S.
Beiträge zur Kasuistik der Hysterie.
Von Dr. SIGM. FREUD, Dozenten für Nervenkrankheiten in Wien.
I.
Beobachtungen einer hochgradigen Hemianästhesie bei einem
hysterischen Manne.*)Meine Herren! Als ich am 15. Oktober d. J. die Ehre
hatte, Ihre Aufmerksamkeit für einen kurzen Bericht
über Charcot's neuere Arbeiten auf dem Gebiete der männlichen
Hysterie in Anspruch zu nehmen, erging an mich von Seiten
meines verehrten Lehrers, des Herrn Hofrathes Prof. Mey-
nert, die Aufforderung, ich möge doch solche Fälle der
Gesellschaft vorstellen, an denen die somatischen Kenn-
zeichen der Hysterie, die „hysterischen Stigmata", durch
welche Charcot diese Neurose charakterisirt, in scharfer
Ausprägung zu beobachten sind. Ich komme heute dieser
Aufforderung nach – allerdings in ungenügender Weise,
soweit eben das mir zufliessende Material an Kranken es
gestattet – indem ich Ihnen einen hysterischen Mann
zeige, welcher das Symptom der Hemianästhesie in nahezu
höchstgradiger Ausbildung darbietet. Ich will nur, ehe ich
die Demonstration beginne, bemerken, dass ich keineswegs
glaube, Ihnen hiemit einen seltenen und absonderlichen Fall
zu zeigen. Ich halte ihn vielmehr für einen sehr gemeinen
und häufig vorkommenden, wenn er auch oft genug über-
sehen werden mag.Ich verdanke den Kranken der Freundlichkeit des
Herrn Kollegen v. Beregszászy, welcher ihn zur Bekräfti-*) Vorgetragen in der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien am
26. November 1886.S.
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gung seiner Diagnose in meine Ordination geschickt hat. Es
ist der 29jährige Ciseleur August P., den Sie hier sehen;
ein intelligenter Mann, der sich in der Hoffnung auf baldige
Wiederherstellung bereitwillig meinen Untersuchungen dar
geboten hat.Gestatten Sie mir zunächst, Ihnen seine Familien- und
Lebensgeschichte mitzuteilen. Der Vater des Kranken ver-
starb, 48 Jahre alt, an Morbus Brightii; er war Kellermeister,
schwerer Potator und jähzornigen Charakters. Die Mutter
ist im Alter von 46 Jahren an Tuber-kulose gestorben, sie
soll in früheren Jahren viel an Kopfschmerzen gelitten
haben; von Krampfanfällen u. dergl. weiß der Kranke nichts
zu berichten. Von diesem Elternpaare stammen sechs Söhne,
von denen der erste einen unordentlichen Lebenswandel ge-
führt hat und an einer luëtischen Gehirnerkrankung zu
Grunde gegangen ist. Der zweite Sohn hat für uns ein be-
sonderes Interesse; er spielt eine Rolle in der Aetiologie der
Erkrankung bei seinem Bruder und scheint auch selbst ein
Hysteriker zu sein. Er hat nämlich unserem Kranken
erzählt, dass er an Krampfanfällen gelitten hat; und ein
eigenthümlicher Zufall liess mich heute einem Berliner Kol-
legen begegnen, der diesen Bruder in Berlin während einer
Erkrankung behandelt und die auch im dortigen Spitale be-
stätigte Diagnose einer Hysterie bei ihm gestellt hatte. Der
dritte Sohn ist Militärflüchtling und seither verschollen, der
vierte und fünfte sind im zarten Alter gestorben, und der
letzte ist unser Kranker selbst.Unser Kranker hat sich während seiner Kindheit nor-
mal entwickelt, niemals an Fraisen gelitten und die gewöhn-
lichen Kinderkrankheiten überstanden. In seinem 8. Lebens-
jahre hatte er das Unglück, auf der Strasse überfahren zu
werden, erlitt eine Ruptur des rechten Trommelfells mit
bleibender Störung des Gehörs am rechten Ohre, und verfiel
in eine Krankheit von mehrmonatlicher Dauer, während
welcher er häufig an Anfällen litt, deren Natur heute nicht
mehr zu eruiren ist. Diese Anfälle hielten durch etwa zwei
Jahre an. Seit diesem Unfalle datirt eine leichte geistige
Hemmung, die der Kranke an seinem Fortschritt in der
Schule bemerkt haben will, und eine Neigung zu Schwindel-
gefühlen, so oft er aus irgendeinem Grunde unwohl war.
Er absolvierte später die Normalschule, trat nach dem Tode
seiner Eltern als Lehrling bei einem Ciseleur ein, und es
spricht sehr zu Gunsten seines Charakters, dass er als
Geselle zehn Jahre lang bei demselben Meister verbliebenS.
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ist. Er schildert sich selbst als einen Menschen, dessen Ge-
danken einzig und allein auf Vervollkommnung in seinem
Kunsthandwerke gerichtet waren, der zu diesem Zwecke
viel las und zeichnete und allem Verkehre wie allen Ver-
gnügungen entsagte. Er musste viel über sich und seinen
Ehrgeiz nachdenken, gerieth dabei häufig in einen Zustand
von aufgeregter Ideenflucht, bei welchem ihm um seine gei-
stige Gesundheit bange wurde; sein Schlaf war häufig un-
ruhig, seine Verdauung durch seine sitzende Lebensweise
verlangsamt. An Herzklopfen leidet er seit neun Jahren,
sonst aber war er gesund und in seiner Arbeit niemals
gestört.Seine gegenwärtige Erkrankung datirt seit etwa drei
Jahren. Er gerieth damals mit seinem lüderlichen Bruder,
welcher ihm die Rückzahlung einer geliehenen Summe verwei-
gerte, in Streit; der Bruder drohte ihn zu erstechen und ging
mit dem Messer auf ihn los. Darüber gerieth der Kranke in
eine namenlose Angst, er verspürte ein Sausen im Kopfe,
als ob ihm dieser zerspringen wolle, eilte nach Hause, ohne
sich besinnen zu können, wie er dahin gekommen sei, und
fiel vor seiner Thürschwelle bewusstlos zu Boden. Es wurde
später berichtet, dass er durch zwei Stunden die heftigsten
Zuckungen gehabt und dabei von der Szene mit seinem Bru-
der gesprochen habe. Als er erwachte, fühlte er sich sehr
matt; er litt in den nächsten sechs Wochen an heftigem
linksseitigem Kopfschmerze und Kopfdrucke, das Gefühl in
seiner linken Körperhälfte kam ihm verändert vor, und seine
Augen ermüdeten bei der Arbeit, die er bald wieder
aufnahm. So blieb sein Zustand mit einigen Schwankungen
durch drei Jahre, bis vor sieben Wochen eine neue Auf-
regung eine Verschlimmerung herbeiführte. Der Kranke
wurde von einer Frauensperson des Diebstahls beschuldigt,
bekam heftiges Herzklopfen, war durch etwa 14 Tage so
deprimirt, dass er an Selbstmord dachte, und gleichzeitig stellte
sich ein stärkerer Tremor an den linksseitigen Extremitäten
ein; die linke Körperhälfte verspürte er so, als ob sie von
einem Schlage gestreift worden wäre; seine Augen wurden
sehr schwach und liessen ihn häufig Alles grau sehen; der
Schlaf wurde von schreckhaften Erscheinungen und von
Träumen, in denen er von einer grossen Höhe herabzufallen
glaubte, gestört; Schmerzen traten am Halse links, in der
linken Weiche, am Kreuze und an anderen Orten auf; der
Magen war ihm häufig „wie gebläht", und er sah sich genö-
thigt, seine Arbeit einzustellen. eine neuerliche Verschlim-S.
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merung all dieser Symptome datirt seit einer Woche. Der
Kranke unterliegt überdies heftigen Schmerzen im linken
Knie und in der linken Sohle, wenn er längere Zeit geht,
verspürt eine eigenthümliche Empfindung im Halse, als ob
ihm die Zunge gefesselt wäre, hat häufig Singen in den
Ohren u. dergl. mehr. Sein Gedächtniss ist für die Erlebnisse
während seiner Krankheit herabgesetzt, für frühere Ereignisse
gut. Die Krampfanfälle haben sich in den drei Jahren sechs
bis neun Mal wiederholt; doch waren die meisten derselben
sehr leicht, nur ein nächtlicher Anfall im letzten August
war mit stärkerem „Schütteln" verbunden.Betrachten Sie nun den etwas bleichen, mittel-
kräftig entwickelten Kranken. Die Untersuchung der inneren
Organe weist, von dumpfen Herztönen abgesehen, nichts
Krankhaftes nach. Drücke ich auf die Austrittsstelle des
N. supra-, infraorbitalis und mentalis linkerseits, so wendet
der Kranke den Kopf unter dem Ausdrucke heftiger Schmer-
zen. Es besteht also, wie man meinen sollte, eine neuralgi-
sche Veränderung am linken Trigeminus. Auch das Schädel-
gewölbe ist in seiner linken Hälfte sehr empfindlich gegen
Perkussion. Die Haut der linken Kopfhälfte verhält sich aber
ganz anders, als man erwarten sollte: sie ist völlig unempfind-
lich gegen Reize jeder Art; ich kann stechen, kneipen, das
Ohrläppchen zwischen meinen Fingern wälzen, ohne dass der
Kranke auch nur die Berührung verspürt. Es besteht hier
also eine höchstgradige Anästhesie; dieselbe betrifft aber nicht
blos die Haut, sondern auch die Schleimhäute, wie ich Ihnen
an den Lippen und an der Zunge des Kranken zeige. Führe
ich ein Papierröllchen in den linken äusseren Gehörgang und
dann durch's linke Nasenloch ein, so wird dies keinerlei
Reaktion hervorrufen. Ich wiederhole den Versuch auf der
rechten Seite und konstatire daselbst die normale Empfind-
lichkeit des Kranken. Der Anästhesie entsprechend, sind auch
die sensibeln Reflexe aufgehoben oder herabgesetzt. So kann
ich mit dem eingeführten Finger alle Schlundgebilde linker-
seits berühren, ohne dass Würgen erfolgt. Die Schlundreflexe
sind aber auch rechts herabgesetzt; erst wenn ich die Epi-
glottis rechterseits erreicht habe, tritt eine Reaktion ein.
Die Berührung der linken Conjunctiva palpebrarum und bulbi
erzeugt fast keinen Lidschluss, der Cornealreflex ist dagegen
vorhanden, aber sehr erheblich abgeschwächt. Die Conjunk-
tival- und Cornealreflexe sind übrigens auch am rechten
Auge herabgesetzt, nur in geringerem Grade, und ich kann
schon aus diesem Verhalten der Reflexe den Schluß ziehen,S.
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daß die Störungen des Sehens nicht auf das eine – linke
– Auge beschränkt sein dürften. In der That bot der
Kranke, als ich ihn zum ersten Male untersuchte, auf beiden
Augen die eigenthümliche Polyopia monocularis der Hysteri-
schen und Störungen des Farbensinnes. Mit dem rechten
Auge erkannte er alle Farben bis auf Violett, das er für
Grau erklärte, mit dem linken blos ein lichtes Roth und
Gelb, während er alle anderen Farben, wenn licht, für grau,
wenn dunkel, für schwarz hielt. Herr Dr. Königstein
hatte dann die Freundlichkeit, die Augen des Kranken einer
eingehenden Untersuchung zu unterziehen, und wird nachher
über seine Befunde selbst berichten. Um von den anderen
Sinnesorganen zu sprechen, so ist der Geruch wie der Ge-
schmack auf der linken Seite gänzlich verlorengegangen.
Nur das Gehör ist von der cerebralen Hemianästhesie ver-
schont geblieben. Das rechte Ohr ist, wie Sie sich erinnern,
in seiner Leistungsfähigkeit seit dem Unfalle, der den
Kranken im Alter von 8 Jahren betraf, schwer beeinträch-
tigt; das Ohr der linken Seite ist das bessere; die daselbst
vorhandene Herabsetzung des Gehörs wird nach der freund-
lichen Mittheilung von Prof. Gruber durch eine am Trom-
melfelle ersichtliche materielle Erkrankung genügend erklärt.Uebergehen wir nun zur Untersuchung des Rumpfes
und der Extremitäten, so finden wir auch hier, zunächst am
linken Arme, eine absolute Anästhesie. Ich kann, wie Sie
sehen, eine spitze Nadel durch eine Hautfalte stossen, ohne
dass der Kranke dagegen reagirt. Auch die tiefen Theile,
Muskeln, Bänder, Gelenke, müssen ebenso hochgradig un-
empfindlich sein, denn ich kann das Handgelenk verdrehen,
die Bänder zerren, ohne dass ich irgendwelche Empfindung
bei dem Kranken hervorrufe. Dieser Anästhesie der tiefen
Theile entspricht es, dass der Kranke bei verbundenen Augen
auch keine Ahnung von der Lage seines linken Armes im
Raume, oder von einer Bewegung, die ich mit diesem Gliede
vornehme, hat. Ich verbinde ihm die Augen und frage dann,
was ich mit seiner linken Hand gethan habe. Er weiss es
nicht. Ich fordere ihn auf, mit seiner rechten Hand nach
seinem linken Daumen, Ellbogen, Schulter zu greifen. Er
tappt in der Luft herum, nimmt etwa meine dargebotene
Hand für die seinige, und gesteht dann, nicht zu wissen,
wessen Hand er gepackt habe.Es muß besonders interessant sein nachzusehen, ob
der Kranke die Theile seiner linken Gesichtshälfte zu
finden vermag. Man sollte meinen, dies würde ihm keineS.
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Schwierigkeiten machen, da doch die linke Gesichtshälfte
mit der intakten rechten sozusagen fest verkittet ist. Aber
der Versuch zeigt das Gegentheil. Der Kranke greift nach
seinem linken Auge, Ohrläppchen u. dgl. fehl; ja er scheint
sich mit dem Getaste der rechten Hand in den anästhetischen
Gesichtspartien schlechter zurechtzufinden, als wenn er einen
ihm fremden Körpertheil berühren würde. Die Schuld liegt
nicht an einer Störung in der rechten Hand, die er zum
Tasten benützt, denn Sie sehen, wie er sicher und rasch
zugreift, wenn ich ihn zur Berührung von Punkten seiner
rechten Gesichtshälfte auffordere.Dieselbe Anästhesie besteht am Rumpfe und am linken
Beine. Wir konstatiren dort, dass die Unempfindlichkeit
sich mit der Medianlinie begrenzt oder eine Spur über die-
selbe hinausgreift.Von besonderem Interesse erscheint mir die Analyse
der Bewegungsstörungen, welche der Kranke an seinen
anästhetischen Gliedmassen zeigt. Ich glaube, diese Bewe-
gungsstörungen sind einzig und allein auf die Anästhesie
zurückzuführen. Eine Lähmung, etwa des linken Armes,
besteht gewiß nicht. Ein gelähmter Arm fällt entweder
schlaff herab oder wird durch Kontrakturen in gezwungenen
Stellungen festgehalten. Anders hier. Wenn ich dem Kranken
die Augen verbinde, verbleibt der linke Arm in der Stellung,
die er zuvor eingenommen. Die Störungen der Beweglichkeit
sind wechselnde und hängen von mehreren Verhältnissen ab.
Zunächst werden die Herren, welche beobachtet haben, wie
sich der Kranke mit beiden Händen auskleidete, wie er mit
den Fingern der linken Hand sein linkes Nasenloch verschloss,
nicht den Eindruck einer schweren Bewegungsstörung be-
kommen haben. Bei näherem Zusehen wird man finden, dass
der linke Arm und besonders die Finger etwas langsamer
und ungeschickter, wie steif, und unter leichtem Zittern be-
wegt werden; es wird aber jede, auch die komplizirteste Bewe-
gung ausgeführt, und so ist es immer, wenn die Aufmerksam-
keit des Kranken vom Bewegungsorgane abgelenkt ist und sich
nur auf das Ziel der Bewegung richtet. Ganz anders, wenn
ich ihm auftrage, einzelne Bewegungen ohne weiteres Ziel mit
seinem linken Arm auszuführen, so z. B. den Arm im Ellbogen-
gelenke zu beugen, während er die Bewegung mit seinen
Augen verfolgt. Dann zeigt sich der linke Arm sehr viel
gehemmter als vorhin, die Bewegung erfolgt sehr langsam,
unvollständig, in einzelnen Absätzen, als ob ein grosser
Widerstand zu überwinden wäre, und unter lebhaftem Tremor.S.
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Die Fingerbewegungen sind unter diesen Verhältnissen ausser-
ordentlich schwach. Eine dritte und stärkste Art der Bewe-
gungsstörung zeigt sich endlich, wenn er einzelne Bewegun-
gen bei geschlossenen Augen ausführen soll. Es erfolgt dann
zwar noch etwas mit dem absolut anästhetischen Gliede,
Sie sehen ja, dass die motorische Innervation unabhängig von
allen sensiblen Nachrichten ist, welche normalerweise von
einem zu bewegenden Gliede einlaufen, aber diese Bewegung
ist minimal, gar nicht auf einen einzelnen Abschnitt gerichtet,
in ihrem Sinne vom Kranken nicht bestimmbar. Nehmen Sie
diese letzte Art der Bewegungsstörung aber nicht für eine
nothwendige Folge der Anästhesie; gerade hierin zeigen sich
weitgehende individuelle Verschiedenheiten. Wir haben in
der Salpětrière anästhetische Kranke beobachtet, welche
sich bei geschlossenen Augen eine viel weiter gehende Herr-
schaft über das dem Bewusstsein verlorene Glied bewahrt
hatten. 1)Derselbe Einfluss der abgelenkten Aufmerksamkeit und
des Hinsehens gilt für das linke Bein. Der Kranke ist heute
wohl eine Stunde lang im raschen Schritt neben mir über
die Strasse gegangen, ohne beim Gehen auf seine Füsse zu
sehen, und ich konnte nur bemerken, daß er das linke Bein
etwas nach auswärts und schleudernd aufsetzte und mit dem
Fusse häufig am Boden schleifte. Heisse ich ihn aber gehen,
so muß er jede Bewegung des anästhetischen Beines mit
den Augen verfolgen, dieselbe fällt langsam und unsicher
aus und ermüdet ihn sehr rasch. Völlig unsicher geht er
endlich mit geschlossenen Augen, er schiebt sich dann mit
beiden Füßen am Boden haftend vorwärts, wie unsereiner
im Dunkeln, wenn er das Terrain nicht kennt. Er hat es auch
sehr schwer, sich auf dem linken Bein stehend zu erhalten;
schliesst er in dieser Stellung die Augen, so fällt er sofort um.Ich will noch das Verhalten der Reflexe beschreiben.
Dieselben sind im allgemeinen lebhafter als normal, übrigens
wenig miteinander übereinstimmend. Die Triceps- und
Flexorenreflexe sind an der rechten, nicht anästhetischen
Extremität entschieden lebhafter, der Patellarreflex scheint
links mehr gesteigert, die Achillessehnenreflexe sind beider-
seits gleich. Man kann auch ein ganz leichtes Fussphänomen
erzeugen, welches rechts deutlicher ausfällt. Die Cremasteren-
1) Vergl. Charcot: Ueber zwei Fälle von hysterischer Monoplegie des
Armes etc. Anhang (S. „Neue Vorlesungen", übersetzt vom Autor. Wien,
Toeplitz und Deuticke, 1886.)S.
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reflexe fehlen, dagegen sind die Bauchreflexe lebhaft, der
linksseitige enorm gesteigert, so dass das leiseste Streichen
über eine Stelle der Bauchhaut eine maximale Kontraktion
des linken Rectus abdominis hervorruft.Wie es dem Bilde einer hysterischen Hemianästhesie
entspricht, zeigt unser Kranker auch spontan und auf Druck
schmerzhafte Stellen auf der sonst unempfindlichen Körper-
seite, sogenannte „hysterogene Zonen", wenn deren Beziehung
zur Hervorrufung der Anfälle auch in diesem Falle nicht
ausgeprägt ist. So ist der N. trigeminus, dessen Endäste,
wie ich Ihnen vorhin zeigte, druckempfindlich sind, Sitz einer
solchen hysterogenen Zone; ferner eine schmale Stelle in der
mittleren linken Halsgrube, ein breiterer Streifen an der
linken Thoraxwand (woselbst auch die Haut noch empfindlich
ist), die Lendenwirbelsäule und der mittlere Theil des Kreuz-
beins (über ersterer ebenfalls Hautempfindlichkeit), endlich
ist der linke Samenstrang sehr schmerzempfindlich, und diese
Zone setzt sich längs des Verlaufes des Samenstranges in die
Bauchhöhle fort, bis zu der Stelle, welche bei Frauen so
häufig der Sitz der „Ovarie" ist.Ich muß noch zwei Bemerkungen hinzufügen, welche
Abweichungen unseres Falles vom typischen Bilde der
hysterischen Hemianästhesie betreffen. Die erste geht dahin,
dass auch die rechte Körperseite des Kranken nicht von
Anästhesien verschont ist, welche aber nicht hochgradig sind
und blos die Haut zu betreffen scheinen. So findet sich eine
Zone von herabgesetzter Schmerzempfindlichkeit (und Tempera-
turgefühl) über der rechten Schulterwölbung, eine andere
geht bandförmig um das periphere Ende des Unterarms; das
rechte Bein ist hypästhetisch an der Aussenseite des
Ober- und an der Rückseite des Unterschenkels.Eine zweite Bemerkung bezieht sich darauf, dass die
Hemianästhesie bei unserem Kranken sehr deutlich den
Charakter der Labilität zeigt. So habe ich bei einer Prü-
fung der elektrischen Empfindlichkeit gegen meine Absicht
ein Stück der Haut am linken Ellbogen empfindlich gemacht,
so zeigte sich bei wiederholten Prüfungen die Ausdehnung
der schmerzhaften Zonen am Rumpfe und die Störungen des
Gesichtssinnes in ihrer Intensität schwankend. Auf diese
Labilität der Empfindungsstörung gründe ich die Hoffnung,
dem Kranken in kurzer Zeit die normale Empfindlichkeit
wiederzugeben.S.
Augenbefund vom Dozenten Dr. L. Königstein.
Es war vorauszusehen, dass, wenn Anästhesie der gan-
zen linken Körperhälfte vorhanden und diese, wie wir eben
gesehen haben, als eine hysterische begründet worden, auch
das auge gewisse ERscheinungen darbieten werde, wie sie
bei der hysterischen Hemianästhesie beobachtet worden, die
nun ihrerseits wieder die Diagnose Hysterie bestätigen.Ich will nun den Befund, wie ich ihn bie zwei ver-
schiedenen Untersuchungen erhalten, vorerst mitteilen und
mit dann erlauben, einige Bemerkungen anzuknüpfen. [...]Vorläufige editorsche Anmerkungen (CD)
»Meynert forderte mich auf, Fälle, wie die von mir geschilderten, doch in Wien aufzusuchen und der Gesellschaft vorzustellen.« Bei der Suche stieß er auf gewisse Schwierigkeiten, die ihm die Primarärzte der Abteilungen des Allgemeinen Krankenhauses bereiteten. Mit Unterstützung eines jungen Laryngologen fand er endlich anderwärts einen geeigneten Fall und präsentierte ihn am 26. November 1886 vor der Gesellschaft der Ärzte. Der Fall wurde von Freud und seinem Freund Dr. Königstein1, dem Augenchirurgen, vorgestellt; Königstein hatte eine Untersuchung der Augensymptome des Patienten vorgenommen. Seine Darstellung wurde eine Woche nach derjenigen Freuds in der Wochenschrift abgedruckt, in der Ausgabe vom 11. Dezember (Sp. 1674-76). Freud berichtet uns, die nachfolgende Arbeit habe eine bessere Aufnahme gefunden als ihre Vorgängerin, jedoch kein größeres Interesse zu wecken vermocht. »Der Eindruck, daß die großen Autoritäten meine Neuigkeiten abgelehnt hätten, blieb unerschüttert; […]« (1925d; G. W., Bd. 14, S. 39).
Leopold Königstein (1850-1924), Professor der Augenheilkunde in Wien.
Siehe dazu auch:
Freud schrieb seine Studie ›Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung‹ (1910i) als Beitrag zu einer Festschrift für Königstein.S.
S.
S.
S.
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oV2 Box 28/6
Mit dem Obertitel ›Beiträge zur Kasuistik der Hysterie. Von Dr. Sigm. Freud, Dozenten für Nervenkrankheiten in Wien. I‹ wird eine Reihe angekündigt, die aber keine Forsetzung finden wird. Auch die Ankündigung am Ende des Textes ›Schluss folgt‹ wird nicht wahr gemacht.
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