S.
64 DIE ABLÖSUNG DES KI ES VON DEN ELTERN.
»Die Ablösung des heranwachsonden Individuums von
der Autorität der Eltern ist eine der notwendigsten, aber
auch schmerzlichsten Leistungen der Entwicklung, Es ist
durchaus notwendig, daß sie sich vollziehe, und man darf nn.
nehmen, jeder normal gewordene Mensch habe sie ia einem ge-
wissen Msß zu stande gebracht. Ja, der Fortschritt der Gesell—
schaft beruht überhaupt auf dieser Gegensätzlichkoit der beiden
Generationen. Anderseits gibt es eine Klasse von Neurotikern,
in deren Zustand man die Bedingtheit erkennt, daß sie an
dieser Aufgabe gescheitert sind.«»Fiir das kleine Kind sind die Eltern zunächst die einzige
Autorität und die Quelle alles Glaubens. Ihnen, das heißt
dem gleichgeschlechtlichen Teile, gleich zu werden, groß zu
warden wie Vater und Mutter ist der intensivste‚ folgen-
schwerste Wunsch dieser Kinderjshre. Mit der zunehmendenseine Eltern gehören. Es lernt andere Eltern kennen, ver-
gleicht sie mit den seinigen und bekommt so ein Recht, an
der ihnen zugesohmebenen Unvergleiehlichkeit und Einzig—
keit zu zweifeln. Kleine Ereignisse im Leben des Kindes, dieihm den Anlaß, mit der Kritik der Eltern einzusetzen und
die gewonnene Kenntnis, daß andere Eltern in mancher
Hinsicht vorzuziehen seien, zu dieser Stellungsnnhme gegen
seine Eltern zu verwerten. Aus der Neurosenpsyehologie wissen
wir, daß dabei unter anderen die intensivsten Regungun
sexueller Rivnlität mitwirken. Der Gegenstand dieser Anlässe
ist offenbar das Gefühl der Zurücksetzung. Nur zu oft er-
geben sich Gelegenheiten, bei denen das Kind zurückgesetzt
wird oder sich wenigstens zurückgesetzt fühlt, wo es die
volle Liebe der Eltern vermißt, besonders aber bedauert, sie
mit anderen Geschwistern teilen zu müssen. Die Empfindung,
daß die eigenen Neigungen nicht voll erwidert werden,
macht sich dann in der aus frühen Klnderjahren oft bewußt
erinnerten Idee Luft, man sei ein Stiefkind oder ein an-
genommenes Kind. Viele nicht neurotisch gewordene MenschenS.
DIE FAMILIENRUMANE DER NEUROTIKER. 55
entsinnen sich sehr häufig an solche Gelegenheiten, wo sie
-* meist durch Lektüre beeinflußt —— das feindselige Be—
nehmen der' Eltern in dieser Weise auffaßten und erwiderten.
Es zeigt sich aber hier bereits der Einfluß des Geschlechts, indem
der Knabe bei weitem mehr Neigung zu feindseligen Regungen
gegen seinen Vater als gegen seine Mutter zeigt und eine
viel intensivere Neigung, sich von jenem als von dieser trei-
zumaehen. Die Phantasietätigkeit der Mädchen mag sich in
diesem Punkte viel schwächer erweisen In diesen bewußt er-
innerten Seelenregungen (ler Kinderjaln-e finden wir das
Moment, welches uns das Verständnis des Mythos ermöglicht.:»Selten bewußt erinnert, aber fast immer durch die
Psychoanalyse nachzuweisen ist dann die weitere Entwick-
lungsstufe dieser beginnden Entfremdung von den Eltern,
die man mit dem Namen: Familienromnne der Neuro-
tiker bezeichnen kann. Es gehört nämlich durchaus zum
Wesen der Neurose und auch jeder höheren Begabung eine
ganz besondere T' igkeit der Phantasie, die sich zunächst in
den kindlichen Spielen offenbart und die nun, ungefähr von
der Zeit der Vorpubertät angefangen, sich des Themas der
Familienbeziehungen beniäehtigt. Ein charakteristisches Bei-
spiel dieser besondern Phantasietätigkeit ist das bekannte
Tngträumen‚‘) das weit über die Pubertät hinaus fort-
gesetzt wird, Eine genaue Beobachtuug dieser Tagträume
lehrt, daß sie der Erfüllung von Wünschen, der Korrektur
des Lebens dienen und vornehmlich zwei Ziele kennen: das
erotische und das ehrgeizige (hinter dem aber meist auch
das erotische steckt} Um die angegebene Zeit beschäftigt
sich nun die Phantasie des Kindes mit der Aufgabe, die
jetzt gering geschätzten Eltern loszuwerden und durch
in der Regel sozial höher stehende zu ersetzen. Dabei wird
das zufällige Zusammentreffen mit wirklichen Erlebnissen
(die Bekanntschaft des Schloßherrn oder Gutsbesitzers auf1) Vgl. darüber Freud: llysterisrjie Plilntnsien und ihre Beziehung
zu Bisexunlitüt, wo auch auf die Literatur zu diesem Thema verwiesen ist.
Die Arbeit findet sich in flei- zweiten Folge der ‚simuliuig kleiner Schriften
zur l\'eurosenlehrm. Wien und Leipzig, 1909.n n n k, Geburt des Helden. 5
S.
66 DIE NEURDTISCHEN PHANTASIEN VON HOHER ABKUNFI‘.
dem Lande, der Fürstlichkeit in der Stadt) eusgenützt.
Solche zufällige Erlebnisse erwecken den Neid des Kindes,
der dann den Ausdruck in einer Phantasie findet, welche
beide Eltern durch vornehmere ersetzt. In der Technik der
Ausführung solcher Phantasien, die natürlich um diese
Zeit bewußt sind, kommt es auf die Geschicklichkeit und das
Material an, das dem Kinde zur Verfügung steht. Auch
handelt es sich darum, ob die Phantasien mit einem großen
oder geringen Bemühen, die Wahrscheinlichkeit zu errei—
chen, ausgearbeitet sind. Dieses Stadium wird zu einer Zeit
erreicht, wo dein Kinde die Kenntnis der sexuellen Bedin—
gungen der Herkunft noch fehlt.«»Kommt dann die Kenntnis der verschiedener-tigen sexuellen
Beziehungen von Vater und Mutter dazu, begreift das Kind,
daß pater semper incertus est, während die Mutter certissirna
ist, so erfährt der Familienroman eine eigentümliehe Ein-
schränkung: er begnügt sich nämlich damit, den Vater zu
erhöhen, die Abkunft von der Mutter aber als etwas Un—
ebänderliches nicht weiter in Zweifel zu ziehen. Dieses zweite
(sexuelle) Stadium des Familienromans wird auch von einem
zweiten Motiv getragen, das dem ersten (asexuellen) Stadium
fehlte. Mit der Kenntnis der geschleehtlichen Vorgänge ent-
steht die Neigung, sich erotische Situationen und Beziehungen
nuszumalen, wozu als Triebkraft die Lust tritt, die Mutter,
die Gegenstand der höchsten sexuellen Neugierde ist, in die
Situation von geheimer Untreue und geheimen Liebesver-
hältnissen zu bringen. In dieser Weise werden jene ersten
gleichsam asexuellen Phantasien auf die Höhe der jetzigen
Erkenntnis gebracht_«»Übrigens zeigt sich das Motiv der Rache und Ver-gel-
tung, das früher im Vordergrunde stand, auch hier. Diese
neurotischen Kinder sind es ja auch meist, die bei der Ab»
gewöhnung sexueller Unarten von den Eltern bestraft wurden,
und die sich nun durch solche Phantasien an ihren Eltern
rächen.«»Ganz besonders sind es nachgeburene Kinder, die vor
allem ihre Vordermänner durch derartige Dichtungen (ganzS.
DEUTUNG UND RECHTFERTIGUNG DIESER PHANTASIEN. 67
wie in historischen Intrigen) ihres Vorzuges berauhen, ja die
sich oft nicht scheuen, der Mutter ebensoviele Liebesver-
hältnisse anzudichten, als Konkurrenten vorhanden sind. Eine
interessante Variante dieses Familienromans ist es dann, wenn
der dichtende Held für sich selbst zur Legitimität zurück-
kehrt, während er die anderen Geschwister auf diese Art als
illegitim beseitigt. Dabei kann noch ein besonderes Interesse
den Familienroman dirigieren, der mit seiner Vielseitigkeit
und mannigfachen Verwendbarkeit allerlei Bestrebungen ent»
gegenkommt. So beseitigt der kleine Phantast zum Beispiel
auf diese Weise die verwandtschaftliche Beziehung zu einer
Schwester, die ihn etwa sexuell angezogen hat.«»Wer sich von dieser Verderbtheit des kindlichen Gemütes
mit Sehaudern abwendete, ja selbst die Möglichkeit solcher
Dinge bestreiten wollte, dem sei bemerkt, daß alle diese
anscheinend so feindseligen Dichtungen eigentlich nicht so
böse gemeint sind und unter leichter Verkleidung die erhalten
gebliebene ursprüngliche Zärtlichkeit des Kindes für seine
Eltern bewahren. Es ist nur scheinbare Treulosigkeit und Un-
dankbarkeit ; denn wenn man die häufigste dieser Roman-
phantasien, den Ersatz beider Eltern oder nur des Vaters
durch großartigere Personen, im Detail durchgeht, so macht
man die Entdeckung, daß diese neuen und vornehmen Eltern
durchwegs mit Zügen ausgestattet sind, die von realen Er»
innerungen an die wirklichen niederen Eltern herrühren, so
daß das Kind denVster eigentlich nicht beseitigt,
sondern erhöht. Ja, das ganze Bestreben, den
wirklichen Vater durch einen vornehmeren zu
ersetzen, ist nur der Ausdruck der Sehnsucht
des Kindes nach der verlorenen glücklichen Zeit,
in der ihm sein Vater als der vornehmstc und
stärkste Mann, seine Mutter als die liebste und
schönste Frau erschienen ist, Er wendet sich vom
Vater, den er jetzt erkennt, zurück zu dem, an den er in
früheren Kinderjahren geglaubt hat, und d i e P h a nt a s ie
ist eigentlich nur der Ausdruck des Bedauerns,
daß diese glückliche Z eit entschwunden ist. Die5;
S.
68 DER FAMILIENROMAN WIRD
Überschätzung der frühesten Kindheitsjnhre tritt also in die-
sen Phantasien wieder in ihr volles Recht Ein interessanter
Beitrag zu diesem Thema ergibt sich aus dem Studium der
Träume. Die Traumdeutung lehrt nämlich, (laß auch noch
in späteren Jahren in Träumen vom Kaiser oder von der
Kaiserin diese erlauchten Persönlichkeiten Vater und Mutter
bedeuten}) Die kindliche Überschiitzung der Eltern ist also
auch im Traum des normalen Erwachsenen erhalten‚«Wenn wir nun dar-angehen, die gewonnenen Gesichts-
punkte auf unser Schema anzuwenden, so gibt uns die Über-
einstimmung der Tendenz des Familienrmnans und des Helden—
mythus die Berechtigung, des Ich des Kindes mit dem Helden
der Sage zu snalogisieren. Erinnern wir uns nur, daß ja der
Mythus durchgängig das Bestreben verrät, die Eltern loszn»
werden, und daß derselbe Wunsch in den Phantasien des
kindlichen Individiurns zu einer Zeit erwacht, wo es seine
Unabhängigkeit und Selbständigkeit zu erlangen sucht. Das
Ich des Kindes beniinmt sich dabei wie der Held der Sage
und eigentlich ist ja der Held immer nur als ein Kollektiv-Ich
aufzufassen, das mit allen vorzüglichen Eigenschaften ausge-
stattet wird, ähnlich wie ja auch in der persönlichen dichte-
rischen Schöpfung der Held meist den Dichter selbst oder
wenigstens eine Seite seines Wesens darstellt.Rufen wir uns die wesentlichen Hauptmotive des Helden-
mythus: die Geburt von vornehmen Eltern, die Aussetzung
im Fluß und Kästchen und die Aufziehung durch niedrige
Eltern — woran sich dann in der weiteren Entwicklung die
Rückkehr des Helden zu den ersten Eltern, mit oder ohne deren
Bestrafung, schließt, —- ins Gedächtnis zurück, so ist ohne
weiteres deutlich, daß die beiden Elternpuare des Mythus den)
realen und dem imaginierten Elternpaare der Romanphantnsie
entsprechen. Bei näherexn Zusehen erkennt man denn auch
hier, ganz wie in den kindlichen und neurotischen Phanta-
sien, die psychologische Identität des niederen und des vor-
nehmen Elternpaares, Auch beginnt der Mythus, entsprechend!) Traumdeutung, e. Aqu, s. 200.
S.
SzaS_5_Rank_1909_Mythus_von_der_Geburt_des_Helden
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