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DAS OKONOMISCHE PROBLEM DES
MASOCHISMUSZuerst erschienen in der „Internationalen
Zeitschrift für Psychoanalyse“, X. Bd., 1924.Man hat ein Recht dazu, die Existenz der masochistischen
Strebung im menschlichen Triebleben als ökonomisch rätsel-
haft zu bezeichnen. Denn, wenn das Lustprinzip die seelischen
Vorgänge in solcher Weise beherrscht, daß Vermeidung von
Unlust und Gewinnung von Lust deren nächstes Ziel wird,
so ist der Masochismus unverständlich. Wenn Schmerz und
Unlust nicht mehr Warnungen, sondern selbst Ziele sein
können, ist das Lustprinzip lahmgelegt, der Wächter unseres
Seelenlebens gleichsam narkotisiert.Der Masochismus erscheint uns so im Lichte einer groBen
Gefahr, was fiir seinen Widerpart, den Sadismus, in keiner
Weise gilt. Wir fühlen. uns versucht, das Lustprinzip den
Wächter unseres Lebens anstatt. nur unseres Seelenlebens zu
heißen. Aber dann stellt sich die Aufgabe her, das Verhältnis
des Lustprinzips zu den beiden Triebarten, die. wir-unter-
schieden haben, den Todestrieben und den erotischen (libidinäsen)
Lebenstrieben zu untersuchen, und wir können ‚in - der
Würdigung des masochistischen Problems nicht weitergehen,
ehe wir nicht diesem Rufe gefolgt sind.107
S.
148 Sigm. Freud
Wir haben, wie erinnerlich, das Prinzip, welches alle
seelischen Vorgänge beherrscht, als Spezialfall der Fech ner-
schen Tendenz zur Stabilität aufgefaBt und somit dem
seelischen Apparat die Absicht zugeschrieben, die ihm zu-
strömende Erregungssumme zu nichts zu machen oder
wenigstens nach Möglichkeit niedrig zu halten. Barbara
Low hat für dies supponierte Bestreben den Namen
Nirwanaprinzip vorgeschlagen, den wir akzeptieren.
Aber wir haben das Lust-Unlustprinzip unbedenklich mit
diesem Nirwanaprinzip identifiziert. Jede Unlust müßte also
mit einer Erhöhung, jede Lust mit einer Erniedrigung
der im Seelischen vorhandenen Reizspannung zusammen-
fallen, das Nirwana- (und das mit ihm angeblich identische
Lust-)prinzip würde ganz im Dienst der Todestriebe stehen,
deren Ziel die Überführung des unsteten Lebens in die
Stabilität des anorganischen‘ Zustandes ist, und würde die
Funktion haben, vor den Anspriichen der Lebenstriebe, der
Libido, zu warnen, welche den angestrebten Ablauf des
Lebens zu stören versuchen. Allein diese Auffassung kann
nicht richtig sein. Es scheint, daB wir Zunahme und Abnahme
der ReizgróBen direkt in der Reihe der Spannungsgefühle
empfinden, und es ist nicht zu bezweifeln, daB es lustvolle
Spannungen und unlustige Entspannungen gibt. Der Zustand
der Sexualerregung ist das aufdringlichste Beispiel einer
solchen lustvollen ReizvergråBerung, aber gewiß nicht das
einzige. Lust und Unlust kénnen also nicht auf Zunahme
oder Abnahme einer Quantität, die wir Reizspannung heißen,
bezogen werden, wenngleich sie offenbar mit diesem Moment1) Jenseits des Lustprinzips, I.
S.
Das ökonomische Problem des Masochismus 149
viel zu tun haben. Es scheint, daß sie nicht an diesem
quantitativen Faktor hängen, sondern an einem Charakter
desselben, den wir nur als qualitativ bezeichnen können. Wir
wären viel weiter in der Psychologie, wenn wir anzugeben
wüßten, welches dieser qualitative Charakter ist. Vielleicht
ist es der Rhythmus, der zeitliche Ablauf in den Verände-
rungen, Steigerungen und Senkungen der Reizquantität; wir
wissen es nicht.Auf jeden Fall müssen wir inne werden, daß das dem
Todestrieb zugehörige Nirwanaprinzip im Lebewesen eine
Modifikation erfahren hat, durch die es zum Lustprinzip wurde,
und werden es von nun an vermeiden, die beiden Prinzipien
für eines zu halten. Von welcher Macht diese Modifikation
ausging, ist, wenn man dieser Uberlegung überhaupt folgen
will, nicht schwer zu ‚erraten. Es kann nur der Lebenstrieb,
die Libido, sein, der sich in solcher Weise seinen Anteil an
der Regulierung der Lebensvorginge neben dem Todestrieb
erzwungen hat. Wir erhalten so eine kleine, aber interessante
Beziehungsreihe: das Nirwana prinzip drückt die Tendenz
des Todestriebes aus, das Lust prinzip vertritt den Anspruch
der Libido und dessen Modifikation, das Realitätsprinzip,
den Einfluß der Außenwelt.Keines dieser drei Prinzipien wird eigentlich vom anderen
auBer Kraft gesetzt. Sie wissen sich in der Regel miteinander
zu vertragen, wenngleich es gelegentlich zu Konflikten führen
muß, daß von einer Seite die quantitative Herabminderung
der Reizbelastung, von der anderen ein qualitativer Charakter
derselben, und endlich ein zeitlicher Aufschub der Reizabfuhr
und ein zeitweiliges Gewährenlassen der Unlustspannung zum
Ziel gesetzt ist.S.
150 . CO Sigm. Freud
· Der SchluB aus diesen Erčrterungen ist, daß die Bezeichnung
des Lustprinzips als Wächter des Lebens: nicht abgelehnt
werden kann. ・ ++ 7 1 -· Kehren: wir zum «Masochismus' zurück. .Er- tritt unserer
Beobachtung in. drei Gestalten entgegen; als eine: Bedingtheit
der.Sexüalerregung, als ein Ausdruck des :femininen Wesens
und als: eine Norm ‘des. Lebensverhaltens (behaviour). Man
kann dementsprechend einen erogenen, femininen und
moralisc hen Masochismus unterscheiden. Der erstere, der
erogene Masochismus, die Schmerzlust, liegt auch den beiden
anderen Formen zugrunde; er ist biologisch und konstitutionell
zu begriinden, bleibt unverståndlich, wenn man sich nicht zu
einigen: Annahmen über ganz dunkle Verhältnisse entschließt.
Die dritte; in gewisser Hinsicht wichtigste Erscheinungsform
des. Masochismus, ist als meist unbewuBtes Schuldgefühl erst
neuerlich von der Psychoanalyse gewürdigt worden, läßt aber
bereits eine volle Aufklärung ‚und Einreihung in unsere
sonstige Erkenntnis zu. Der feminine Masochismus dagegen
ist unserer Beobachtung am besten zugänglich, am wenigsten
råtselhaft und in all seinen Beziehungen zu übersehen. Mit
ihm mag unsere Darstellung beginnen.Wir kennen diese Art des Masochismus beim Manne (auf
den ich mich aus Gründen des Materials hier beschränke) in
zureichender Weise aus den Phantasien masochistischer (häufig
darum impotenter) Personen, die entweder in den onanistischen
Akt auslaufen ‚oder für sich allein die Sexualbefriedigung
darstellen. Mit den Phantasien stimmen ‚vollkommen überein
die realen Veranstaltungen masochistischer Perverser, sei es,
daß sie als Selbstzweck durchgeführt werden oder zur Her-
stellung der Potenz und Einleitung des Geschlechtsakts dienen.S.
Das ökonomische. Problem: des Masochismus 151
In beiden Fallen = die Veranstaltungen sind ja nur die
spielerische Ausführung der Phantasien — ist der manifeste
Inhalt: geknebelt; gebunden, in schmerzhafter Weise geschlagen,
gepeitscht, irgendwie miBhandelt, zum unbedingten Gehorsam
gezwungen, beschmutzt, erniedrigt zu werden: Weit seltener
und nur mit‘ großen Einschränkungen werden auch Ver-
stimmelungen in diesen Inhalt aufgenommen. - Die nächste,
bequem zu erreichende Deutung ist, daß der Masochist wie
ein kleines, hilfloses und abhängiges Kind behandelt werden
will, besonders aber wie ein schlimmes Kind; Es ist überflüssig;
Kasuistik anzuführen, das Material ist sehr gleichartig; jedem
Beobachter, auch dem Nichtanalytiker, zugänglich. Hat man
aber Gelegenheit, Fille zu studieren, in denen: die maso-
chistischen Phantasien eine besonders reiche Verarbeitung
erfahren haben, so macht man leicht die Entdeckung, daB
sie: die Person in eine für die Weiblichkeit charakteristische
Situation versetzen, also Kastriertwerden, Koitiertwerden oder
Gebüren bedeuten. Ich habe darum diese Erscheinungsform
des-Masochismus den femininen, gleichsam a potiori, genannt,
obwohl so viele seiner Elemente auf das Infantilleben hin-
weisen. Diese Übereinanderschichtung des Infantilen und des
Femininen wird später ihre einfache. Erklärung finden. Die
Kastration oder die sie vertretende Blendung hat oft in den
Phantasien ihre negative Spur in der Bedingung hinterlassen,
daß. gerade den Genitalien oder den Augen kein Schaden
geschehen darf. (Die masochistischen Quilereien machen
übrigens selten einen so ernsthaften Eindruck wie die —
phantasierten oder inszenierten — Grausamkeiten des Sadismus.)
Im manifesten Inhalt der masochistischen Phantasien kommt
auch ein Schuldgefühl zum Ausdruck, indem angenommenS.
152 Sigm. Freud
wird, daB die betreffende Person etwas verbrochen habe (was
unbestimmt gelassen wird), was durch alle die schmerzhaften
und quilerischen Prozeduren gesühnt werden soll. Das sieht
wie eine oberflichliche Rationalisierung der masochistischen
Inhalte aus, es steckt aber die Beziehung zur infantilen
Masturbation dahinter. Anderseits leitet dieses Schuldmoment
zur dritten, moralischen Form des Masochismus über.Der beschriebene feminine Masochismus ruht ganz auf dem
primären, erogenen, der Schmerzlust, deren Erklärung nicht
ohne weit riickgreifende Erwägungen gelingt.Ich habe in den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie®
im Abschnitt über die Quellen der infantilen Sexualität die
Behauptung aufgestellt, daß die Sexualerregung als Neben-
wirkung bei einer großen Reihe innerer Vorgänge entsteht,
sobald die Intensität dieser Vorgänge nur gewisse quantitative
Grenzen überstiegen hat. Ja, daß vielleicht nichts Bedeut-
sameres im Organismus vorfällt, was nicht seine Komponente
zur Erregung des Sexualtriebs abzugeben hätte. Demnach
müßte auch die Schmerz- und Unlusterregung diese Folge
haben. Diese libidinöse Miterregung bei Schmerz- und Unlust-
spannung wäre ein infantiler physiologischer Mechanismus,
der spåterhin versiegt. Sie würde in den verschiedenen
Sexualkonstitutionen eine verschieden große Ausbildung
erfahren, jedenfalls die physiologische Grundlage abgeben, die
dann als erogener Masochismus psychisch überbaut wird.Die Unzulänglichkeit dieser Erklärung zeigt sich aber
darin, daß in ihr kein Licht auf die regelmäßigen und
intimen Beziehungen des Masochismus zu seinem Widerpart
im Triebleben, dem Sadismus, geworfen wird. Geht man
ein Stück. weiter zurück bis zur Annahme der zwei Trieb-S.
Das ökonomische Problem des Masochismus 153
arten, die wir uns im Lebewesen wirksam denken, so kommt
man zu einer anderen, aber der obigen nicht widersprechenden
Ableitung. Die Libido trifft in (vielzelligen) Lebewesen auf
den dort herschenden Todes- oder Destruktionstrieb, welcher
dies Zellenwesen zersetzen und jeden einzelnen Elementar-
organismus in den Zustand der anorganischen Stabilität (wenn
diese auch nur relativ sein mag) überführen möchte. Sie
hat die Aufgabe, diesen destruierenden Trieb unschädlich zu
machen, und entledigt sich ihrer, indem sie ihn zum groBen
Teil und bald mit Hilfe eines besonderen Organsystems, der
Muskulatur, nach auBen ableitet, gegen die Objekte der AuBen-
welt richtet. Er. heiße dann Destruktionstrieb, Bemåchtigungs-
trieb, Wille zur Macht. Ein Anteil dieses Triebes wird direkt
in den Dienst der Sexualfunktion gestellt, wo er Wichtiges
zu leisten hat. Dies ist der eigentliche Sadismus. Ein anderer
Anteil macht diese Verlegung nach auBen nicht mit, er ver-
bleibt im Organismus und wird dort mit Hilfe der erwühnten
sexuellen Miterregung libidinós gebunden; in ihm haben
wir den ursprünglichen, erogenen Masochismus zu erkennen.Es fehlt uns jedes physiologische Verstündnis dafür, auf
welchen Wegen und mit welchen Mitteln sich diese Bän-
digung des Todestriebes durch die Libido vollziehen mag. Im
psychoanalytischen Gedankenkreis kónnen wir nur annehmen,
daß eine sehr ausgiebige, in ihren Verhältnissen variable
Vermischung und Verquickung der beiden Triebarten zustande
kommt, so daB wir überhaupt nicht mit reinen Todes- und
Lebenstrieben, sondern nur mit verschiedenwertigen Vermen-
gungen derselben rechnen sollten. Der Triebvermischung mag
unter gewissen Einwirkungen eine Entmischung derselben
entsprechen. Wie groß die Anteile der Todestriebe sind,S.
154 sw Sigm. Freud
welche sich solcher‘ Bändigung durch die Bindung an libi-
dinóse Zusätze: entziehen, läBt sich derzeit nicht ‚erraten.: Wenn man sich über einige Ungenauigkeit hinaussetzen
will, kann man sagen, der im Organismus wirkende Todestrieb
— der Ursadismus — sei mit dem Masochismus identisch.
Nachdem sein Hauptanteil nach außen auf die Objekte ver-
legt worden: ist, verbleibt als sein Residuum im Inneren der
eigentliche erogene Masochismus, der einerseits eine Kom-
ponente der Libido geworden ist, andererseits noch immer
das eigene Wesen zum Objekt hat. So wire dieser Maso-
chismus ein Zeuge und Uberrest jener Bildungsphase, in der
die får das Leben so wichtige Legierung von Todestrieb und
Eros geschah. Wir werden nicht erstaunt sein zu håren, daB
unter bestimmten Verhåltnissen der nach auBen gewendete,
projizierte, Sadismus oder Destruktionstrieb wieder introji-
ziert, nach innen gewendet werden kann, solcherart in seine
frithere Situation regrediert. Er ergibt dann den sekundåren
Masochismus, der sich zum urspriinglichen hinzuaddiert.Der erogene Masochismus macht alle Entwicklungsphasen
der Libido mit und entnimmt ihnen seine wechselnden
psychischen‘ Umkleidungen. Die Angst, vom Totemtier(Vater) gefressen zu werden, stammt aus der primitiven
oralen Organisation, der Wunsch, vom Vater geschlagen zu
werden, aus der darauffolgenden sadistisch-analen Phase; als
Niederschlag der phallischen Organisationsstufe' tritt die Kastra-
tion, obwohl spåter verleugnet, in den Inhalt der masochistischen
Phantasien ein, von der endgültigen Genitalorganisation
leiten sich natürlich die fiir die Weiblichkeit charakteristi-
schen Situationen des Koitiertwerdens und des Gebårens ab.1) S. Die infantile Genitalorganisation [Ces. Schriften, Bd. V, S 232].
S.
Das ökonomische. Problem.des Masochismus 155
Auch die Rolle der Nates: im Masochismus ‘ist, abgesehen
von der offenkundigen Realbegründung, leicht zu. verstehen.
Die Nates sind die erogen bevorzugte Kórperpartie der
sadistisch-analen Phase wie die Mamma der oralen; der
Penis der genitalen.Die dritte Form des Masochismus, der moralische Maso-
chismus ist vor allem dadurch bemerkenswert, daB sie ihre
Beziehung zu dem, was wir als Sexualität erkennen, gelockert
hat. An allen masochistischen Leiden. haftet sonst die
Bedingung, daß sie von der geliebten Person ausgehen; auf
ihr Geheiß erduldet werden; diese Einschränkung ist beim
moralischen Masochismus fallen gelassen. Das Leiden selbst
ist das, worauf es ankommt; ob es von einer geliebten oder
gleichgiiltigen Person verhingt wird, spielt keine Rolle; es
mag auch von unpersónlichen Mächten oder Verhältnissen
verursacht sein, der richtige Masochist ‚hält immer seine
Wange. hin, wo er Aussicht hat, einen Schlag zu bekommen.
Es liegt sehr nahe, in der Erklärung dieses Verhaltens die
Libido bei Seite zu lassen und sich auf die Annahme zu
beschränken, daß hier der Destruktionstrieb wieder nach
innen gewendet wurde und nun gegen das eigene Selbst
wiitet, aber es sollte doch einen Sinn haben, daB der Sprach-
gebrauch die Beziehung dieser Norm des Lebensverhaltens
zur Erotik nicht aufgegeben hat und auch solche Selbst-
beschädiger Masochisten heißt. -Einer technischen Gewöhnung getreu wollen wir uns
zuerst‘ mit der extremen, unzweifelhaft pathologischen Form
dieses Masochismus beschäftigen. Ich habe an anderer Stelle!1) Das Ich und das Es.
S.
156 · Sigm. Freud
ausgefåhrt, daB wir in der analytischen Behandlung auf
Patienten stoBen, deren Benehmen gegen die Einfliisse der
Kur uns nétigt, ihnen ein „unbewußtes“ Schuldgefühl
zuzuschreiben. Ich habe dort angegeben, woran man diese
Personen erkennt („die negative therapeutische Reaktion“),
und auch nicht verhehlt, daB die Stärke einer solchen
Regung einen der schwersten Widerstände und die größte
Gefahr für den Erfolg unserer ärztlichen oder erzieherischen
Absichten bedeutet. Die Befriedigung dieses unbewuBten
Schuldgefühls ist der vielleicht måchtigste Posten des in der
Regel zusammengesetzten Krankheitsgewinnes, der Krifte-
summe, welche sich gegen die Genesung strüubt und das
Kranksein nicht aufgeben will; das Leiden, das die Neurose
mit sich bringt, ist gerade das Moment, durch das sie der
masochistischen Tendenz wertvoll wird. Es ist auch lehr-
reich zu erfahren, daB gegen alle Theorie und Erwartung
eine Neurose, die allen therapeutischen Bemühungen getrotzt
hat, verschwinden kann, wenn die Person in das Elend einer
unglücklichen Ehe geraten ist, ihr Vermógen verloren oder
eine bedrohliche organische Erkrankung erworben hat. Eine
Form des Leidens ist dann durch eine andere abgelöst
worden und wir sehen, es kam nur darauf an, ein gewisses
MaB von Leiden festhalten zu kónnen.Das unbewuBte Schuldgefühl wird uns von den Patienten
nicht leicht geglaubt. Sie wissen zu gut, in welchen Qualen
(Gewissensbissen) sich ein bewuBtes ' Schuldgefåhl, Schuld-
bewuBtsein, äußert, und kónnen darum nicht zugeben, daß
sie ganz analoge Regungen in sich beherbergen sollten, von
denen sie so gar nichts verspüren. Ich meine, wir tragen
ihrem Einspruch in gewissem Maße Rechnung, wenn wirS.
Das ökonomische Problem des Masochismus 157
auf die ohnehin ‘psychologisch inkorrekte Benennung „un-
bewußtes Schuldgefühl“ verzichten und dafür „Strafbedirfnis”
sagen, womit wir den beobachteten Sachverhalt ebenso treffend
decken. Wir können uns aber nicht abhalten lassen, dies
unbewußte Schuldgefithl nach dem Muster des bewußten zu
beurteilen und zu lokalisieren.Wir haben dem Uber-Ich die Funktion des Gewissens
zugeschrieben und im SchuldbewuBtsein den Ausdruck einer
Spannung zwischen Ich und Über-Ich erkannt. Das Ich
reagiert mit Angstgefühlen (Gewissensangst) auf die Wahr-
nehmung, daB es hinter den von seinem Ideal, dem Über-
Ich, gestellten Anforderungen zurückgeblieben ist. Nun
verlangen wir zu wissen, wie das Über-Ich zu dieser
anspruchsvollen Rolle gekommen ist, und warum das Ich
im Falle einer Differenz mit seinem Ideal sich fürchten
muß.Wenn wir gesagt haben, das Ich finde seine Funktion
darin, die Ansprüche der drei Instanzen, denen es dient,
miteinander zu vereinbaren, sie zu versöhnen, so können wir
hinzufügen, es hat auch dabei sein Vorbild, dem es nach-
streben kann, im Uber-Ich. Dies Uber-Ich ist nämlich ebenso
sehr der Vertreter des Es wie der Außenwelt. Es ist dadurch
entstanden, daß die ersten Objekte der libidinösen Regungen
des Es, das Elternpaar, ins Ich introjiziert wurden, wobei
die Beziehung zu ihnen desexualisiert wurde, eine Ablenkung
von den direkten Sexualzielen erfuhr. Auf diese Art wurde
erst die Überwindung des Ödipuskomplexes ermöglicht. Das
Über-Ich behielt nun wesentliche Charaktere der intro-
jizierten Personen bei, ihre Macht, Strenge, Neigung zur
Beaufsichtigung und Bestrafung. Wie an anderer Stelle aus-S.
158 « Sign. Freud
geführt, ist es leicht denkbar, daB durch die Trieb-
entmischung, welche mit einer solchen Einfithrung ins Ich
‚einhergeht, die Strenge eine Steigerung érfuhr. Das Über-
Ich, das in ihm wirksame Gewissen, kann nun hart, grausam,
unerbittlich gegen das von ihm behiitete Ich werden. Der
kategorische Imperativ Kants ist so der direkte Erbe des
Odipuskomplexes. ⑥Die nämlichen Personen aber, welche im Uber-Ich als
Gewissensinstanz weiterwirken, nachdem sie aufgehört haben,
Objekte der libidinôsen Regungen des Es zu sein, gehören
anderseits auch der realen Außenwelt an. Dieser sind sie ent-
nommen worden; ihre Macht, hinter der sich alle Einflüsse
der Vergangenheit und Überlieferung verbergen, war eine
der fühlbarsten Äußerungen der Realität. Dank diesem
Zusammenfallen wird das Uber-Ich, der Ersatz des Ödipus-
komplexes, auch zum Repräsentanten der realen Außenwelt
und so zum Vorbild. für das Streben des Ichs.Der Ödipuskomplex erweist sich so, wie bereits historisch
gemutmaßt wurde,” als die Quelle unserer individuellen
Sittlichkeit (Moral). Im Laufe der Kindheitsentwicklung,
welche zur ‚fortschreitenden Loslösung von den Eltern führt,
tritt deren persGnliche Bedeutung für das Über-Ich zurück.
An die von ihnen erübrigten Imagines schließen dann die
Einflüsse von: Lehrern, Autoritäten, selbstgewählten Vor-
bildern und sozial anerkannten Helden an, deren Personen
von dem resistenter gewordenen Ich nicht mehr introjiziert
zu werden brauchen. Die letzte Gestalt dieser mit den Eltern1) Das Ich und das Es.
2) Totem und Tabu, Abschnitt IV.S.
Das ökonomische Problem. des Masochismus 159
beginnenden Reihe ist die dunkle Macht: des Schicksals,
welches erst die wenigsten von uns. unpersónlich zu erfassen
vermögen: Wenn der holländische Dichter Multatuli' die
Моро der Griechen durch das Gotterpaar Лбуос xal ’Avdyın
ersetzt, so ist dagegen wenig einzuwenden; aber alle, die die
Leitung des Weltgeschehens der Vorsehung, Gott oder Gott
und der Natur übertragen, ‚erwecken den Verdacht, daß sie
diese äußersten und fernsten Gewalten immer noch wie ein
Elternpaar — mythologisch — empfinden und sich mit
ihnen durch libidinóse Bindungen verknüpft glauben. Ich
habe im „Ich und Es“ den Versuch gemacht, auch die reale
Todesangst der Menschen von einer solchen elterlichen Auf-
fassung des Schicksals abzuleiten. Es scheint sehr schwer, sich
von ihr frei zu machen.Nach diesen Vorbereitungen kännen.: wir zur Würdigung
des moralischen Masochismus zurückkehren. Wir sagten, die
betreffenden Personen erwecken durch ihr Benehmen —- in
der Kur und im Leben — den Eindruck, als seien sie über-
mäßig moralisch gehemmt, stinden unter der Herrschaft
eines besonders empfindlichen Gewissens, obwohl ihnen: von
solcher Übermoral nichts bewuBt ist. Bei nüherem Eingehen
bemerken wir wohl den Unterschied, der eine ‘solche
unbewufte Fortsetzung der Moral: vom moralischen Maso-
chismus trennt. Bei der ersteren fällt der Akzent auf den
gesteigerten Sadismus des Über-Ichs, dem das Ich sich unter-
wirft, beim letzteren hingegen auf den eigenen Masochismus
des Ichs, der nach Strafe, sei es vom Uber-Ich, sei es von
den Elternmüchten draußen, verlangt. Unsere ‚anfängliche
Verwechslung darf entschuldigt werden, denn beide Male1) Ed. Douwes Dekker (1820—1887).
S.
160 Sigm. Freud
handelt es sich um eine Relation zwischen dem Ich und
dem Über-Ich oder ihm gleichstehenden Mächten; in beiden
Fällen kommt es auf ein Bedürfnis hinaus, das durch Strafe
und Leiden befriedigt wird. Es ist dann ein kaum gleich-
gültiger Nebenumstand, daß der Sadismus des Uber-Ichs
meist grell bewußt wird, während das masochistische Streben
des Ichs in der Regel der Person verborgen bleibt und aus
ihrem Verhalten erschlossen werden muß.Die UnbewuBtheit des moralischen Masochismus leitet
uns auf eine naheliegende Spur. Wir konnten den Ausdruck
„unbewuBtes Schuldgefühl* übersetzen als Strafbedürfuis von
seiten einer elterlichen Macht. Nun wissen wir, daB der in
Phantasien‘ so häufige Wunsch, vom Vater geschlagen zu
werden, dem anderen sehr nahe steht, in passive (feminine)
sexuelle Beziehung zu ihm zu treten, und nur eine regressive
Entstellung | desselben ist. Setzen. wir diese Aufklärung in
den Inhalt des moralischen Masochismus ein, so wird dessen
geheimer Sinn uns offenbar. Gewissen und Moral sind durch
die Überwindung, Desexualisierung, des Odipuskomplexes
entstanden; durch den moralischen Masochismus wird die
Moral wieder sexualisiert, der Odipuskomplex neu belebt,
eine Regression von der Moral zum Odipuskomplex angebahnt.
Dies geschieht weder zum Vorteil der Moral noch des
Individuums. Der Einzelne kann zwar neben seinem Maso-
chismus sein volles oder ein gewisses MaB von Sittlichkeit
bewahrt haben, es kann aber auch ein gutes Stück seines
Gewissens an den Masochismus verloren gegangen sein.
Andererseits schafft der Masochismus die Versuchung zum
»stindhaften% Tun, welches dann durch die Vorwürfe des
sadistischen Gewissens (wie bei so vielen russischen Charakter-S.
Das ökonomische Problem des Masochismus 161
typen) oder durch die Züchtigung der groBen Elternmacht
des Schicksals gesühnt werden. muß. Um die Bestrafung
durch diese letzte Elternvertretung zu provozieren, muß der
Masochist das UnzweckmäBige tun, gegen seinen eigenen
Vorteil arbeiten, die Aussichten zerstören, die sich ihm in
der realen Welt eröffnen, und eventuell seine eigene reale
Existenz vernichten.Die Riickwendung des Sadismus gegen die eigene Person
ereignet sich regelmäßig bei der kulturellen Trieb-
unterdrückung, welche einen großen Teil der destruktiven
Triebkomponenten der Person von der Verwendung im
Leben abhålt. Man kann sich vorstellen, 080 dieser zuriick-
getretene Anteil des Destruktionstriebes als eine Steigerung
des Masochismus im Ich zum Vorschein kommt. Die Phånomene
des Gewissens lassen aber erraten, daß die von der AuBen-
welt wiederkehrende Destruktion auch ohne solche Ver-
wandlung vom Uber-lch aufgenommen wird und dessen
Sadismus gegen das Ich erhöht. Der Sadismus des Uber-Ichs
und der Masochismus des Ichs ergånzen einander und
vereinigen sich zur Hervorrufung derselben Folgen. Ich meine,
nur so kann man verstehen, daB aus der Triebunterdriickung
— häufig oder ganz allgemein — ein Schuldgefiihl resultiert,
und daB das Gewissen um so strenger und empfindlicher
wird, je mehr sich die Person der Aggression gegen andere
enthält. Man könnte erwarten, daß ein Individuum, welches
von sich weiß, daß es kulturell unerwünschte Aggressionen
zu vermeiden pflegt, darum ein gutes Gewissen hat und sein
Ich minder mißtrauisch überwacht. Man stellt es gewöhnlich
so dar, als sei die sittliche Anforderung das Primäre und der
Triebverzicht ihre Folge. Dabei bleibt die Herkunft der Sitt-Freud, Studien zur Psychoanalyse. 11
S.
162 Sigm. Freud
lichkeit unerklårt. In Wirklichkeit scheint es umgekehrt zu-
zugehen; der erste Triebverzicht ist ein durch äußere
Mächte erzwungener und er schafft erst die Sittlichkeit,
die sich im Gewissen ausdrückt und weiteren Triebverzicht
fordert.So wird der moralische Masochismus zum klassischen
Zeugen fiir die Existenz der Triebvermischung. Seine Gefähr-
lichkeit rührt daher, daß er vom Todestrieb abstammt, jenem
Anteil desselben entspricht, welcher der Auswärtswendung
als Destruktionstrieb entging. Aber da er andererseits die
Bedeutung einer erotischen Komponente hat, kann auch die
Selbstzerstörung der Person nicht ohne libidinöse Befriedigung
erfolgen.
freud-1926-studien
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