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SZ DIE ABLÖSUNG DES KINDES VON DEN ELTERN.
Methode, deren Ausbildung Freud zu verdanken ist. Die
ständige Beschäftigung mit dieser Methode schiirft dem Beob-
achter den Blick so Weit, daß er dann im Secleuleben der später
nicht neurotisch gewordenen Menschen die gleichen 'i‘riebkräite
in ihren feiner nuancierten Äußerungen wiederzuerkennen
vermag. .Herrn ProfessorFreud, der mir seine reichen Erfahrungen
aus der Neurosenpsychologie zur Verfügung stellte, verdanke
ich das Folgende über das Phantasieleben des Kindes und
des Neurotikers: _ . .„Die Ablösung des heranwachsenden lndividuums von
der Autorität der Eltern ist eine der notwendigsten‚ aber
auch sehmerzlichsten Leistungen der Entwicklung. Es ist
durchaus notwendig, daß sie sich vollziehe, und man darf an-
nehmen, jeder‚normul gewordene Mensch habe sie in einem
gewissen Maß zustande gebracht. Ja, der Fortschritt der
Gesellschaft beruht überhaupt auf dieser Gegensätzlichkeit der
beiden Generationen. Anderseits gibt es eine Klasse von Neu-
rotikern, in deren Zustand man die Bedingtheit erkennt, daß
Sie an dieser Aufgabe gescheitert sind.‚Für das kleine Kind sind die Eltern zunächst die einzige
Autorität und die Quelle alles Glaubens. Ihnen, das heißt dem
gleichgesehlechtlichen Teile, gleich zu werden, gu'oß zu werden
wie‚Vater und Mutter ist der intensivste, folgenschwerste
Wunsch dieser Kinderjahre. Mit der zunehmenden intellektuellen
Entwicklung kann_es aber nicht ausbleiben, dal] das Kind all—
mählich die Kategorien kennen lernt, in die seine Eltern gehören.
Es lernt andere Eltern kennen, vergleicht sie mit den seinigen
und bekommt so ein Recht, an der ihnen zugeschriebenen
Unvergleichlichkeit und Einzigartigkeit zu zweifeln. Kleine
Ereignisse im Leben des Kindes, die eine unzufriedene5timmung
bei ihm hervorrufen, geben ihm den Anlaß, mit der Kritik
der Eltern einzusetzen und die gewonnene Kenntnis, daß
andere Eltern in mancher Hinsicht vorzuziehen seien, zu dieser
Stellungnahme gegen seine Eltern zu verwerten. Aus der
Neurosenpsycholegie wissen wir, daß dabei unter anderen die
intensivsten Regungen sexueller Rivalitfit mitwirken. Der Gegen-S.
DIE. FANIIJENROMANE DER NEUROTIKER 8";
stand dieser Anlässe ist offenbar das Gefühl der Zurücksetzung.
Nur zu oft ergeben sich Gelegenheiten, bei denen' das Kind
zurückgesetzt wird oder sich wenigstens zurückgesetzt fühlt,
WO es die volle Liebe der Eltern vermißt, besonders aber
bedauert, sie mit anderen Geschwistern teilen zu müssen. Die
Empfindung, daß die eigenen Neigungen nicht voll erwidert
werden, macht sich dann in der aus frühen Kinderjnhren oft
bewußt erinnerten Idee Luft, man sei ein Stiefkind oder ein
eugenommenes Kind. Viele nicht neurotisch gewordene Menschen
entsinnen sich sehr häufig an solche Gelegenheiten, wo'sie
— meist durch Lektüre beeinflußt — das feindselige Benehmen
der Eltern in dieser Weise 'auffaßten und erwidertcn. Es
zeigt sich aber hier bereits der Einfluß des Geschlechts, indem
der Knabe bei weitem mehr Neigung zu ieindseligen Regungen
gegen seinen Vater als gegen seine Mutter zeigt und eine viel
intensivere Neigung, sich von jenem als von dieser freizumachen.
Die Phantasietätigkeit der Mädchen mag sich in diesem Punkte
viel schwächer erweisen. In diesen bewußt erinnerten Seelen-'
regungen der Kinderjahre finden wir das Moment, welches uns
das Verständnis des \[ythus ermöglicht '„Selten bewußt eiinneit, aber fast immer durch diePsyehn-
analyse nachzuweisen, ist dann die weitere Entwicklungsstufe
dieser beginnenden Entfremdung von den Eltern, die man mit
dem Namen: Fumilienromune der Neurotiker bezeichnen
kann. Es gehört nämlich durchaus zum Wesen der Neurose
und auch jeder höheren Begabung eine ganz besondere Tätigkeit
der Phantasie, die sich zunächst. in den kindlichen Spielen
offenbart und die nun, ungefähr von der Zeit der Vorpubei'tät
angefangen, sich des Themas der Familienheziehungen bemiichtigt.
Ein charakteristisches Beispiel dieser besonderen Phantasie-
tätigkeit ist das bekannte Tagtriiumen‘), das weit über die
Pubertät hinaus fortgesetzt wird. Eine genaue Beobachtung
dieser Tagträume lehrt, daß sie der Erfüllung von Wünschen,1) Vgl. darüber Freud: Hysterisehe Phantasien und ihre Beziehung
zur Bisexualität, wo auch auf die Liierntur zu diesem Thema verwiesen
ist. Die Arbeit findet sich in der zweiten Folge der „Sammlung kleiner
Schriften zur Neurnsenlehre" (Wien und Leipzig) 1909, wieder abgedruckt.G'
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81 DIE PHANTASIEN VON HOHER ABKUNFT
der Korrektur des Lebens dienen und vornehmlich zwei Ziele
kennen: das erotische und das ehrgeizige (hinter dem aber
meist auch das erotische steckt). Um die angegebene Zeit be-
schäftigt sich nun die Phantasie des Kindes mit der Aufgabe-,
die jetzt gering geschätzten Eltern loszuwerden und durch in
der Regel sozial hüherstehende zu ersetzen. Dabei wird das
zufällige Zusammentreffen mit wirklichen Erlebnissen (die
Bekanntschaft des Sehloßherrn oder Gutsbesitzers auf dem
Lande, der Fürstlichkeit in der Stadt) nusgenützt. Solche zu-
fällige Erlebnisse erwecken den Neid des Kindes, der dann
den Ausdruck in einer Phantasie findet, welche beide Eltern
durch vornehmere ersetzt. In der Technik der Ausführung
solcher Phantasien, die natürlich um diese Zeit bewußt sind,
kommt es auf die Geschicklichkeit und das Material an, das
dem Kinde zur Verfügung steht. Auch handelt es sich darum,
ob die Phantasien mit einem großen oder geringen Bemühen,
die Wahrscheinlichkeit zu erreichen, ausgearbeitet sind. Dieses
Stadium wird zu einer Zeit erreicht, wo dem liinde die Kenntnis
der sexuellen Bedingungen der Herkunft nnch fehlt."„Kommt dann die'Kenntnis der verschiedenartigen sexuellen
Beziehungen‘von Vater und Mutter dazu, begreift das Kind,
daß peter semper incertus est, wiihrend die Mutter certissima
ist, so erfährt der Familienronuan eine eigeutümliehe Ein-
schränkung; er begnügt sich nämlich damit, den Vater zu er-
höhen, die Abkunft von der Mutter aber als etwas Unabiinderliches
nicht weiter in Zweifel zu ziehen. Dieses zweite (sexuelle)
Stadium des Familienromans wird auch von einem zweiten
Motiv getragen, das dem ersten (asexuellen) Stadium fehlte,
Mit der Kenntnis der geschlechtlichen Vorgänge entsteht die
Neigung, sich erotische Situationen und Beziehungen auszu—
malen, wozu „als Triebkraft die Lust tritt,‘ die Mutter, die
Gegenstand der höchsten sexuellen Neugierde ist, in die Situation
von geheimer Untreue und geheimen Liebesverhiiltnissen zu
bringen. In dieser Weise werden jene ersten gleichsam asexuellen
Phantasien auf die Höhe der jetzigen Erkenntnis gebracht.”„Übrigens zeigt sich das Motiv der Rache und Vergeltung,
das früher im Vordergrunde stand, auch hier. Diese neurotischenS.
DEUTUNG UND RECHTFERTIGUNG DIESER-PHANTASIEN. 85
Kinder sind es ja auch meist, die bei der Abgewöhnung
sexueller Unerten von den Eltern bestraft wnrden, und die
sich nun durch solche Phantasien an ihren Eltern reichen."‚Ganz besonders sind es nacligeborene Kinder, die vor
allem ihre Vordermänner durch derartige Dichtungen (ganz
wie in historischen Intrigen) ihres Vorzuges bernuben, je die
sich oft nicht scheuen, der Mutter ebensoviele Liebesverhiilt—
nisse anzudiohten, als Konkurrenten vorhanden sind. Eine
interessante Variante dieses Familienromnns ist es dann, wenn
der dichtende Held für sich selbst zur Legitiiniiät zurückkehrt,
während er die anderen Geschwister auf diese Art als illegilim
beseitigt. Dabei kann noch ein besonderes Interesse den
Familienroman dirigieren, der mit seiner Vielseitigkeit und
mennigfachen Verwendbarkeit allerlei Be'strebun'gen entgegen—
komrnt. So beseitigt der kleine Phnntust zum Beispiel auf diese
Weise die verwandtschaitliche Beziehung zu einer Schwester,
die ihn etwa sexuell angezogen hat."„Wer sich von dieser Verderbtheit des kindlichen Gemütes
mit Sehnudern ahwendete, ja selbst die Möglichkeit solcher
Dinge bestreiten wollte, dem sei bemerkt, daß alle diese an-
scheinend so feindseligen Dichtungen eigentlich nicht so büsé
gemeint sind und unter leichter Verkleidung die erhalten ge-
bliebene ursprüngliche Zärtlichkeit des Kindes für seine Eltern
bewahren. Es ist nur scheinbare Treulosigkeit und Undankbarkeit;
denn wenn ninn die häufigste dieser Romanphzmtasien, den
Ersatz beider Eltern oder nur des Vaters durch großartigero
Personen, im Detail durchgeht, so macht man die Entdeckung,
daB diese neuen und vornehmen Eltern durchwegs niit Zügen
ausgestattet sind, die von realen Erinnerungen im die wirklichen
niederen Eltern herrühren, so daß das Kind den Vater
eigentlich nicht beseitigt, sondern erhöht. Ja, das ganze'
Bestreben, den wirklichen Vater durch einen \‘01‘j
nehmer-en zu ersetzen, ist nur der Ausdruck der Sohn-
sucht des Kindes nach der verlorenen glücklichen Zeit,
in der ihm sein Vater als der vornehmste und stärkste
Mann, seine Mutter als die liebste und schönste Frau
erschienen ist. Er wendet sich vom Vater, den er jetzt er-S.
ss DER FAMILIENROMAN Wim)
kennt, zuriickyzu dem, an den er in früheren Kinderjahren
geglaubt hat, und die Phantasie ist eigentlich nur der
Ausdruck des Bedansrns, daß diese glückliehe Zeit
entsehwunden ist. Die Überschätzung der frühesten Kindheits-
jahre tritt also in diesen Phantasien wieder in ihr volles Recht.
Ein interessanter Beitrag zu diesem Thema ergibt sich aus
dem Studium der Träume. Die Traumdeutung lehrt nämlich,
daß auch noch in späteren Jahren in Träumen vom Kaiser
oder von der Kaiserin diese erlauehten Persönlichkeiten Vater
und Mutter bedeuten‘). Die kindliche Uberschiitzung der:
Eltern ist also auch im Traum des normalen Erwachsenen er.
halten.”Wenn wir nun darungehen, diese Gesichtspunkte auf unser
Schema anzuwenden, so gibt uns die Übereinstimmung der
Tendenz des Familienromans und des Heldenmythus die Be-rechtigung, das Ich des Kindes mit dem Helden der Sage zu
analogisieren. Erinnern wir uns, daß der Mythus durchgängig
das Bestreben verrät, die Eltern loszuwerdeu‚ und daß derselbe
Wunsch in den Phantasien des kindlichen Individuums zu einer
Zeit erwacht, wo es seine Unabhängigkeit und Selbständigkeit
zu erlangen sucht. Das Ich des Kindes benimmt sich dabei wie
der Held der Sage und eigentlich ist ja der Held immer nur
als ein Kollektiv-Ich aufzufassen, das mit allen vorzügliehen
Eigenschaften ausgestattet wird, ähnlich wie ja auch in der
persönlichen dichterisehen Schöpfung der Held meist den
Dichter selbst oder besser eine Seite seines Weseus darstellt?)‚ 1) Traumdeutung, 2. Aufl„ S. 200.
2) Der Familiennamen bildet naturgemäß ein Kli'nuioliv unserer ge-
samten Romaniiteratnr, angefangen von den spätgrieohisehen Sehäferromanen,
wie ‘siel in Heliodors „Aethiopikn“, in Eustathius’‚ „Isnienias und Ismene”
iind in der Geschichte der zwei ausgesetzten Kinder „Dllphnis und Chloe"
erzählt werden. Auch die neueren dramatischen Hirtengediclute Italiens
gründen sich sehr häufig auf die Aussetzung von Kindern, die von den
Pflegeeltern als Schäfer unterzogen und dann von den wirklichen Eltern mittels
Erkennungszeiehen, die ihnen bei der Aussetzung mitgegeben wurden
wiedererkannt werden '— Aus der späteren Literatur sei ferner die Familien-
gesehiehte in Griminelshadsens „Simplieisslmus“ (1665), Jean Paulsl
1S.
Rank_1922_Geburt_des_Helden_2te_k
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