Die Disposition zur Zwangsneurose 1913-010/1924
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    DIE DISPOSITION ZUR ZWANGSNEUROSE

    Ein Beitrag zum Problem der Neurosenwahl

    Vortrag auf dem Psychoanalytischen Kongreß
    zu München 1913, abgedruckt in der „Internationalen
    Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse“, I, 1913,
    und dann in der Vierten Folge der „Sammlung
    Kleiner Schriften zur Neurosenlehre“,

    Das Problem, warum und wieso ein Mensch an einer Neurose
    erkranken kann, gehört gewiß zu jenen, die von der Psycho-
    analyse beantwortet werden sollen. Es ist aber wahrscheinlich, daB
    diese Antwort erst über ein anderes und spezielleres wird gegeben
    werden können, über das Problem, warum diese und jene
    Person gerade an der einen bestimmten Neurose, und an
    keiner anderen, erkranken muB. Dies ist das Problem der Neu-
    rosenwahl.

    Was wissen wir bis jetzt zu diesem Problem? Eigentlich ist
    hier nur ein einziger allgemeiner Satz gesichert. Wir unterscheiden
    die fiir die Neurosen in Betracht kommenden Krankheitsursachen
    in solche, die der Mensch ins Leben mitbringt, und solche, die
    das Leben an ihn heranbringt, konstitutionelle und akzidentelle,
    durch deren Zusammenwirken erst in der Regel die Krankheits-
    verursachung hergestellt wird. Nun besagt der eben angekündigte
    Satz, daß die Gründe fiir die Entscheidung der Neurosen-
    wahl durchwegs von der ersteren Art sind, also von der Natur
    der Dispositionen, und unabhängig von den pathogen wirkenden
    Erlebnissen.

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    278 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    Worin suchen wir die Herkunft dieser Dispositionen? Wir
    sind aufmerksam darauf geworden, daB die in Betracht kommenden
    psychischen Funktionen — vor allem die Sexualfunktion, aber
    ebenso verschiedene wichtige Ichfunktionen — eine lange und
    komplizierte Entwicklung durchzumachen haben, bis sie zu dem
    får den normalen Erwachsenen charakteristischen Zustand gelangen.
    Wir nehmen nun an, daB diese Entwicklungen nicht immer so
    tadellos vollzogen werden, daB die gesamte Funktion der fort-
    schrittlichen Verånderung unterliege. Wo ein Stiick derselben die
    vorige Stufe festhält, da ergibt sich eine sogenannte , Fixierungs-
    stelle, zu welcher die Funktion im Falle der Erkrankung durch
    äuBerliche Störung regredieren kann.

    Unsere Dispositionen sind also Entwicklungshemmungen. Die
    Analogie mit den Tatsachen der allgemeinen Pathologie anderer
    Krankheiten bestårkt uns in dieser Auffassung. Bei der Frage,
    welche Faktoren solche Störungen der Entwicklung ‘hervorrufen
    können, macht aber die psychoanalytische Arbeit Halt und über-
    läßt dies Problem der biologischen Forschung.‘

    Mit Hilfe dieser Voraussetzungen haben wir uns bereits vor
    einigen Jahren an das Problem der Neurosenwahl herangewagt.
    Unsere Arbeitsrichtung, welche dahin geht, die normalen Ver-
    hältnisse aus ihren Störungen zu erraten, hat uns dazu geführt,
    einen ganz besonderen und unerwarteten Angriffspunkt zu wählen.
    Die Reihenfolge, in welcher die Hauptformen der Psychoneurosen
    gewöhnlich aufgeführt werden — Hysterie, Zwangsneurose, Paranoia,
    Dementia praecox — entspricht (wenn auch nicht völlig genau) der
    Zeitfolge, in der diese Affektionen im Leben hervorbrechen. Die
    hysterischen Krankheitsformen können schon in der ersten Kindheit
    beobachtet werden, die Zwangsneurose offenbart ihre ersten Sym-
    ptome gewöhnlich in der zweiten Periode der Kindheit (von sechs

    1) Seitdem die Arbeiten von W. FlieB die Bedeutung bestimmter Zeitgrößen
    für die Biologie aufgedeckt haben, ist es denkbar geworden, daß sich Entwicklungs“
    störung auf zeitliche Abänderung von Entwicklungsschüben zurückführt.

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    Die Disposition zur Zwangsneurose 279

    bis acht Jahren an); die beiden anderen, von mir als Paraphrenie
    zusammengefaBten Psychoneurosen zeigen sich erst nach der Pubertåt
    und im Alter der Reife. Diese zuletzt auftretenden Affektionen
    haben sich nun unserer Forschung nach den in die Neurosenwahl
    auslaufenden Dispositionen zuerst zugånglich erwiesen. Die ihnen
    beiden eigentümlichen Charaktere des GróBenwahns, der Abwen-
    dung von der Welt der Objekte und der Erschwerung der Uber
    tragung haben uns zum Schlusse genötigt, daß deren disponierende
    Fixierung in einem Stadium der Libidoentwicklung v or der Her-
    stellung der Objektwahl, also in der Phase des Autoerotismus und
    des NarziBmus zu suchen ist. Diese so spåt auftretenden Erkrankungs-
    formen gehen also auf sehr frühzeitige Hemmungen und
    Fixierungen zurück.

    Demnach wiirden wir darauf hingewiesen, die Disposition får
    Hysterie und Zwangsneurose, die beiden eigentlichen Ubertragungs-
    neurosen mit frithzeitiger Symptombildung, in den jüngeren Phasen
    der Libidoentwicklung zu vermuten. Allein worin wire hier die
    Entwicklungshemmung zu finden und vor allem, welches wire
    der Phasenunterschied, der die Disposition zur Zwangsneurose
    im Gegensatz zur Hysterie begriinden sollte? Dariiber war lange
    nichts zu erfahren, und meine frither unternommenen Versuche,
    diese beiden Dispositionen zu erraten, z. B. daB die Hysterie durch
    Passivität, die Zwangsneurose durch Aktivität im infantilen Erleben
    bedingt sein sollte, muBten bald als verfehlt abgewiesen werden.

    Ich kehre nun auf den Boden der klinischen Einzelbeobachtung
    zuriick. Ich habe lange Zeit hindurch eine Kranke studiert, deren
    Neurose eine ungewöhnliche Wandlung durchgemacht hatte.
    Dieselbe begann nach einem traumatischen Erlebnis als glatte
    Angsthysterie und behielt diesen Charakter durch einige Jahre
    bei. Hines Tages aber verwandelte sie sich plötzlich in. eine
    Zwangsneurose von der schwersten Art. Ein solcher Fall mußte
    nach mehr als einer Richtung bedeutsam werden. Einerseits konnte
    er vielleicht den Wert eines bilinguen Dokuments beanspruchen

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    280 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    und zeigen, wie ein identischer Inhalt von den beiden Neurosen
    in verschiedenen Sprachen ausgedrückt wird. Anderseits drohte
    er, unserer Theorie der Disposition durch Entwicklungshemmung
    überhaupt zu widersprechen, wenn man sich nicht zur Annahme
    entschlieBen wollte, daB eine Person auch mehr als eine einzige
    schwache Stelle in ihrer Libidoentwicklung mitbringen könne,
    Ich sagte mir, daß man kein Recht habe, diese letztere Möglichkeit
    abzuweisen, war aber auf das Verständnis dieses Krankheitsfalles
    sehr gespannt.

    Als dieses im Laufe der Analyse kam, mußte ich sehen, daß
    die Sachlage ganz anders war, als ich sie mir vorgestellt hatte.
    Die Zwangsneurose war nicht eine weitere Reaktion auf das
    nämliche Trauma, welches zuerst die Angsthysterie hervorgerufen
    hatte, sondern auf ein zweites Erlebnis, welches das erste völlig
    entwertet hatte. (Also, eine — allerdings noch diskutierbare —
    Ausnahme von unserem Satze, der die Unabhängigkeit der Neurosen-
    wahl vom Erleben behauptet.)

    Ich kann leider — aus bekannten Motiven — auf die Kranken-
    geschichte des Falles nicht so weit eingehen, wie ich gern möchte,
    sondern muß mich auf nachstehende Mitteilungen beschränken.
    Die Patientin war bis zu ihrer Erkrankung eine glückliche, fast
    völlig befriedigte Frau gewesen. Sie wünschte sich Kinder aus
    Motiven infantiler Wunschfixierung und erkrankte, als sie erfuhr,
    daß sie von ihrem ausschließend geliebten Manne keine Kinder
    bekommen könne, Die Angsthysterie, mit welcher sie auf diese
    Versagung reagierte, entsprach, wie sie bald selbst verstehen
    lernte, der Abweisung von Versuchungsphantasien, in denen sich der
    festgehaltene Wunsch nach einem Kinde durchsetzte. Sie tat nun
    alles dazu, um ihren Mann nicht erraten zu lassen, daß sie infolge
    der durch ihn determinierten Versagung erkrankt sei. Aber ich
    habe nicht ohne gute Gründe behauptet, daß jeder Mensch in
    seinem eigenen UnbewuBten ein Instrument besitzt, mit dem er
    die Äußerungen des Unbewußten beim anderen zu deuten vermag;

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    Die Disposition zur Zwangsneurose 281

    der Mann verstand ohne Geständnis oder Erklärung, was die Angst
    seiner Frau bedeute, kränkte sich darüber, ohne es zu zeigen, und
    reagierte nun seinerseits neurotisch, indem er — zum erstenmal
    — beim Eheverkehr versagte. Unmittelbar darauf reiste er ab, die
    Frau hielt ihn fiir dauernd impotent geworden und produzierte
    die ersten Zwangssymptome an dem Tage vor seiner erwarteten
    Rückkunft.

    Der Inhalt ihrer Zwangsneurose bestand in einem peinlichen
    Wasch- und Reinlichkeitszwang und in höchst energischen Schutz-
    maBregeln gegen böse Schädigungen, welche andere von ihr zu
    befürchten hätten, also in Reaktionsbildungen gegen anal-
    erotische und sadistische Regungen. In solchen Formen
    mubte sich ihr Sexualbedürfnis äuBern, nachdem ihr Genital-
    leben durch die Impotenz des für sie einzigen Mannes eine volle
    Entwertung erfahren hatte.

    An diesen Punkt hat das kleine, von mir neugebildete Stückchen
    Theorie angeknüpft, welches natiirlich nur scheinbar auf dieser
    einen Beobachtung ruht, in Wirklichkeit eine groBe Summe
    früherer Eindrücke zusammenfaBt, die aber erst nach dieser letzten
    Erfahrung fähig wurden, eine Einsicht zu ergeben. Ich sagte
    mir, daß mein Entwicklungsschema der libidinösen Funktion einer
    neuen Einschaltung bedarf. Ich hatte zuerst nur unterschieden
    die Phase des Autoerotismus, in welcher die einzelnen Partial-
    triebe, jeder für sich, ihre Lustbefriedigung am eigenen Leibe
    suchen, und dann die Zusammenfassung aller Partialtriebe zur
    Objektwahl unter dem Primat der Genitalien im Dienste der
    Fortpflanzung. Die Analyse der Paraphrenien hat uns, wie bekannt,
    genötigt, dazwischen ein Stadium des Narzißmus einzuschieben,
    in dem die Objektwahl bereits erfolgt ist, aber das Objekt noch
    mit dem eigenen Ich zusammenfällt. Und nun sehen wir die
    Notwendigkeit ein, ein weiteres Stadium vor der Endgestaltung
    gelten zu lassen, in dem die Partialtriebe bereits zur Objekt-
    wahl zusammengefaßt sind, das Objekt sich der eigenen Person

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    282 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    schon als eine fremde gegeniiberstellt, aber der Primat der
    Genitalzonen noch nicht aufgerichtet ist. Die
    Partialtriebe, welche diese prägenitale Organisation des Sexual-
    lebens beherrschen, sind vielmehr die analerotischen und die
    sadistischen.

    Ich weiB, daB jede solche Aufstellung zunächst befremdend
    klingt. Erst durch die Aufdeckung ihrer Beziehungen zu unserem
    bisherigen Wissen wird sie uns vertraut, und am Ende ist ihr
    Schicksal häufig, daß sie als eine geringfügige, längst geahnte
    Neuerung erkannt wird. Wenden wir uns also mit ähnlichen
    Erwartungen zur Diskussion der ,,prågenitalen Sexualordnung“.

    a) Es ist bereits vielen Beobachtern aufgefallen und zuletzt
    mit besonderer Schärfe von E. Jones hervorgehoben worden,
    welche außerordentliche Rolle die Regungen von Haß und Anal-
    erotik in der Symptomatologie der Zwangsneurose spielen.‘ Dies
    leitet sich nun unmittelbar aus unserer Aufstellung ab, wenn es
    diese Partialtriebe sind, welche in der Neurose die Vertretung der
    Genitaltriebe wieder übernommen haben, deren Vorgänger sie in
    der Entwicklung waren.

    Hier fügt sich nun das bisher zurückgehaltene Stück aus der
    Krankengeschichte unseres Falles ein. Das Sexualleben der Patientin
    begann im zartesten Kindesalter mit sadistischen Schlagephantasien.
    Nach deren Unterdrückung setzte eine ungewöhnlich lange
    Latenzzeit ein, in welcher das Mädchen eine hochreichende
    moralische Entwicklung durchmachte, ohne zum weiblichen
    Sexualempfinden zu erwachen. Mit der in jungen Jahren
    geschlossenen Ehe begann eine Periode normaler Sexualbetåtigung
    als glückliche Frau, die durch eine Reihe von Jahren anhielt, bis
    die erste groBe Versagung die hysterische Neurose brachte. Mit der
    darauf folgenden Entwertung des Genitallebens sank ihr Sexual-
    leben, wie erwähnt, auf die infantile Stufe des Sadismus zurück.

    1) E. Jones: HaB und Analerotik in der Zwangsneurose. (Intern. Zeitschrift
    für ärztl. Psychoanalyse, I, 1915, H. 5.)

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    Die Disposition zur Zwangsneurose 283

    Es ist nicht schwer, den Charakter, zu bestimmen, in welchem
    sich dieser Fall von Zwangsneurose von den häufigeren anderen
    unterscheidet, die in jüngeren Jahren beginnen und von da an
    chronisch mit mehr oder weniger auffälligen Exazerbationen
    verlaufen. In diesen anderen Fillen wird die Sexualorganisation,
    welche die Disposition zur Zwangsneurose enthält, einmal her-
    gestellt, nie wieder völlig überwunden; in unserem Falle ist sie
    zuerst durch die höhere Entwicklungsstufe abgelöst und dann
    durch Regression von dieser her wieder aktiviert worden.

    b) Wenn wir von unserer Aufstellung aus den Anschluß an
    biologische Zusammenhänge suchen, dürfen wir nicht vergessen,
    daß der Gegensatz von männlich und weiblich, welcher von
    der Fortpflanzungsfunktion eingeführt wird, auf der Stufe der
    prägenitalen Objektwahl noch nicht vorhanden sein kann. An
    seiner Statt finden wir den Gegensatz von Strebungen mit aktivem
    und passivem Ziel, der sich späterhin mit dem Gegensatz der
    Geschlechter verlöten wird. Die Aktivität wird vom gemeinen
    Bemächtigungstrieb beigestellt, den wir eben Sadismus heißen,
    wenn wir ihn im Dienste der Sexualfunktion finden; er hat auch
    im vollentwickelten normalen Sexualleben wichtige Helferdienste
    zu verrichten. Die passive Strémung wird von der Analerotik
    gespeist, deren erogene Zone der alten, undifferenzierten Kloake
    entspricht. Die Betonung dieser Analerotik auf der prågenitalen
    Organisationsstufe wird beim Manne eine bedeutsame Prädispo-
    sition zur Homosexualität hinterlassen, wenn die nächste Stufe
    der Sexualfunktion, die des Primats der Genitalien, erreicht wird.
    Der Aufbau dieser letzten Phase über der vorigen und die
    dabei erfolgende Umarbeitung der Libidobesetzungen bietet der
    analytischen Forschung die interessantesten Aufgaben.

    Man kann der Meinung sein, daB man sich allen hier in
    Betracht kommenden Schwierigkeiten und Komplikationen entzieht,
    wenn man eine prågenitale Organisation des Sexuallebens verleugnet
    und das Sexualleben mit der Genital- und Fortpflanzungsfunktion

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    284 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    zusammenfallen, wie auch mit ihr beginnen läßt. Von den
    Neurosen würde man dann mit Rücksicht auf die nicht miB-
    verständlichen Ergebnisse der analytischen Forschung aussagen,
    daB sie durch den ProzeB der Sexualverdringung dazu genötigt
    werden, sexuelle Strebungen durch andere nicht sexuelle Triebe
    auszudrücken, die letzteren also kompensatorisch zu sexualisieren.
    Wenn man so verfährt, hat man sich aber außerhalb der Psycho-
    analyse begeben. Man steht wieder dort, wo man sich vor der
    Psychoanalyse befand, und muß auf das durch sie vermittelte
    Verständnis des Zusammenhanges zwischen Gesundheit, Perversion
    und Neurose verzichten. Die Psychoanalyse steht und fällt mit
    der Anerkennung der sexuellen Partialtriebe, der erogenen Zonen
    und der so gewonnenen Ausdehnung des Begriffes „Sexual-
    funktion“ im Gegensatz zur engeren ,,Genitalfunktion“.: Übrigens
    reicht die Beobachtung der normalen Entwicklung des Kindes
    für sich allein hin, um eine solche Versuchung zurück-
    zuweisen.

    c) Auf dem Gebiete der Charakterentwicklung müssen wir
    denselben Triebkräften begegnen, deren Spiel wir in den Neurosen
    aufgedeckt haben. Eine scharfe theoretische Scheidung der beiden
    wird aber durch den einen Umstand geboten, daß beim Charakter
    wegfällt, was dem Neurosenmechanismus eigentümlich ist, das
    Mißglücken der Verdrängung und die Wiederkehr des Verdrängten.
    Bei der Charakterbildung tritt die Verdrängung entweder nicht
    in Aktion oder sie erreicht glatt ihr Ziel, das Verdrängte durch
    Reaktionsbildungen und Sublimierungen zu ersetzen. Darum sind
    die Prozesse der Charakterbildung undurchsichtiger und der
    Analyse unzugänglicher als die neurotischen.

    Gerade auf dem Gebiete der Charakterentwicklung begegnet
    uns aber eine gute Analogie zu dem von uns beschriebenen
    Krankheitsfalle, also eine Bekräftigung der prägenitalen sadistisch-
    analerotischen Sexualorganisation. Es ist bekannt und hat den
    Menschen viel Stoff zur Klage gegeben, daß die Frauen häufig,

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    Die Disposition zur Zwangsneurose 285

    nachdem sie ihre Genitalfunktionen aufgegeben haben, ihren
    Charakter in eigentiimlicher Weise verändern. Sie werden zänkisch,
    quálerisch und rechthaberisch, kleinlich und geizig, zeigen also
    typische sadistische und analerotische Ziige, die ihnen vorher in
    der Epoche der Weiblichkeit nicht eigen waren. Lustspieldichter
    und Satiriker haben zu allen Zeiten ihre Invektiven gegen den
    „alten Drachen“ gerichtet, zu dem das holde Mädchen, die
    liebende Frau, die zårtliche Mutter geworden ist. Wir verstehen,
    daB diese Charakterwandlung der Regression des Sexuallebens
    auf die prägenitale sadistisch-analerotische Stufe entspricht, in
    welcher wir die Disposition zur Zwangsneurose gefunden haben.
    Sie wire also nicht nur die Vorlåuferin der genitalen Phase,
    sondern oft genug auch ihre Nachfolge und Ablösung, nachdem
    die Genitalien ihre Funktion erfüllt haben.

    Der Vergleich einer solchen Charakterveränderung mit der
    Zwangsneurose ist sehr eindrucksvoll. In beiden Fållen das Werk
    der Regression, aber im ersten Falle volle Regression nach glatt
    vollzogener Verdrängung (oder Unterdrückung); im Falle der
    Neurose: Konflikt, Bemiihung, die Regression nicht gelten zu
    lassen, Reaktionsbildungen gegen dieselbe und Symptombildungen
    durch Kompromisse von beiden Seiten her, Spaltung der psychischen
    Tätigkeiten in bewuBtseinsfähige und unbewußte,

    d) Unsere Aufstellung einer prågenitalen Sexualorganisation
    ist nach zwei Richtungen hin unvollståndig. Sie nimmt erstens
    keine Riicksicht auf das Verhalten anderer Partialtriebe, an dem
    manches der Erforschung und Erwähnung wert wire, und begniigt
    sich, das auffållige Primat von Sadismus und Analerotik heraus-
    zuheben. Besonders vom WiBirieb gewinnt man häufig den
    Eindruck, als ob er im Mechanismus der Zwangsneurose den
    Sadismus geradezu ersetzen konnte. Er ist ja im Grunde ein
    sublimierter, ins Intellektuelle gehobener SpräBling des Bemäch-
    tigungstriebes, seine Zuriickweisung in der Form des Zweifels
    nimmt im Bilde der Zwangsneurose einen breiten Raum ein.

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    286 Arbeiten. zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    Ein zweiter Mangel ist weit bedeutsamer. Wir wissen, daß
    die entwicklungsgeschichtliche Disposition für eine Neurose nur
    dann vollständig ist, wenn sie die Phase der Ichentwicklung, in
    welcher die Fixierung eintritt, ebenso berücksichtigt wie die der
    Libidoentwicklung. Unsere Aufstellung hat sich aber nur auf die
    letztere bezogen, sie enthält also nicht die ganze Kenntnis, die
    wir fordern dürfen. Die Entwicklungsstadien der Ichtriebe sind
    uns bis jetzt sehr wenig bekannt; ich weiß nur von einem viel-
    versprechenden Versuch von Ferenczi, sich diesen Fragen zu
    nåhern.* Ich weiß nicht, ob es zu gewagt erscheint, wenn ich
    den vorhandenen Spuren folgend die Annahme ausspreche, daß
    ein zeitliches Voraneilen der Ichentwicklung vor der Libido-
    entwicklung in die Disposition zur Zwangsneurose einzutragen
    ist. Eine solche Voreiligkeit würde von den Ichtrieben her zur
    Objektwahl nötigen, während die Sexualfunktion ihre letzte
    Gestaltung noch nicht erreicht hat, und somit eine Fixierung
    auf der Stufe der prägenitalen Sexualordnung hinterlassen. Erwägt
    man, daß die Zwangsneurotiker eine Übermoral entwickeln müssen,
    um ihre Objektliebe gegen die hinter ihr lauernde Feindseligkeit
    zu verteidigen, so wird man geneigt sein, ein gewisses Maß von
    diesem Voraneilen der Ichentwicklung als typisch für die mensch-
    liche Natur hinzustellen und die Fähigkeit zur Entstehung der
    Moral in dem Umstand begründet zu finden, daß nach der
    Entwicklung der Haß der Vorläufer der Liebe ist. Vielleicht ist
    dies die Bedeutung eines Satzes von W. Stekel, der mir seiner-
    zeit unfaBbar erschien, daB der HaB und nicht die Liebe die
    primäre Gefühlsbeziehung zwischen den Menschen sei.”

    e) Für die Hysterie erübrigt nach dem Vorstehenden die innige
    Beziehung zur letzten Phase der Libidoentwicklung, die durch
    den Primat der Genitalien und die Einführung der Fort-

    1) Ferenczi: Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes. (Intern. Zeitschr. für
    ärztl. Psychoanalyse, I, 1915, H. 2.)
    2) W. Stekel: Die Sprache des Traumes. 1911, 8. 536.

  • S.

    Die Disposition zur Zwangsneurose 287

    pflanzungsfunktion ausgezeichnet ist. Dieser Erwerb unterliegt in
    der hysterischen Neurose der Verdringung, mit welcher eine
    Regression auf die prägenitale Stufe nicht verbunden ist. Die
    Lücke in der Bestimmung der Disposition infolge unserer
    Unkenntnis der Ichentwicklung ist hier noch fühlbarer als bei
    der Zwangsneurose.

    Hingegen ist es nicht schwer nachzuweisen, daB eine andere
    Regression auf ein fritheres Niveau auch der Hysterie zukommt.
    Die Sexualität des weiblichen Kindes steht, wie wir wissen,
    unter der Herrschaft eines männlichen Leitorgans (der Klitoris)
    und benimmt sich vielfach wie die des Knaben. Ein letzter
    Entwicklungsschub zur Zeit der Pubertät muß diese männliche
    Sexualität wegschaffen und die von der Kloake abgeleitete Vagina
    zur herrschenden erogenen Zone erheben. Es ist nun sehr
    gewöhnlich, daß in der hysterischen Neurose der Frauen eine
    Reaktivierung dieser verdrångten männlichen Sexualität statt hat,
    gegen welche sich dann der Abwehrkampf von seiten der ich-
    gerechten Triebe richtet. Doch erscheint es mir vorzeitig, an
    dieser Stelle in die Diskussion der Probleme der hysterischen
    Disposition einzutreten.