen, Ellbogen, Schulter zu greifen. Er
    tappt in der Luft herum, nimmt etwa meine dargebotene
    Hand für die seinige, und gesteht dann, nicht zu wissen,
    wessen Hand er gepackt habe.

    Es muß besonders interessant sein nachzusehen, ob
    der Kranke die Theile seiner linken Gesichtshälfte zu
    finden vermag. Man sollte meinen, dies würde ihm keine

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    Schwierigkeiten machen, da doch die linke Gesichtshälfte
    mit der intakten rechten sozusagen fest verkittet ist. Aber
    der Versuch zeigt das Gegentheil. Der Kranke greift nach
    seinem linken Auge, Ohrläppchen u. dgl. fehl; ja er scheint
    sich mit dem Getaste der rechten Hand in den anästhetischen
    Gesichtspartien schlechter zurechtzufinden, als wenn er einen
    ihm fremden Körpertheil berühren würde. Die Schuld liegt
    nicht an einer Störung in der rechten Hand, die er zum
    Tasten benützt, denn Sie sehen, wie er sicher und rasch
    zugreift, wenn ich ihn zur Berührung von Punkten seiner
    rechten Gesichtshälfte auffordere.

    Dieselbe Anästhesie besteht am Rumpfe und am linken
    Beine. Wir konstatiren dort, dass die Unempfindlichkeit
    sich mit der Medianlinie begrenzt oder eine Spur über die-
    selbe hinausgreift.

    Von besonderem Interesse erscheint mir die Analyse
    der Bewegungsstörungen, welche der Kranke an seinen
    anästhetischen Gliedmassen zeigt. Ich glaube, diese Bewe-
    gungsstörungen sind einzig und allein auf die Anästhesie
    zurückzuführen. Eine Lähmung, etwa des linken Armes,
    besteht gewiß nicht. Ein gelähmter Arm fällt entweder
    schlaff herab oder wird durch Kontrakturen in gezwungenen
    Stellungen festgehalten. Anders hier. Wenn ich dem Kranken
    die Augen verbinde, verbleibt der linke Arm in der Stellung,
    die er zuvor eingenommen. Die Störungen der Beweglichkeit
    sind wechselnde und hängen von mehreren Verhältnissen ab.
    Zunächst werden die Herren, welche beobachtet haben, wie
    sich der Kranke mit beiden Händen auskleidete, wie er mit
    den Fingern der linken Hand sein linkes Nasenloch verschloss,
    nicht den Eindruck einer schweren Bewegungsstörung be-
    kommen haben. Bei näherem Zusehen wird man finden, dass
    der linke Arm und besonders die Finger etwas langsamer
    und ungeschickter, wie steif, und unter leichtem Zittern be-
    wegt werden; es wird aber jede, auch die komplizirteste Bewe-
    gung ausgeführt, und so ist es immer, wenn die Aufmerksam-
    keit des Kranken vom Bewegungsorgane abgelenkt ist und sich
    nur auf das Ziel der Bewegung richtet. Ganz anders, wenn
    ich ihm auftrage, einzelne Bewegungen ohne weiteres Ziel mit
    seinem linken Arm auszuführen, so z. B. den Arm im Ellbogen-
    gelenke zu beugen, während er die Bewegung mit seinen
    Augen verfolgt. Dann zeigt sich der linke Arm sehr viel
    gehemmter als vorhin, die Bewegung erfolgt sehr langsam,
    unvollständig, in einzelnen Absätzen, als ob ein grosser
    Widerstand zu überwinden wäre, und unter lebhaftem Tremor.

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    Die Fingerbewegungen sind unter diesen Verhältnissen ausser-
    ordentlich schwach. Eine dritte und stärkste Art der Bewe-
    gungsstörung zeigt sich endlich, wenn er einzelne Bewegun-
    gen bei geschlossenen Augen ausführen soll. Es erfolgt dann
    zwar noch etwas mit dem absolut anästhetischen Gliede,
    Sie sehen ja, dass die motorische Innervation unabhängig von
    allen sensiblen Nachrichten ist, welche normalerweise von
    einem zu bewegenden Gliede einlaufen, aber diese Bewegung
    ist minimal, gar nicht auf einen einzelnen Abschnitt gerichtet,
    in ihrem Sinne vom Kranken nicht bestimmbar. Nehmen Sie
    diese letzte Art der Bewegungsstörung aber nicht für eine
    nothwendige Folge der Anästhesie; gerade hierin zeigen sich
    weitgehende individuelle Verschiedenheiten. Wir haben in
    der Salpětrière anästhetische Kranke beobachtet, welche
    sich bei geschlossenen Augen eine viel weiter gehende Herr-
    schaft über das dem Bewusstsein verlorene Glied bewahrt
    hatten. 1)

    Derselbe Einfluss der abgelenkten Aufmerksamkeit und
    des Hinsehens gilt für das linke Bein. Der Kranke ist heute
    wohl eine Stunde lang im raschen Schritt neben mir über
    die Strasse gegangen, ohne beim Gehen auf seine Füsse zu
    sehen, und ich konnte nur bemerken, daß er das linke Bein
    etwas nach auswärts und schleudernd aufsetzte und mit dem
    Fusse häufig am Boden schleifte. Heisse ich ihn aber gehen,
    so muß er jede Bewegung des anästhetischen Beines mit
    den Augen verfolgen, dieselbe fällt langsam und unsicher
    aus und ermüdet ihn sehr rasch. Völlig unsicher geht er
    endlich mit geschlossenen Augen, er schiebt sich dann mit
    beiden Füßen am Boden haftend vorwärts, wie unsereiner
    im Dunkeln, wenn er das Terrain nicht kennt. Er hat es auch
    sehr schwer, sich auf dem linken Bein stehend zu erhalten;
    schliesst er in dieser Stellung die Augen, so fällt er sofort um.

    Ich will noch das Verhalten der Reflexe beschreiben.
    Dieselben sind im allgemeinen lebhafter als normal, übrigens
    wenig miteinander übereinstimmend. Die Triceps- und
    Flexorenreflexe sind an der rechten, nicht anästhetischen
    Extremität entschieden lebhafter, der Patellarreflex scheint
    links mehr gesteigert, die Achillessehnenreflexe sind beider-
    seits gleich. Man kann auch ein ganz leichtes Fussphänomen
    erzeugen, welches rechts deutlicher ausfällt. Die Cremasteren-
     

    1) Vergl. Charcot: Ueber zwei Fälle von hysterischer Monoplegie des
    Armes etc. Anhang (S. „Neue Vorlesungen", übersetzt vom Autor. Wien,
    Toeplitz und Deuticke, 1886.)

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    reflexe fehlen, dagegen sind die Bauchreflexe lebhaft, der
    linksseitige enorm gesteigert, so dass das leiseste Streichen
    über eine Stelle der Bauchhaut eine maximale Kontraktion
    des linken Rectus abdominis hervorruft.

    Wie es dem Bilde einer hysterischen Hemianästhesie
    entspricht, zeigt unser Kranker auch spontan und auf Druck
    schmerzhafte Stellen auf der sonst unempfindlichen Körper-
    seite, sogenannte „hysterogene Zonen", wenn deren Beziehung
    zur Hervorrufung der Anfälle auch in diesem Falle nicht
    ausgeprägt ist. So ist der N. trigeminus, dessen Endäste,
    wie ich Ihnen vorhin zeigte, druckempfindlich sind, Sitz einer
    solchen hysterogenen Zone; ferner eine schmale Stelle in der
    mittleren linken Halsgrube, ein breiterer Streifen an der
    linken Thoraxwand (woselbst auch die Haut noch empfindlich
    ist), die Lendenwirbelsäule und der mittlere Theil des Kreuz-
    beins (über ersterer ebenfalls Hautempfindlichkeit), endlich
    ist der linke Samenstrang sehr schmerzempfindlich, und diese
    Zone setzt sich längs des Verlaufes des Samenstranges in die
    Bauchhöhle fort, bis zu der Stelle, welche bei Frauen so
    häufig der Sitz der „Ovarie" ist.

    Ich muß noch zwei Bemerkungen hinzufügen, welche
    Abweichungen unseres Falles vom typischen Bilde der
    hysterischen Hemianästhesie betreffen. Die erste geht dahin,
    dass auch die rechte Körperseite des Kranken nicht von
    Anästhesien verschont ist, welche aber nicht hochgradig sind
    und blos die Haut zu betreffen scheinen. So findet sich eine
    Zone von herabgesetzter Schmerzempfindlichkeit (und Tempera-
    turgefühl) über der rechten Schulterwölbung, eine andere
    geht bandförmig um das periphere Ende des Unterarms; das
    rechte Bein ist hypästhetisch an der Aussenseite des
    Ober- und an der Rückseite des Unterschenkels.

    Eine zweite Bemerkung bezieht sich darauf, dass die
    Hemianästhesie bei unserem Kranken sehr deutlich den
    Charakter der Labilität zeigt. So habe ich bei einer Prü-
    fung der elektrischen Empfindlichkeit gegen meine Absicht
    ein Stück der Haut am linken Ellbogen empfindlich gemacht,
    so zeigte sich bei wiederholten Prüfungen die Ausdehnung
    der schmerzhaften Zonen am Rumpfe und die Störungen des
    Gesichtssinnes in ihrer Intensität schwankend. Auf diese
    Labilität der Empfindungsstörung gründe ich die Hoffnung,
    dem Kranken in kurzer Zeit die normale Empfindlichkeit
    wiederzugeben.

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    Augenbefund vom Dozenten Dr. L. Königstein.

    Es war vorauszusehen, dass, wenn Anästhesie der gan-
    zen linken Körperhälfte vorhanden und diese, wie wir eben
    gesehen haben, als eine hysterische begründet worden, auch
    das auge gewisse ERscheinungen darbieten werde, wie sie
    bei der hysterischen Hemianästhesie beobachtet worden, die
    nun ihrerseits wieder die Diagnose Hysterie bestätigen.

    Ich will nun den Befund, wie ich ihn bie zwei ver-
    schiedenen Untersuchungen erhalten, vorerst mitteilen und
    mit dann erlauben, einige Bemerkungen anzuknüpfen. [...]

    Vorläufige editorsche Anmerkungen (CD)

    »Meynert forderte mich auf, Fälle, wie die von mir geschilderten, doch in Wien aufzusuchen und der Gesellschaft vorzustellen.« Bei der Suche stieß er auf gewisse Schwierigkeiten, die ihm die Primarärzte der Abteilungen des Allgemeinen Krankenhauses bereiteten. Mit Unterstützung eines jungen Laryngologen fand er endlich anderwärts einen geeigneten Fall und präsentierte ihn am 26. November 1886 vor der Gesellschaft der Ärzte. Der Fall wurde von Freud und seinem Freund Dr. Königstein1, dem Augenchirurgen, vorgestellt; Königstein hatte eine Untersuchung der Augensymptome des Patienten vorgenommen. Seine Darstellung wurde eine Woche nach derjenigen Freuds in der Wochenschrift abgedruckt, in der Ausgabe vom 11. Dezember (Sp. 1674-76). Freud berichtet uns, die nachfolgende Arbeit habe eine bessere Aufnahme gefunden als ihre Vorgängerin, jedoch kein größeres Interesse zu wecken vermocht. »Der Eindruck, daß die großen Autoritäten meine Neuigkeiten abgelehnt hätten, blieb unerschüttert; […]« (1925d; G. W., Bd. 14, S. 39).
     

    Leopold Königstein (1850-1924), Professor der Augenheilkunde in Wien.

    Siehe dazu auch:
    Freud schrieb seine Studie ›Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung‹ (1910i) als Beitrag zu einer Festschrift für Königstein.