Der Untergang des Ödipuskomplexes 1924-003/1924.1
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    [Metadaten zu den Personen, die zur Generierung dieses Textes beigetragen haben:

    Christine Diercks: Konzept, Richtlinien, Aufbau der Datenbank, Quellenforschung, Signaturen

    Julian Roedelius: technische Umsetzung der Datenbank

    Arkadi Blatow: Quellenforschung, Digitalisierung der Datenquellen, Bildbearbeitung, Faksimile-Ausgabe, Bibliografie

    Christine Diercks: Diplomatische Umschrift, Lektorat]

     

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    Der Untergang des Ödipuskomplexes

    Von

    Sigm. Freud

    Immer mehr enthüllt der Ödipuskomplex seine Bedeutung als das
    zentrale Phänomen der frühkindlichen Sexualperiode. Dann geht
    er unter, er erliegt der Verdrängung, wie wir sagen, und ihm folgt
    die Latenzzeit. Es ist aber noch nicht klar geworden, woran er
    zugrunde geht; die Analysen scheinen zu lehren: an den vor-
    fallenden schmerzhaften Enttäuschungen. Das kleine Mädchen,
    das sich für die bevorzugte Geliebte des Vaters halten will, muß
    einmal eine harte Züchtigung durch den Vater erleben und sieht
    sich aus allen Himmeln gestürzt. Der Knabe, der die Mutter
    als sein Eigentum betrachtet, macht die Erfahrung, daß sie Liebe
    und Sorgfalt von ihm weg auf einen neu Angekommenen richtet.
    Die Überlegung vertieft den Wert dieser Einwirkungen, indem
    sie betont, daß solche peinliche Erfahrungen, die dem Inhalt des
    Komplex es widerstreiten, unvermeidlich sind. Auch wo nicht
    besondere Ereignisse, wie die als Proben erwähnten, vorfallen, muß das
    Ausbleiben der erhofften Befriedigung, die fortgesetzte Versagung
    des gewünschten Kindes, es dahin bringen, daß sich der kleine
    Verliebte von seiner hoffnungslosen Neigung abwendet. Der Ödipus-
    komplex ginge so zugrunde an seinem Mißerfolg, dem Ergebnis
    seiner inneren Unmöglichkeit.

    Eine andere Auffassung wird sagen, der Ödipuskomplex muß fallen,
    weil die Zeit für seine Auflösung gekommen ist, wie die Milchzähne

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    ausfallen, wenn die definitiven nachrücken. Wenn der Ödipuskomplex
    auch von den meisten Menschenkindern individuell durchlebt wird,
    so ist er doch ein durch die Heredität bestimmtes, von ihr angelegtes
    Phänomen, welches programmgemäß vergehen muß, wenn die
    nächste vorherbestimmte Entwicklungsphase einsetzt. Es ist dann
    ziemlich gleichgültig, auf welche Anlässe hin das geschieht, oder
    ob solche überhaupt nicht ausfindig zu machen sind.

    Beiden Auffassungen kann man ihr Recht nicht abstreiten. Sie
    vertragen sich aber auch miteinander; es bleibt Raum für die
    ontogenetische neben der weiter schauenden phylogenetischen.
    Auch dem ganzen Individuum ist es ja schon bei seiner Geburt
    bestimmt zu sterben und seine Organanlage enthält vielleicht
    bereits den Hinweis, woran. Doch bleibt es von Interesse
    zu verfolgen, wie dies mitgebrachte Programm ausgeführt wird,
    in welcher Weise zufällige Schädlichkeiten die Disposition aus-
    nützen.

    Unser Sinn ist neuerlich für die Wahrnehmung geschärft
    worden, daß die Sexualentwicklung des Kindes bis zu einer Phase
    fortschreitet, in der das Genitale bereits die führende Rolle über-
    nommen hat. Aber dies Genitale ist allein das männliche, genauer
    bezeichnet der Penis, das weibliche ist unentdeckt geblieben.
    Diese phallische Phase, gleichzeitig die des Ödipuskomplexes,
    entwickelt sich nicht weiter zur endgültigen Genitalorganisation,
    sondern sie versinkt und wird von der Latenzzeit abgelöst. Ihr
    Ausgang vollzieht sich aber in typischer Weise und in Anlehnung
    an regelmäßig wiederkehrende Geschehnisse.

    Wenn das (männliche) Kind sein Interesse dem Genitale
    zugewendet hat, so verrät es dies auch durch ausgiebige manuelle
    Beschäftigung mit demselben und muß dann die Erfahrung
    machen, daß die Erwachsenen mit diesem Tun nicht einverstanden
    sind. Es tritt mehr oder minder deutlich, mehr oder weniger
    brutal, die Drohung auf, daß man ihn dieses von ihm hoch-
    geschätzten Teiles berauben werde. Meist sind es Frauen, von
    denen die Kastrationsdrohung ausgeht, häufig suchen sie ihre

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    Autorität dadurch zu verstärken, daß sie sich  auf den Vater oder
    den Doktor berufen, der nach ihrer Versicherung die Strafe voll-
    ziehen wird. In einer Anzahl von Fällen nehmen die Frauen
    selbst eine symbolische Milderung der Androhung vor, indem sie
    nicht die Beseitigung des eigentlich passiven Genitales, sondern
    die der aktiv sündigenden Hand ankündigen. Ganz besonders
    häufig geschieht es, daß das Knäblein nicht darum von der
    Kastrationsdrohung betroffen wird, weil es mit der Hand am
    Penis spielt, sondern weil es allnächtlich sein Lager näßt und
    nicht rein zu bekommen ist. Die Pflegepersonen benehmen sich
    so, als wäre diese nächtliche Inkontinenz Folge von und Beweis
    für allzueifrige Beschäftigung mit dem Penis und haben wahr-
    scheinlich Recht darin. Jedenfalls ist das andauernde Bettnässen
    der Pollution des Erwachsenen gleichzustellen, ein Ausdruck der
    nämlichen Genitalerregung, welche das Kind um diese Zeit zur
    Masturbation gedrängt hat.

    Die Behauptung ist nun, daß die phallische Genitalorganisation
    des Kindes an dieser Kastrationsdrohung zugrunde geht. Aller-
    dings nicht sofort und nicht ohne daß weitere Einwirkungen
    dazukommen. Denn der Knabe schenkt der Drohung zunächst
    keinen Glauben und keinen Gehorsam. Die Psychoanalyse hat
    neuerlichen Wert auf zweierlei Erfahrungen gelegt, die keinem
    Kinde erspart bleiben und durch die es auf den Verlust wert-
    geschätzter Körperteile vorbereitet sein sollte, auf die zunächst
    zeitweilige, später einmal endgültige Entziehung der Mutterbrust
    und auf die täglich erforderte Abtrennung des Darminhaltes.
    Aber man merkt nichts davon, daß diese Erfahrungen beim
    Anlaß der Kastrationsdrohung zur Wirkung kommen würden.
    Erst nachdem eine neue Erfahrung gemacht worden ist, beginnt
    das Kind mit der Möglichkeit einer Kastration zu rechnen, auch
    dann nur zögernd, widerwillig und nicht ohne das Bemühen, die
    Tragweite der eigenen Beobachtung zu verkleinern.

    Die Beobachtung, welche den Unglauben des Kindes endlich
    bricht, ist die des weiblichen Genitales. Irgend einmal bekommt

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    das auf seinen Penisbesitz stolze Kind die Genitalregion eines
    kleinen Mädchens zu Gesicht und muß sich von dem Mangel
    eines Penis bei einem ihm so ähnlichen Wesen überzeugen. Damit
    ist auch der eigene Penisverlust vorstellbar geworden, die Kastrations-
    drohung gelangt nachträglich zur Wirkung.

    Wir dürfen nicht so kurzsichtig sein wie die mit der Kastration
    drohende Pflegeperson und sollen nicht übersehen, daß sich das
    Sexualleben des Kindes um diese Zeit keineswegs in der Mastur-
    bation erschöpft. Es steht nachweisbar in der Ödipuseinstellung
    zu seinen Eltern, die Masturbation ist nur die genitale Abfuhr
    der zum Komplex gehörigen Sexualerregung und wird dieser
    Beziehung ihre Bedeutung für alle späteren Zeiten verdanken.
    Der Ödipuskomplex bot dem Kinde zwei Möglichkeiten der
    Befriedigung, eine aktive und eine passive. Es konnte sich in
    männlicher Weise an die Stelle des Vaters setzen und wie er
    mit der Mutter verkehren, wobei der Vater bald als Hindernis
    empfunden wurde, oder es wollte die Mutter ersetzen und sich
    vom Vater lieben lassen, wobei die Mutter überflüssig wurde.
    Worin der befriedigende Liebesverkehr bestehe, darüber mochte
    das Kind nur sehr unbestimmte Vorstellungen haben; gewiß
    spielte aber der Penis dabei eine Rolle, denn dies bezeugten seine
    Organgefühle. Zum Zweifel am Penis des Weibes war noch kein
    Anlaß. Die Annahme der Kastrationsmöglichkeit, die Einsicht, daß
    das Weib kastriert sei, machte nun beiden Möglichkeiten der
    Befriedigung aus dem Ödipuskomplex ein Ende. Beide brachten
    ja den Verlust des Penis mit sich, die eine, männliche, als Straf-
    folge, die andere, weibliche, als Voraussetzung. Wenn die Liebes
    befriedigung auf dem Boden des Ödipuskomplexes den Penis
    kosten soll, so muß es zum Konflikt zwischen dem narzißtischen
    Interesse an diesem Körperteile und der libidinösen Besetzung
    der elterlichen Objekte kommen. In diesem Konflikt siegt normaler-
    weise die erstere Macht; das Ich des Kindes wendet sich vom
    Ödipuskomplex ab.

    Ich habe an anderer Stelle ausgeführt, in welcher Weise dies

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    vor sich geht. Die Objektbesetzungen werden aufgegeben und
    durch Identifizierung ersetzt. Die ins Ich introjizierte Vater- oder
    Elternautorität bildet dort den Kern des Über-Ichs, welches vom
    Vater die Strenge entlehnt, sein Inzestverbot perpetuiert und so
    das Ich gegen die Wiederkehr der libidinösen Objektbesetzung
    versichert. Die dem Ödipuskomplex zugehörigen libidinösen
    Strebungen werden zum Teil desexualisiert und sublimiert, was
    wahrscheinlich bei jeder Umsetzung in Identifizierung geschieht,
    zum Teil zielgehemmt und in zärtliche Regungen verwandelt.
    Der ganze Prozeß hat einerseits das Genitale gerettet, die Gefahr
    des Verlustes von ihm abgewendet, anderseits es lahmgelegt, seine
    Funktion aufgehoben. Mit ihm setzt die Latenzzeit ein, die nun
    die Sexualentwicklung des Kindes unterbricht.

    Ich sehe keinen Grund, der Abwendung des Ichs vom Ödipus-
    komplex den Namen einer “Verdrängung” zu versagen, obwohl
    spätere Verdrängungen meist unter der Beteiligung des Über-Ichs
    zustandekommen werden, welches hier erst gebildet wird. Aber
    der beschriebene Prozeß ist mehr als eine Verdrängung, er kommt,
    wenn ideal vollzogen, einer Zerstörung und Aufhebung des
    Komplexes gleich. Es liegt nahe anzunehmen, daß wir hier auf
    die niemals ganz scharfe Grenzscheide zwischen Normalem und
    Pathologischem gestoßen sind. Wenn das Ich wirklich nicht viel
    mehr als eine Verdrängung des Komplexes erreicht hat, dann
    bleibt dieser im Es unbewußt bestehen und wird später seine
    pathogene Wirkung äußern.

    Solche Zusammenhänge zwischen phallischer Organisation,
    Ödipuskomplex, Kastrationsdrohung, Über-Ichbildung und Latenz-
    periode läßt die analytische Beobachtung erkennen oder erraten.
    Sie rechtfertigen den Satz, daß der Ödipuskomplex an der
    Kastrationsdrohung zugrunde geht. Aber damit ist das Problem
    nicht erledigt, es bleibt Raum für eine theoretische Spekulation,
    welche das gewonnene Resultat umwerfen oder in ein neues

    Licht rücken kann. Ehe wir aber diesen Weg beschreiten, müssen
    wir uns einer Frage zuwenden, welche sich während unserer

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    bisherigen Erörterungen erhoben hat und so lange zur Seite
    gedrängt wurde. Der beschriebene Vorgang bezieht sich, wie
    ausdrücklich gesagt, nur auf das männliche Kind. Wie vollzieht
    sich die entsprechende Entwicklung beim kleinen Mädchen?

    Unser Material wird hier – unverständlicherweise – weit
    dunkler und lückenhafter. Auch das weibliche Geschlecht ent-
    wickelt einen Ödipuskomplex, ein Über-Ich und eine Latenzzeit.
    Kann man ihm auch eine phallische Organisation und einen
    Kastrationskomplex zusprechen? Die Antwort lautet bejahend,
    aber es kann nicht dasselbe sein wie beim Knaben. Die femi-
    nistische Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter
    trägt hier nicht weit, der morphologische Unterschied muß sich
    in Verschiedenheiten der psychischen Entwicklung äußern. Die
    Anatomie ist das Schicksal, um ein Wort Napoleons zu variieren.
    Die Klitoris des Mädchens benimmt sich zunächst ganz wie ein
    Penis, aber das Kind nimmt durch die Vergleichung mit einem
    männlichen Gespielen wahr, daß es „zu kurz gekommen“ ist, und
    empfindet diese Tatsache als Benachteiligung und Grund zur
    Minderwertigkeit. Es tröstet sich noch eine Weile mit der
    Erwartung, später, wenn es heranwächst, ein ebenso großes
    Anhängsel wie ein Bub zu bekommen. Hier zweigt dann der

    Männlichkeitskomplex des Weibes ab. Seinen aktuellen Mangel ver-
    steht das weibliche Kind aber nicht als Geschlechtscharakter, sondern
    erklärt ihn durch die Annahme, daß es früher einmal ein ebenso großes
    Glied besessen und dann durch Kastration verloren hat. Es scheint
    diesen Schluß nicht von sich auf andere, erwachsene Frauen
    auszudehnen, sondern diesen, ganz im Sinne der phallischen
    Phase, ein großes und vollständiges, also männliches, Genitale
    zuzumuten. Es ergibt sich also der wesentliche Unterschied,
    daß das Mädchen die Kastration als vollzogene Tatsache akzep-
    tiert, während sich der Knabe vor der Möglichkeit ihrer Voll-
    ziehung fürchtet.

    Mit der Ausschaltung der Kastrationsangst entfällt auch ein
    mächtiges Motiv zur Aufrichtung des Über-Ichs und zum Abbruch

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    der infantilen Genitalorganisation. Diese Veränderungen scheinen
    weit eher als beim Knaben Erfolg der Erziehung, der äußeren Ein-
    schüchterung zu sein, die mit dem Verlust des Geliebtwerdens droht.
    Der Ödipuskomplex des Mädchens ist weit eindeutiger als der des
    kleinen Penisträgers, er geht nach meiner Erfahrung nur selten
    über die Substituierung der Mutter und die feminine Einstellung
    zum Vater hinaus. Der Verzicht auf den Penis wird nicht ohne
    einen Versuch der Entschädigung vertragen. Das Mädchen gleitet
    – man möchte sagen: längs einer symbolischen Gleichung –
    vom Penis auf das Kind hinüber, sein Ödipuskomplex gipfelt in
    dem lange festgehaltenen Wunsch, vom Vater ein Kind als
    Geschenk zu erhalten, ihm ein Kind zu gebären. Man hat den
    Eindruck, daß der Ödipuskomplex dann langsam verlassen wird,
    weil dieser Wunsch sich nie erfüllt. Die beiden Wünsche nach
    dem Besitz eines Penis und eines Kindes bleiben im Unbewußten
    stark besetzt erhalten und helfen dazu, das weibliche Wesen für
    seine spätere geschlechtliche Rolle bereit zu machen. Die
    geringere Stärke des sadistischen Beitrages zum Sexualtrieb, die
    man wohl mit der Verkümmerung des Penis zusammenbringen
    darf, erleichtert die Verwandlung der direkt sexuellen Strebungen
    in zielgehemmte zärtliche. Im ganzen muß man aber zugestehen,
    daß unsere Einsichten in diese Entwicklungsvorgänge beim
    Mädchen unbefriedigend, lücken- und schattenhaft sind.

    Ich zweifle nicht daran, daß die hier beschriebenen zeitlichen
    und kausalen Beziehungen zwischen Ödipuskomplex, Sexual-
    einschüchterung (Kastrationsdrohung), Über-Ichbildung und Eintritt
    der Latenzzeit von typischer Art sind; ich will aber nicht
    behaupten, daß dieser Typus der einzig mögliche ist. Abände-
    rungen in der Zeitfolge und in der Verkettung dieser Vorgänge
    müssen für die Entwicklung des Individuums sehr bedeutungs-
    voll werden.

    Seit der Veröffentlichung von O. Ranks interessanter Studie
    über das „Trauma der Geburt” kann man auch das Resultat
    dieser kleinen Untersuchung, der Ödipuskomplex des Knaben gehe

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    an der Kastrationsangst zugrunde, nicht ohne weitere Diskussion
    hinnehmen. Es erscheint mir aber vorzeitig, heute in diese
    Diskussion einzugehen, vielleicht auch unzweckmäßig, die Kritik
    oder Würdigung der Rankschen Auffassung an solcher Stelle
    zu beginnen.