Brief an Dr. Friedrich S. Krauss über die Anthropophyteia 1910-071/1928
  • S.

    BRIEF AN DR. FRIEDRICH S. KRAUSS
    ÜBER DIE ANTHROPOPHYTEIA

    Dieser Brief vom 26. Juni 1910 wurde im
    VII. Band der von Friedrich S. Krauß heraus-
    gegebenen „Anthrophophyteia, Jahrbücher für
    folkloristische Erhebungen und Forschungen
    zur Entwicklungsgeschichte der geschlecht-
    lichen Moral“ (S. 473 f.) veröffentlicht.

    Hochgeehrter Herr Doktor!

    Sie haben mir die Frage gestellt, auf welchen wissenschaftlichen Wert
    das Sammeln von erotischen Scherzen, Witzen, Schwänken u. dgl. nach
    meiner Meinung Anspruch machen könne. Ich weiß, daß Sie Keineswegs
    daran irre geworden sind, eine solche Sammeltätigkeit rechtfertigen zu
    können; Sie wünschen bloß, daß ich vom Standpunkte des Psychologen
    Zeugnis ablege für die Brauchbarkeit, ja für die Unentbehrlichkeit eines
    solchen Materials.

    Ich möchte hier vor allem zwei Gesichtspunkte geltend machen. Die
    erotischen Schnurren und Schwänke, die Sie in den Bänden der Anthro-
    pophyteia gesammelt vorlegen, sind ja doch nur produziert und weiter
    erzählt worden, weil Sie Erzählern wie Hörern Lust bereitet haben. Es ist
    nicht schwer zu erraten, welche Komponenten des so hoch zusammengesetzten
    Sexualtriebes dabei Befriedigung gefunden haben. Diese Geschichten
    geben uns direkte Auskunft darüber, welche Partialtriebe der Sexualität
    bei einer gewissen Gruppe von Menschen als besonders tauglich zur Lust-
    gewinnung erhalten sind, und bestätigen so auf schönste die Folgerungen,
    zu denen die psychoanalytische Untersuchung neurotischer Personen geführt
    hat. Gestatten Sie mir, auf das wichtigste Beispiel dieser Art hinzuweisen.
    Die Psychoanalyse hat uns zur Behauptung genötigt, daß die Afterregion –
    normalerweise und auch bei nicht perversen Individuen – der Sitz einer

  • S.

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    Geleitworte zu Büchern anderer Autoren

    erogenen Empfindlichkeit ist und sich in gewissen Stücken ganz wie ein
    Genitale benimmt. Ärzte und Psychologen, denen man von einer Analerotik
    und dem daraus entspringenden Analcharakter sprach, sind darüber in hellste
    Entrüstung geraten. Die Anthrophophyteia kommt hier der Psychoanalyse
    zu Hilfe, indem sie zeigt, wie ganz allgemein die Menschen mit Lustbetonung
    bei dieser Körperregion, ihren Verrichtungen, ja dem Produkt ihrer Funktion
    verweilen. Wäre es anders, so müßten alle diese Geschichten bei denen,
    die sie anhören, Ekel erregen, oder das Volk müßte in seiner ganzen Masse
    pervers“ sein im Sinne einer moralisierenden Psychopathia sexualis. Es
    würde nicht schwer fallen, auch an anderen Beispielen zu zeigen, wie wertvoll
    das von den Autoren der Anthrophophyteia gesammelte Material für die
    sexualpsychologische Erkenntnis ist. Vielleicht wird dessen Wert noch durch
    den Umstand erhöht, – der an und für sich keinen Vorteil darstellt, –
    daß die Sammler von den theoretischen Ergebnissen der Psychoanalyse nichts
    wissen und das Material ohne leitende Gesichtspunkte zusammentragen.

    Ein anderer psychologischer Gewinn von mehr allgemeiner Natur ergibt
    sich ganz speziell aus den eigentlichen erotischen Witzen, wie aus den
    Witzen überhaupt. Ich habe in meiner Studie über den Witz ausgeführt,
    daß die Aufdeckung des sonst verdrängten Unbewußten in der Menschen-
    seele unter gewissen Veranstaltungen zu einer Quelle von Lust und somit
    zu einer Technik der Witzbildung werden kann. Wir heißen heute in der
    Psychoanalyse ein Gewirr von Vorstellungen mit dem daranhängenden
    Affekt einen „Komplex“ und sind bereit zu behaupten, daß viele der
    geschicktesten Witze „Komplexwitze“ sind, auch ihre befreiende und
    erheiternde Wirkung der geschickten Bloßlegung von sonst verdrängten
    Komplexen verdanken. Der Erweis dieses Satzes an Beispielen würde an
    dieser Stelle zu weit führen, aber als das Ergebnis einer solchen Unter-
    suchung darf man es aussprechen, daß die erotischen und anderen Witze,
    die im Volke umlaufen, vortreffliche Hilfsmittel zur Erforschung des un-
    bewußten Seelenlebens der Menschen darstellen, ganz ähnlich wie die Träume
    und die Mythen und Sagen, mit deren Verwertung sich die Psychoanalyse
    schon jetzt beschäftigt.

    So darf man sich also der Hoffnung hingeben, daß der Wert des Folklore
    für die Psyche immer deutlicher erkannt und die Beziehungen zwischen
    dieser Forschung und der Psychoanalyse sich bald inniger gestalten werden.
    Ich bin, geehrter Herr Doktor, Ihr in besonderer Hochachtung ergebener

    Freud.

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