Der Familieroman der Neurotiker 1909-003/1909
  • S.

    64 DIE ABLÖSUNG DES KI ES VON DEN ELTERN.

    »Die Ablösung des heranwachsonden Individuums von
    der Autorität der Eltern ist eine der notwendigsten, aber
    auch schmerzlichsten Leistungen der Entwicklung, Es ist
    durchaus notwendig, daß sie sich vollziehe, und man darf nn.
    nehmen, jeder normal gewordene Mensch habe sie ia einem ge-
    wissen Msß zu stande gebracht. Ja, der Fortschritt der Gesell—
    schaft beruht überhaupt auf dieser Gegensätzlichkoit der beiden
    Generationen. Anderseits gibt es eine Klasse von Neurotikern,
    in deren Zustand man die Bedingtheit erkennt, daß sie an
    dieser Aufgabe gescheitert sind.«

    »Fiir das kleine Kind sind die Eltern zunächst die einzige
    Autorität und die Quelle alles Glaubens. Ihnen, das heißt
    dem gleichgeschlechtlichen Teile, gleich zu werden, groß zu
    warden wie Vater und Mutter ist der intensivste‚ folgen-
    schwerste Wunsch dieser Kinderjshre. Mit der zunehmenden

    seine Eltern gehören. Es lernt andere Eltern kennen, ver-
    gleicht sie mit den seinigen und bekommt so ein Recht, an
    der ihnen zugesohmebenen Unvergleiehlichkeit und Einzig—
    keit zu zweifeln. Kleine Ereignisse im Leben des Kindes, die

    ihm den Anlaß, mit der Kritik der Eltern einzusetzen und
    die gewonnene Kenntnis, daß andere Eltern in mancher
    Hinsicht vorzuziehen seien, zu dieser Stellungsnnhme gegen
    seine Eltern zu verwerten. Aus der Neurosenpsyehologie wissen
    wir, daß dabei unter anderen die intensivsten Regungun
    sexueller Rivnlität mitwirken. Der Gegenstand dieser Anlässe
    ist offenbar das Gefühl der Zurücksetzung. Nur zu oft er-
    geben sich Gelegenheiten, bei denen das Kind zurückgesetzt
    wird oder sich wenigstens zurückgesetzt fühlt, wo es die
    volle Liebe der Eltern vermißt, besonders aber bedauert, sie
    mit anderen Geschwistern teilen zu müssen. Die Empfindung,
    daß die eigenen Neigungen nicht voll erwidert werden,
    macht sich dann in der aus frühen Klnderjahren oft bewußt
    erinnerten Idee Luft, man sei ein Stiefkind oder ein an-
    genommenes Kind. Viele nicht neurotisch gewordene Menschen

  • S.

    DIE FAMILIENRUMANE DER NEUROTIKER. 55

    entsinnen sich sehr häufig an solche Gelegenheiten, wo sie
    -* meist durch Lektüre beeinflußt —— das feindselige Be—
    nehmen der' Eltern in dieser Weise auffaßten und erwiderten.
    Es zeigt sich aber hier bereits der Einfluß des Geschlechts, indem
    der Knabe bei weitem mehr Neigung zu feindseligen Regungen
    gegen seinen Vater als gegen seine Mutter zeigt und eine
    viel intensivere Neigung, sich von jenem als von dieser trei-
    zumaehen. Die Phantasietätigkeit der Mädchen mag sich in
    diesem Punkte viel schwächer erweisen In diesen bewußt er-
    innerten Seelenregungen (ler Kinderjaln-e finden wir das
    Moment, welches uns das Verständnis des Mythos ermöglicht.:

    »Selten bewußt erinnert, aber fast immer durch die
    Psychoanalyse nachzuweisen ist dann die weitere Entwick-
    lungsstufe dieser beginnden Entfremdung von den Eltern,
    die man mit dem Namen: Familienromnne der Neuro-
    tiker bezeichnen kann. Es gehört nämlich durchaus zum
    Wesen der Neurose und auch jeder höheren Begabung eine
    ganz besondere T' igkeit der Phantasie, die sich zunächst in
    den kindlichen Spielen offenbart und die nun, ungefähr von
    der Zeit der Vorpubertät angefangen, sich des Themas der
    Familienbeziehungen beniäehtigt. Ein charakteristisches Bei-
    spiel dieser besondern Phantasietätigkeit ist das bekannte
    Tngträumen‚‘) das weit über die Pubertät hinaus fort-
    gesetzt wird, Eine genaue Beobachtuug dieser Tagträume
    lehrt, daß sie der Erfüllung von Wünschen, der Korrektur
    des Lebens dienen und vornehmlich zwei Ziele kennen: das
    erotische und das ehrgeizige (hinter dem aber meist auch
    das erotische steckt} Um die angegebene Zeit beschäftigt
    sich nun die Phantasie des Kindes mit der Aufgabe, die
    jetzt gering geschätzten Eltern loszuwerden und durch
    in der Regel sozial höher stehende zu ersetzen. Dabei wird
    das zufällige Zusammentreffen mit wirklichen Erlebnissen
    (die Bekanntschaft des Schloßherrn oder Gutsbesitzers auf

    1) Vgl. darüber Freud: llysterisrjie Plilntnsien und ihre Beziehung
    zu Bisexunlitüt, wo auch auf die Literatur zu diesem Thema verwiesen ist.
    Die Arbeit findet sich in flei- zweiten Folge der ‚simuliuig kleiner Schriften
    zur l\'eurosenlehrm. Wien und Leipzig, 1909.

    n n n k, Geburt des Helden. 5

  • S.

    66 DIE NEURDTISCHEN PHANTASIEN VON HOHER ABKUNFI‘.

    dem Lande, der Fürstlichkeit in der Stadt) eusgenützt.
    Solche zufällige Erlebnisse erwecken den Neid des Kindes,
    der dann den Ausdruck in einer Phantasie findet, welche
    beide Eltern durch vornehmere ersetzt. In der Technik der
    Ausführung solcher Phantasien, die natürlich um diese
    Zeit bewußt sind, kommt es auf die Geschicklichkeit und das
    Material an, das dem Kinde zur Verfügung steht. Auch
    handelt es sich darum, ob die Phantasien mit einem großen
    oder geringen Bemühen, die Wahrscheinlichkeit zu errei—
    chen, ausgearbeitet sind. Dieses Stadium wird zu einer Zeit
    erreicht, wo dein Kinde die Kenntnis der sexuellen Bedin—
    gungen der Herkunft noch fehlt.«

    »Kommt dann die Kenntnis der verschiedener-tigen sexuellen
    Beziehungen von Vater und Mutter dazu, begreift das Kind,
    daß pater semper incertus est, während die Mutter certissirna
    ist, so erfährt der Familienroman eine eigentümliehe Ein-
    schränkung: er begnügt sich nämlich damit, den Vater zu
    erhöhen, die Abkunft von der Mutter aber als etwas Un—
    ebänderliches nicht weiter in Zweifel zu ziehen. Dieses zweite
    (sexuelle) Stadium des Familienromans wird auch von einem
    zweiten Motiv getragen, das dem ersten (asexuellen) Stadium
    fehlte. Mit der Kenntnis der geschleehtlichen Vorgänge ent-
    steht die Neigung, sich erotische Situationen und Beziehungen
    nuszumalen, wozu als Triebkraft die Lust tritt, die Mutter,
    die Gegenstand der höchsten sexuellen Neugierde ist, in die
    Situation von geheimer Untreue und geheimen Liebesver-
    hältnissen zu bringen. In dieser Weise werden jene ersten
    gleichsam asexuellen Phantasien auf die Höhe der jetzigen
    Erkenntnis gebracht_«

    Ȇbrigens zeigt sich das Motiv der Rache und Ver-gel-
    tung, das früher im Vordergrunde stand, auch hier. Diese
    neurotischen Kinder sind es ja auch meist, die bei der Ab»
    gewöhnung sexueller Unarten von den Eltern bestraft wurden,
    und die sich nun durch solche Phantasien an ihren Eltern
    rächen.«

    »Ganz besonders sind es nachgeburene Kinder, die vor
    allem ihre Vordermänner durch derartige Dichtungen (ganz

  • S.

    DEUTUNG UND RECHTFERTIGUNG DIESER PHANTASIEN. 67

    wie in historischen Intrigen) ihres Vorzuges berauhen, ja die
    sich oft nicht scheuen, der Mutter ebensoviele Liebesver-
    hältnisse anzudichten, als Konkurrenten vorhanden sind. Eine
    interessante Variante dieses Familienromans ist es dann, wenn
    der dichtende Held für sich selbst zur Legitimität zurück-
    kehrt, während er die anderen Geschwister auf diese Art als
    illegitim beseitigt. Dabei kann noch ein besonderes Interesse
    den Familienroman dirigieren, der mit seiner Vielseitigkeit
    und mannigfachen Verwendbarkeit allerlei Bestrebungen ent»
    gegenkommt. So beseitigt der kleine Phantast zum Beispiel
    auf diese Weise die verwandtschaftliche Beziehung zu einer
    Schwester, die ihn etwa sexuell angezogen hat.«

    »Wer sich von dieser Verderbtheit des kindlichen Gemütes
    mit Sehaudern abwendete, ja selbst die Möglichkeit solcher
    Dinge bestreiten wollte, dem sei bemerkt, daß alle diese
    anscheinend so feindseligen Dichtungen eigentlich nicht so
    böse gemeint sind und unter leichter Verkleidung die erhalten
    gebliebene ursprüngliche Zärtlichkeit des Kindes für seine
    Eltern bewahren. Es ist nur scheinbare Treulosigkeit und Un-
    dankbarkeit ; denn wenn man die häufigste dieser Roman-
    phantasien, den Ersatz beider Eltern oder nur des Vaters
    durch großartigere Personen, im Detail durchgeht, so macht
    man die Entdeckung, daß diese neuen und vornehmen Eltern
    durchwegs mit Zügen ausgestattet sind, die von realen Er»
    innerungen an die wirklichen niederen Eltern herrühren, so
    daß das Kind denVster eigentlich nicht beseitigt,
    sondern erhöht. Ja, das ganze Bestreben, den
    wirklichen Vater durch einen vornehmeren zu
    ersetzen, ist nur der Ausdruck der Sehnsucht
    des Kindes nach der verlorenen glücklichen Zeit,
    in der ihm sein Vater als der vornehmstc und
    stärkste Mann, seine Mutter als die liebste und
    schönste Frau erschienen ist, Er wendet sich vom
    Vater, den er jetzt erkennt, zurück zu dem, an den er in
    früheren Kinderjahren geglaubt hat, und d i e P h a nt a s ie
    ist eigentlich nur der Ausdruck des Bedauerns,
    daß diese glückliche Z eit entschwunden ist. Die

    5;

  • S.

    68 DER FAMILIENROMAN WIRD

    Überschätzung der frühesten Kindheitsjnhre tritt also in die-
    sen Phantasien wieder in ihr volles Recht Ein interessanter
    Beitrag zu diesem Thema ergibt sich aus dem Studium der
    Träume. Die Traumdeutung lehrt nämlich, (laß auch noch
    in späteren Jahren in Träumen vom Kaiser oder von der
    Kaiserin diese erlauchten Persönlichkeiten Vater und Mutter
    bedeuten}) Die kindliche Überschiitzung der Eltern ist also
    auch im Traum des normalen Erwachsenen erhalten‚«

    Wenn wir nun dar-angehen, die gewonnenen Gesichts-
    punkte auf unser Schema anzuwenden, so gibt uns die Über-
    einstimmung der Tendenz des Familienrmnans und des Helden—
    mythus die Berechtigung, des Ich des Kindes mit dem Helden
    der Sage zu snalogisieren. Erinnern wir uns nur, daß ja der
    Mythus durchgängig das Bestreben verrät, die Eltern loszn»
    werden, und daß derselbe Wunsch in den Phantasien des
    kindlichen Individiurns zu einer Zeit erwacht, wo es seine
    Unabhängigkeit und Selbständigkeit zu erlangen sucht. Das
    Ich des Kindes beniinmt sich dabei wie der Held der Sage
    und eigentlich ist ja der Held immer nur als ein Kollektiv-Ich
    aufzufassen, das mit allen vorzüglichen Eigenschaften ausge-
    stattet wird, ähnlich wie ja auch in der persönlichen dichte-
    rischen Schöpfung der Held meist den Dichter selbst oder
    wenigstens eine Seite seines Wesens darstellt.

    Rufen wir uns die wesentlichen Hauptmotive des Helden-
    mythus: die Geburt von vornehmen Eltern, die Aussetzung
    im Fluß und Kästchen und die Aufziehung durch niedrige
    Eltern — woran sich dann in der weiteren Entwicklung die
    Rückkehr des Helden zu den ersten Eltern, mit oder ohne deren
    Bestrafung, schließt, —- ins Gedächtnis zurück, so ist ohne
    weiteres deutlich, daß die beiden Elternpuare des Mythus den)
    realen und dem imaginierten Elternpaare der Romanphantnsie
    entsprechen. Bei näherexn Zusehen erkennt man denn auch
    hier, ganz wie in den kindlichen und neurotischen Phanta-
    sien, die psychologische Identität des niederen und des vor-
    nehmen Elternpaares, Auch beginnt der Mythus, entsprechend

    !) Traumdeutung, e. Aqu, s. 200.

  • S.

    SCHRIFTEN ZUR ANGEWANDTEN SEELIENKÜNDE

    I'IERAIJSGEGIZBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD \_‚‘.f
    FÜNFTES HEFT

    DER MYTHUS VON DER
    GEBURT DES HELDEN.

    VERSUCH EINER

    PSYCHOLOGI‘SCHEN MYTHENDEUTUNG

    VON

    OTTO RANK. / msr1ww \
    [ PSYCHC- ;(NALrsxs

    LEIPZIG UND WIEN

    FRANZ DEUTICKE
    1909

    Vexlnefl-NL ms