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Der Dichter und das Phantasieren ”.Uns Laien hat es immer mächtig gereizt, zu wissen, wo-
her diese merkwürdige Persönlichkeit, der Dichter, seine Stoffe
nimmt — etwa im Sinne der Frage, die jener Kardinal an
den Ariosto richtete —, und wie er es zustande bringt, uns
mit ihnen so zu ergreifen, Erregungen in uns hervorzurufen,
deren wir uns vielleicht nicht einmal fiir fähig gehalten hätten.
Unser Interesse hierfür wird nur gesteigert durch den Umstand,
daß der Dichter selbst, wenn wir ihn befragen, uns keine oder
keine befriedigende Auskunft gibt, und wird gar nicht gestort
durch unser Wissen, daß die beste Einsicht in die Bedingungen
der dichterischen Stoffwahl und in das Wesen der poetischen
Gestaltungskunst nichts dazu beitragen wiirde, uns selbst zu
Dichtern zu machen.Wenn wir wenigstens bei uns oder bei unsergleichen eine
dem Dichten irgendwie verwandte Tätigkeit auffinden könnten!
Die Untersuchung derselben ließe uns hoffen, eine erste Auf-
klärung über das Schaffen des Dichters zu gewinnen. Und
wirklich, dafür ist Aussicht vorhanden; — die Dichter selbst
lieben es ja, den Abstand zwischen ihrer Eigenart und allgemein
menschlichem Wesen zu verringern; sie versichern uns so häufig,
daß in jedem Menschen ein Dichter stecke, und daß der letzte
Dichter erst mit dem letzten Menschen sterben werde.Sollten wir die ersten Spuren dichterischer Betätigung
nicht schon beim Kinde suchen? Die liebste und intensivste
Beschäftigung des Kindes ist das Spiel. Vielleicht dürfen wir3) Aus „Neue Revue“, I. Jahrg., 1908.
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sagen: Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, in-
dem es sich eine eigene Welt erschafft oder, richtiger gesagt,
die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefillige Ordnung
versetzt. Es wäre dann unrecht zu meinen, es niihme diese Welt
nicht ernst; im Gegenteile, es nimmt sein Spiel sehr ernst, es
verwendet große Affektbetrige darauf. Der Gegensatz zu Spiel
ist nicht Ernst, sondern — Wirklichkeit. Das Kind unterscheidet
seine Spielwelt sehr wohl, trotz aller Affektbesetzung, von der
Wirklichkeit und lehnt seine imaginierten Objekte und Verhält-
nisse gerne an greifhare und sichtbare Dinge der wirklichen
Welt an. Nichts anderes als diese Anlehnung unterscheidet das
„Spielen“ des Kindes noch vom ,Phantasieren*.Der Dichter tut nun dasselbe wie das spielende Kind; er
erschafft eine Phantasiewelt, die er sehr ernst nimmt, d. h. mit
großen Affektbeträgen ausstattet, während er sie von der Wirk-
lichkeit scharf sondert. Und die Sprache hat diese Verwandt-
schaft von Kinderspiel und poetischem | Schaffen festgehalten,
indem sie solche Veranstaltungen des Dichters, welche der An-
lehnung an greifbare Objekte bedürfen, welche der Darstellung
fähig sind, als Spiele: Lustspiel, Trauerspiel, und die
Person, welche sie darstellt, als Schauspieler bezeichnet. Aus
der Unwirklichkeit der dichterischen Welt ergeben sich aber
sehr wichtige Folgen fiir die kiinstlerische Technik, denn vieles,
was als real nicht Genuß bereiten könnte, kann dies doch im
Spiele der Phantasie, viele an sich eigentlich peinliche Erre-
gungen können für den Hörer und Zuschauer des Dichters zur
Quelle der Lust werden.Verweilen wir einer andern Beziehung wegen noch einen
Augenblick. bei dem Gegensatze von Wirklichkeit und Spiel!
Wenn das Kind herangewachsen ist und aufgehört hat zu spielen,
wenn es sich durch Jahrzehnte seelisch bemüht hat, die Wirk-
lichkeiten des Lebens mit dem erforderlichen Ernste zu erfassen,
so kann es eines Tages in eine seelische. Disposition geraten,
welche den Gegensatz zwischen Spiel und Wirklichkeit wieder
aufhebt. Der Erwachsene kann sich darauf besinnen, mit welchem
hohen Ernst er einst seine Kinderspiele betrieb, und indem er
nun seine vorgeblich ernsten Beschäftigungen jenen Kinder-
spielen gleichstellt, wirft er die allzu schwere Bedrückung durchS.
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das Leben ab und erringt sich den hohen Lustgewinn des
Humors.“ Der Heranwachsende hort also auf zu spielen; er verzichtet
scheinbar auf den Lustgewinn, den er aus dem Spiele bezog.
Aber wer das Seelenleben des Menschen kennt, der weil, daB
ihm kaum etwas anderes so schwer wird wie der Verzicht auf
einmal gekannte Lust. Eigentlich: können wir auf nichts ver-
zichten, wir vertauschen nur eines mit dem andern; was ein
Verzicht zu sein scheint, ist in Wirklichkeit eine Ersatz- oder
Surrogatbildung. So gibt auch der Heranwachsende, wenn er
aufhørt zu spielen, nichts anderes auf als die Anlehnung an
reale Objekte; anstatt zu spielen phantasiert er jetzt. Hr
baut sich Luftschlässer, schafft das, was man Tagträume nennt.
Ich glaube, daß die meisten Menschen zu Zeiten ihres Lebens
Phantasien bilden. Es ist das eine Tatsache, die man lange
Zeit übersehen und deren Bedeutung man darum nicht genug
gewürdigt hat.Das Phantasieren der Menschen 186 weniger leicht zu be-
obachten als das Spielen der Kinder. Das Kind spielt zwar
auch allein, oder es bildet mit anderen Kindern ein geschlossenes
psychisches System zum Zwecke des Spieles, aber wenn es auch
den Erwachsenen nichts vorspielt, so verbirgt es doch sein Spielen
nicht vor ihnen. Der Erwachsene aber schämt sich seiner Phan-
tasien und versteckt sie vor anderen, er hegt sie als seine
eigensten Intimitäten, er würde in der Regel lieber seine Ver-
gehungen eingestehen als seine Phantasien mitteilen. Es mag
vorkommen, daß er sich darum für den einzigen hält, der solche
Phantasien bildet, und von der allgemeinen Verbreitung: ganz
ähnlicher Schöpfungen bei anderen nichts ahnt. Dies verschiedene
Verhalten des Spielenden und des Phantasierenden findet seine
gute Begründung in den Motiven der beiden einander doch fm
setzenden Tätigkeiten.Das Spielen des Kindes wurde von Wiinschen dirigiert,
eigentlich von dem einen Wunsche, der das Kind erziehen hilft,
vom Wunsche: groß und erwachsen zu sein. Es spielt immer
„groß sein“, imitiert im Spiele, was ihm vom Leben der Großen
bekannt geworden ist. Es hat nun keinen Grund, diesen Wunsch
zu''verbergen. Anders der Erwachsene; dieser weiß einerseits,S.
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daß man von ihm erwartet, nicht mehr zu spielen oder zu phanta-
sieren, sondern in der wirklichen Welt zu handeln, und ander-
seits sind unter den seine Phantasien erzeugenden Wünschen
manche, die es überhaupt zu verbergen nottut; darum schämt
er sich seines Phantasierens als kindisch und als unerlaubt.Sie werden fragen, woher man denn über das Phantasieren
der Menschen so genau Bescheid wisse, wenn es von ihnen mit
soviel Geheimtun verhüllt wird. Nun, es gibt eine Gattung
von Menschen, denen zwar nicht ein Gott, aber eine strenge
Göttin — die Notwendigkeit — den Auftrag erteilt hat, zu
sagen, was sie leiden und woran sie sich erfreuen. Es sind dies
die Nervösen, die dem Arzte, von dem sie Herstellung durch
psychische Behandlung erwarten, auch ihre Phantasien einge-
stehen müssen; aus dieser Quelle stammt unsere beste Kenntnis,
und wir sind dann zu der wohl begründeten Vermutung gelangt,
daß unsere Kranken uns nichts anderes mitteilen, als was wir
auch von den Gesunden erfahren könnten,Gehen wir daran, einige der Charaktere des Phantasierens
kennen zu lernen. Man darf sagen, der Glückliche phantasiert
nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die
Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine
Wunscherfiillung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirk-
lichkeit. Die treibenden Wünsche sind verschieden je nach
Geschlecht, Charakter und Lebensverhältnissen der phantasieren-
den Persönlichkeit; sie lassen sich aber ohne Zwang nach zwei
Hauptrichtungen gruppieren. Es sind entweder ehrgeizige
Wünsche, welche der Erhöhung der Persönlichkeit dienen, oder
erotische. Beim jungen Weibe herrschen die erotischen Wünsche
fast ausschließend, denn sein Ehrgeiz wird in der Regel vom
Liebesstreben aufgezehrt; beim jungen Manne sind neben den
erotischen die eigensüchtigen und ehrgeizigen Wünsche vor-
dringlich genug. Doch wollen wir nicht den Gegensatz beider
Richtungen, sondern vielmehr deren häufige Vereinigung be-
tonen; wie in vielen Altarbildern in einer Ecke das Bildnis des
Stifters sichtbar ist, so können wir an den meisten ehrgeizigen
Phantasien in irgend einem Winkel die Dame entdecken, für die
der Phantast all diese Heldentaten vollführt, der er alle Erfolge
zu Füßen legt. Sie sehen, hier liegen genug starke Motive zumS.
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Verbergen vor; dem wohlerzogenen Weibe wird ja überhaupt
nur ein Minimum von erotischer Bediirftigkeit zugebilligt, und
der junge Mann soll das UbermaB von Selbstgefühl, welches er
aus der Verwóhnung der Kindheit mitbringt, zum Zwecke der
Einordnung in die an åhnlich anspruchsvollen Individuen se
reiche Gesellschaft unterdrücken lernen.Die Produkte dieser phantasierenden Tätigkeit, die ein-
zelnen Phantasien, Luftschlösser oder Tagträume dürfen wir uns
nicht als starr und unveränderlich vorstellen. Sie schmiegen
sich vielmehr den wechselnden Lebenseindrücken an, verändern
sich mit jeder Schwankung der Lebenslage, empfangen von
jedem wirksamen, neuen Eindrucke eine sogenannte „Zeitmarke“.
Das Verhältnis der Phantasie zur Zeit ist überhaupt sehr be-
deutsam. Man darf sagen: eine Phantasie schwebt gleichsam
zwischen drei Zeiten, den drei Zeitmomenten unseres Vorstellens.
Die seelische Arbeit knüpft an einen aktuellen Eindruck, einen
Anlaß in der Gegenwart an, der imstande war, einen der großen
Wünsche der Person zu wecken, greift von da aus auf die
Erinnerung eines früheren, meist infantilen, Erlebnisses zurück,
in dem jener Wunsch erfüllt war, und schafft nun eine auf die
Zukunft bezogene Situation, welche sich als die Erfüllung jenes
Wunsches darstellt, eben den Tagtraum oder die Phantasie, die
nun die Spuren ihrer Herkunft vom Anlasse und von der Erin-
nerung an sich trägt. Also Vergangenes, Gegenwärtiges, Zu-
künftiges wie an der Schnur des durchlaufenden Wunsches an-
einandergereiht.Das banalste Beispiel mag Ihnen meine Aufstellung er-
låutern. Nehmen Sie den Fall eines armen nnd verwaisten
Jiinglings an, welchem Sie die Adresse eines Arbeitgebers ge-
nannt haben, bei dem er vielleicht eine Anstellung finden kann.
Auf dem Wege dahin mag er sich in einem Tagtraum ergehen,
wie er angemessen aus seiner Situation entspringt. Der Inhalt
dieser Phantasie wird etwa sein, daß er dort angenommen wird,
seinem neuen Chef gefällt, sich im Geschäfte unentbehrlich macht,
in die Familie des Herrn gezogen wird, das reizende Töchter-
chen des Hauses heiratet und dann selbst als Mitbesitzer wie
später als Nachfolger das Geschäft leitet. Und dabei hat sich
der Träumer ersetzt, was er in der glücklichen Kindheit be-S.
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sessen: das schützende Haus, die liebenden Eltérn und die
ersten Objekte seiner zürtlichen Neigung. Sie sehen an solchem
Beispiele, wie der Wunsch einen Anlaß der Gegenwart benutzt,
um sich nach dem Muster der Vergangenheit ein. GERE А
zu entwerfen. iEs wire noch vielélléi über die Phantasien zu sagen; ich
will mich aber auf die knappsten Andeutungen beschrünken.
Das Überwuchern und Ubermiichtigwerden der Phantasien
stellt die Bedingungen für den Verfall in Neurose oder Psychose
her; die Phantasien sind auch die nächsten‘ seelischen Vor-
Stufen der Leidenssymptome, über welche unsere Kranken klagen.
Hier zweigt ein breiter Seitenweg zur Pathologie ab.Nicht übergehen kann ich aber die Beziehung der Phan-
tasien zum Traume. Auch unsere nächtlichen Träume sind
nichts anderes als solche Phantasien, wie wir durch die Deu-
tung der Träume evident machen kónnen!) Die Sprache hat
in ihrer uniibertrefflichen Weisheit die Frage nach dem Wesen
der Träume längst entschieden, indem sie die luftigen Schôp-
fungen Phantasierender auch ,Tagträume“ nennen ließ.
Wenn trotz dieses Fingerzeiges der Sinn unserer Träume uns
zumeist undeutlich bleibt, so rührt dies von dem einen Umstande
her, daB niichtlicherweile auch solche Wünsche in uns rege
werden, deren wir uns schämen, und die wir vor uns selbst
verbergen müssen, die eben darum verdrängt, ins Unbewubtegeschoben wurden. Solchen verdrängten Wünschen und ihren
Abkómmlingen kann nun kein anderer als ein arg entstellter
Ausdruck gegönnt werden. Nachdem die Aufklärung der Traum-
entstellung der wissenschaftlichen Arbeit gelungen war, fiel
es nicht mehr schwer zu erkennen, daß die nächtlichen Träume
ebensolche Wunscherfüllungen sind wie die Tagtriiume, die uns
allen so wohl bekannten Phantasien.Soviel von den Phantasien, und nun, zum Dichter! Diirfen
wirklich den Versuch machen, den Dichter mit dem » Träumer
hellichten Tag“, seine Schôpfungen mit, „Tagtriumen , zu, ver-
ichen? Da drängt sich wohl eine erste ‘Unterscheidung auf;
wir müssen die Dichter, die. fertige ‚Stoffe übernehmen, wie.1) Vgl. des Verf. „Traumdeutung“. Wien 1909.
S.
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alten. Epiker nnd Tragiker, sondern von jenen, die ihre Stoffe
frei zu schaffen scheinen. Halten wir uns an die letzteren und
suchen wir fiir unsere Vergleichung nicht gerade jene Dichter
aus, die von der Kritik am höchsten geschätzt werden, sondern
die anspruchsloseren Erzähler von Romanen, Novellen und Ge-
schichten, die dafür die zahlreichsten und eifrigsten Leser und
Leserinnen finden. An den Schópfungen dieser Erzähler muß
uns vor allem ein Zug auffillig werden; sie alle haben einen
Helden, der im Mittelpunkte des Interesses steht, fiir den der
Dichter unsere Sympathie mit allen Mitteln zu gewinnen sucht,
und den er wie mit einer besonderen Vorsehung zu beschiitzen
scheint. Wenn ich am Ende eines Romankapitels den Helden
bewubtlos, aus schweren Wunden blutend verlassen habe, so
bin ich sicher, ihn zu Beginn des nächsten in sorgsamster Pflege
und auf dem Wege der Herstellung zu finden, und wenn 'der
erste Band mit dem Untergange des Schiffes: im Seesturme ge-
endigt hat, auf dem unser Held sich befand, so bin ich sicher,
zu Anfang des zweiten Bandes von seiner wunderbaren Rettung
zu lesen, ohne die der Roman ja keinen Fortgang håtte. Das
Gefühl der Sicherheit, mit dem ich den Helden durch seine
gefährlichen Schicksale begleite, ist das nämliche, mit dem ein
wirklicher Held sich ins Wasser stürzt, um einen Ertrinkenden
zu retten, oder sich dem feindlichen Feuer aussetzt, um eine
Batterie zu stürmen, jenes eigentliche Heldengefühl, dem einer
unserer besten Dichter den köstlichen‘ Ausdruck geschenkt hat:
„Es kann dir nix g'schehen*?) Ich meine aber, an diesem
verrüterischen Merkmal der Unverletzlichkeit erkennt man ohne
Mühe — Seine Majestät das Ich, den HUR aller E
wie aller Romane.Noch andere typische Züge dieser egozentrischen Erzåh-
Jungen deuten auf die gleiche Verwandtschaft hin. Wenn sich
stets alle Frauen des Romans in den Helden verlieben, so ist
das kaum als Wirklichkeitsschilderung aufzufassen, aber leicht
als notwendiger Bestand des Tagtraumes zu verstehen. Ebenso
wenn die anderen Personen des Romans sich scharf in gute
und böse scheiden, unter Verzicht auf die in der slid zuds 'Ahzengrabör, « ši MU
S.
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beobachtende Buntheit menschlicher Charaktere; die „guten“
sind eben die Helfer, die „bösen“ aber die Feinde und Kon-
kurrenten des zum Helden gewordenen Ichs.Wir verkennen nun keineswegs, daß sehr viele dichterische
Schópfungen sich von dem Vorbilde des naiven Tagtraumes weit
entfernt halten, aber ich kann doch die Vermutung nicht unter-
drücken, daß auch die extremsten Abweichungen durch eine
lückenlose Reihe von Übergängen mit diesem Modelle in Be-
ziehung gesetat werden könnten. Noch in vielen der sogenanntenpsychologischen Romane ist mir aufgefallen, daß nur eine Person,
wiederum der Held, von innen geschildert wird; in ihrer Seele
sitzt gleichsam der Dichter und schaut die anderen Personen
von außen an. Der psychologische Roman verdankt im ganzen
wohl seine Besonderheit der Neigung des modernen Dichters,
sein Ich durch Selbstbeobachtung in Partial-Ichs zu zerspalten
und demzufolge die Konfliktstrómungen seines Seelenlebens in
mehreren Helden zu personifizieren. In einem ganz besonderen
Gegensatze zum Typus des Tagtraumes scheinen die Romane zu
stehen, die man als ,exzentrische“ bezeichnen könnte, in denen
die als Held eingeführte Person die geringste tätige Rolle
spielt, vielmehr wie ein Zuschauer die Taten und Leiden der
anderen an sich voriiberziehen sicht. Solcher Art sind mehrere
der späteren Romane Zolas. Doch muß ich bemerken, daß
die psychologische Analyse nicht dichtender, in manchen Stücken
von der sogenannten Norm abweichender Individuen uns analoge
Variationen der Tagträume kennen gelehrt hat, in denen sich
das Ich mit der Rolle des Zuschauers bescheidet.Wenn unsere Gleichstellung des Dichters mit dem Tag-
träumer, der poetischen Schöpfung mit dem Tagtraum wertvoll
werden soll, so muß sie sich vor allem in irgend einer Art
fruchtbar erweisen. Versuchen wir etwa, unseren vorhin auf-
gestellten Satz von der Beziehung der Phantasie zu den drei
Zeiten und zum durchlaufenden Wunsche auf die Werke der
Dichter anzuwenden und die Beziehungen zwischen dem Leben
des Dichters und seinen Schôpfungen mit dessen Hilfe zu
studieren. Man hat in der Regel nicht gewuDt, mit welchen
Erwartungsvorstellungen man an dieses Problem herangehen
soll; häufig hat man sich diese Beziehung viel zu einfach vor-S.
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gestellt. Von der an den Phantasien gewonnenen Einsicht her
müßten wir folgenden Sachverhalt erwarten: Ein starkes aktuelles —
Erlebnis weckt im Dichter die Erinnerung an ein früheres, meist
der Kindheit angehöriges Erlebnis auf, von welchem nun der
Wunsch ausgeht, der sich in der Dichtung seine Erfüllung
schafft; die Dichtung selbst läßt sowohl Elemente des frischen
Anlasses als auch der alten Erinnerung erkennen.Erschrecken Sie nicht über die Kompliziertheit dieser
Formel; ich vermute, daß sie sich in Wirklichkeit als ein zu
dürftiges Schema erweisen wird, aber eine erste Annäherung
an den realen Sachverhalt könnte doch in ihr enthalten sein,
und nach einigen Versuchen, die ich unternommen habe, sollte
ich meinen, daß eine solche Betrachtungsweise dichterischer
Produktionen nicht unfruchtbar ausfallen kann. Sie vergessen
nicht, daß die vielleicht befremdende Betonung der Kindheits-
erinnerung im Leben des Dichters sich in letzter Linie von der
Voraussetzung ableitet, daß die Dichtung wie der Tagtraum
Fortsetzung und Ersatz des einstigen kindlichen Spielens ist.Versäumen wir nicht, auf jene Klasse von Dichtungen
zurückzugreifen, in denen wir nicht freie Schöpfungen, sondern
Bearbeitungen fertiger und bekannter Stoffe erblicken müssen.
Auch dabei verbleibt dem Dichter ein Stück Selbständigkeit,
das sich in der Auswahl des Stoffes und in der oft weitgehenden
Abänderung desselben äußern darf. Soweit die Stoffe aber ge-
geben sind, entstammen sie dem Volksschatze an Mythen, Sagen
und Märchen. Die Untersuchung dieser völkerpsychologischen
Bildungen ist nun keineswegs abgeschlossen, aber es ist z. B.
von den Mythen durchaus wahrscheinlich, daß sie den entstellten
Überresten von Wunschphantasien ganzer Nationen, den Säkular-
träumen der jungen Menschheit entsprechen.Sie werden sagen, daß ich Ihnen von den Phantasien weit
mehr erzählt habe als vom Dichter, den ich doch im Titel
meines Vortrages vorangestellt. Ich weiß das und versuche es
durch den Hinweis auf den heutigen Stand unserer Erkenntnis
zu entschuldigen. Ich konnte Ihnen nur Anregungen und Auf-
forderungen bringen, die von dem Studium der Phantasien her
auf das Problem der dichterischen Stoffwahl übergreifen, Das
andere Problem, mit welchen Mitteln der Dichter bei uns dieS.
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Affektwirkungen erziele, die er durch seine Schopfungen hervor-
ruft, haben wir überhaupt noch nicht berührt, Ich möchte
Ihnen wenigstens noch zeigen, welcher Weg von unseren Er-
Srterungen über die Phantasien zu den Problemen der poetischen
Effekte führt.Sie erinnern sich, wir sagten, daß der Tagträumer seine
Phantasien vor anderen sorgfältig verbirgt, weil er Gründe verspürt,
sich ihrer zu schämen. Ich füge nun hinzu, selbst wenn er sie uns mit-
teilen würde, könnte er uns durch solche Enthüllung keine Lust
bereiten. Wir werden von solchen Phantasien, wenn wir sie erfahren,
abgestoßen oder bleiben höchsten kühl gegen sie. Wenn aber der
Dichter uns seine Spiele vorspielt oder uns das erzählt, was wir für
seine persönlichen Tagträume zu erklären geneigt sind, so empfinden
wir hohe, wahrscheinlich aus vielen Quellen zusammenfließende
Lust. Wie der Dichter das zustande bringt, das ist sein eigenstes
Geheimnis; in der Technik der Überwindung jener Abstoßung,
die gewiß mit den Schranken zu tun hat, welche sich zwischen
jedem einzelnen Ich und den anderen erheben, liegt die eigent-
liche Ars poetica. Zweierlei Mittel dieser Technik können wir
erraten: Der Dichter mildert den Charakter des egoistischen
Tagtraumes durch Abänderungen und Verhüllungen und besticht
uns durch rein formalen, d. h. ästhetischen Lustgewinn, den er
uns in der Darstellung seiner Phantasien bietet. Man nennt
einen solchen Lustgewinn, der uns geboten wird, um mit ihm
die Entbindung größerer Lust aus tiefer reichenden psychischen
Quellen zu ermöglichen, eine Verlockungsprämie oder eine
Vorlust. Ich bin der Meinung, daß alle ästhetische Lust,
die uns der Dichter verschafft, den Charakter solcher Vorlust
trägt, und daß der eigentliche Genuß des Dichtwerkes aus der
Befreiung von Spannungen in unserer Seele hervorgeht. Vielleicht
trägt es sogar zu diesem Erfolge nicht wenig bei, daß uns der
Dichter in den Stand setzt, unsere eigenen Phantasien nunmehr
ohne jeden Vorwurf und ohne Schämen zu genießen. Hier
stünden wir nun am Eingange neuer, interessanter und ver-
wickelter Untersuchungen, aber, wenigstens für diesmal, am
Ende unserer Erörterungen.
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