Die endliche und die unendliche Analyse 1937-001/1937
  • S.

    Internationale Zeitschrift
    für Psychoanalyse

    Herausgegeben von Sigm. Freud

    XXIII. Band 1937 Heft 2

    Die endliche und die unendliche Analyse
    Von
    Sigm. Freud

    L

    Erfahrung hat uns gelehrt, die psychoanalytische Therapie, die Befreiung
    eines Menschen von seinen neurotischen Symptomen, Hemmungen und
    Charakterabnormitäten ist eine langwierige Arbeit. Daher sind von allem
    Anfang an Versuche unternommen worden, um die Dauer der Analysen zu
    verkiirzen. Solche Bemiihungen bedurften keiner Rechtfertigung, sie konnten
    sich auf die verständigsten und zweckmäfigsten Beweggründe berufen. Aber
    es wirkte in ihnen wahrscheinlich auch noch ein Rest jener ungeduldigen
    Geringschåtzung, mit der eine friihere Periode der Medizin die Neurosen
    betrachtet hatte, als iiberfliissige Erfolge unsichtbarer Schådigungen. Wenn
    man sich jetzt mit ihnen beschäftigen mußte, wollte man nur möglichst bald
    mit ihnen fertig werden. Einen besonders energischen Versuch in dieser
    Richtung hat O. Rank gemacht im Anschluß an sein Buch „Das Trauma
    der Geburt (1924). Er nahm an, daß der Geburtsakt die eigentliche Quelle
    der Neurose sei, indem er die Möglichkeit mit sich bringt, daß die ,,Urfixies
    rung" an die Mutter nicht überwunden wird und als „Urverdringung” fort
    besteht. Durch die nachtrågliche analytische Erledigung dieses Urtraumas
    hoffte Rank die ganze Neurose zu beseitigen, so daf3 das eine Stiickchen
    Analyse alle iibrige analytische Arbeit ersparte. Einige wenige Monate sollten
    fiir diese Leistung genügen. Man wird nicht bestreiten, daß der Rank sche
    Gedankengang kiihn und geistreich war; aber er hielt einer kritischen Priifung
    nicht stand, Der Versuch Ranks war iibrigens aus der Zeit geboren, unter
    dem Eindruck des Gegensatzes von europåischem Nachkriegselend und
    amerikanischer ,prosperity" konzipiert und dazu bestimmt, das Tempo der

    Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XXIII/2 4

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    analytischen Therapie der Hast des amerikanischen Lebens anzugleichen.
    Man hat nicht viel davon gehört, was die Ausführung des R ank schen
    Planes fiir Krankheitsfålle geleistet hat. Wahrscheinlich nicht mehr, als die
    Feuerwehr leisten wiirde, wenn sie im Falle eines Hausbrandes durch eine
    umgestürzte Petroleumlampe sich damit begniigte, die Lampe aus dem
    Zimmer zu entfernen, in dem der Brand entstanden war. Eine erhebliche Ab-
    kürzung der Lóschaktion wire allerdings auf diese Weise zu erreichen.
    Theorie und Praxis des Rank schen Versuchs gehören heute der Vers
    gangenheit an — nicht anders als die amerikanische „prosperity‘ selbst.

    Einen anderen Weg, um den Ablauf einer analytischen Kur zu beschleu-
    nigen, hatte ich selbst noch vor der Kriegszeit eingeschlagen. Ich iibernahm
    damals die Behandlung eines jungen Russen, der, durch Reichtum verwöhnt,
    in völliger Hilfslosigkeit, von Leibarzt und Pfleger begleitet, nach Wien ge
    kommen war! Im Laufe einiger Jahre gelang es, ihm ein großes Stück seiner
    Selbständigkeit wiederzugeben, sein Interesse am Leben zu wecken, seine
    Beziehungen zu den für ihn wichtigsten Personen in Ordnung zu bringen,
    aber dann stockte der Fortschritt; die Aufklirung der Kindheitsneurose, auf
    der ja die spátere Erkrankung begründet war, ging nicht weiter und es war
    deutlich zu erkennen, daß der Patient seinen derzeitigen Zustand als recht
    behaglich empfand und keinen Schritt tun wollte, der ihn dem Ende der
    Behandlung näher brichte. Es war ein Fall von Selbsthemmung der Kur;
    sie war in Gefahr, grade an ihrem — teilweisen — Erfolg zu scheitern. In
    dieser Lage griff ich zu dem heroischen Mittel der Terminsetzung. Ich er^
    öffnete dem Patienten zu Beginn einer Arbeitssaison, daß dieses nächste Jahr
    das letzte der Behandlung sein werde, gleichgiltig, was er in der ihm noch
    zugestandenen Zeit leiste. Er schenkte mir zunichst keinen Glauben, aber
    nachdem er sich von dem unverbrüchlichen Ernst meiner Absicht überzeugt
    hatte, trat die gewünschte Wandlung bei ihm ein. Seine Widerstánde
    schrumpften ein und in diesen letzten Monaten konnte er alle Erinnerungen
    reproduzieren und alle Zusammenhänge auffinden, die zum Verständnis
    seiner frühen und zur Bewältigung seiner gegenwärtigen Neurose notwendig
    schienen. Als er mich im Hochsommer 1914 verließ, ahnungslos wie wir
    alle der so nah bevorstehenden Ereignisse, hielt ich ihn für gründlich und
    dauernd geheilt.

    In einem Zusatz zur Krankengeschichte (1925) habe ich schon berichtet,

    1) Siehe die mit Einwilligung des Patienten veröffentlichte Schrift „Aus der Geschichte
    einer infantilen Neurose", 1918. Die spitere Erkrankung des jungen Mannes wird dort
    nicht ausführlich dargestellt, sondern nur gestreift, wo es der Zusammenhang mit der
    Kindheitsneurose unbedingt erfordert.

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    Die endliche und die unendliche Analyse 211

    daß dies nicht zutraf. Als er gegen Kriegsende als mittelloser Fliichtling nach
    Wien zuriickkam, mußte ich ihm dabei helfen, ein nicht erledigtes Stück
    der Übertragung zu bewältigen; das gelang in einigen Monaten und ich
    konnte den Nachtrag mit der Mitteilung schließen, daß , der Patient, dem
    der Krieg Heimat, Vermögen und alle Familienbeziehungen geraubt hatte,
    sich seitdem normal gefühlt und tadellos benommen hat". Die anderthalb
    Jahrzehnte seither haben dies Urteil nicht Lügen gestraft, aber doch Eins
    schränkungen daran notwendig gemacht. Der Patient ist in Wien geblieben
    und hat sich in einer, wenn auch bescheidenen, sozialen Position bewährt.
    Aber mehrmals in diesem Zeitraum wurde sein Wohlbefinden durch Kranke
    heitszufille unterbrochen, die nur als Ausläufer seiner Lebensneurose aufge-
    faBt werden konnten. Die Geschicklichkeit einer meiner Schülerinnen, Frau
    Dr. Ruth Mack Brunswick, hat diese Zustände jedesmal nach kurzer
    Behandlung zu Ende gebracht; ich hoffe, sie wird bald selbst über diese
    Erfahrungen berichten. In einigen dieser Anfille handelte es sich immer noch
    um Restbestinde der Übertragung; sie zeigten dann bei all ihrer Flüchtigkeit
    deutlich paranoischen Charakter. In anderen aber bestand das pathogene
    Material aus Fragmenten seiner Kindergeschichte, die in der Analyse bei
    mir nicht zum Vorschein gekommen waren und sich nun — man kann dem
    Vergleich nicht ausweichen — wie Fäden nach einer Operation oder nekros
    tische Knochenstückchen nachträglich abstieBen. Ich fand die Heilungsges
    schichte dieses Patienten nicht viel weniger interessant als seine Kranken»
    geschichte.

    Ich habe die Terminsetzung spiter auch in anderen Fillen angewendet
    und auch die Erfahrungen anderer Analytiker zur Kenntnis genommen. Das
    Urteil über den Wert dieser erpresserischen Mafiregel kann nicht zweifelhaft
    sein. Sie ist wirksam, vorausgesetzt, daß man die richtige Zeit für sie trifft.
    Aber sie kann keine Garantie für die vollstindige Erledigung der Aufgabe
    geben. Man kann im Gegenteil sicher sein, daß während ein Teil des Mates
    rials unter dem Zwang der Drohung zugänglich wird, ein anderer Teil
    zurückgehalten bleibt und damit gleichsam verschüttet wird, der therapeu-
    tischen Bemühung verloren geht. Man darf ja den Termin nicht erstrecken,
    nachdem er einmal festgesetzt worden ist; sonst hat er für die weitere Folge
    jeden Glauben eingebüfit. Die Fortsetzung der Kur bei einem anderen Anas
    lytiker wire der nächste Ausweg; man weiß freilich, daß ein solcher Wechsel
    neuen Verlust an Zeit und Verzicht auf den Ertrag aufgewendeter Arbeit Бег
    deutet. Auch läßt sich nicht allgemein giltig angeben, wann die richtige Zeit

    für die Einsetzung dieses gewaltsamen technischen Mittels gekommen ist,
    14

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    212 Sigm. Freud

    es bleibt dem Takt überlassen. Ein Mißgriff ist nicht mehr gutzumachen.
    Das Sprichwort, daß der Löwe nur einmal springt, muß recht behalten.

    II.

    Die Erórterungen über das technische Problem, wie man den langsamen
    Ablauf einer Analyse beschleunigen kann, leiten uns nun zu einer anderen
    Frage von tieferem Interesse, nämlich, ob es ein natürliches Ende einer Anas
    lyse gibt, ob es überhaupt möglich ist, eine Analyse zu einem solchen Ende
    zu führen. Der Sprachgebrauch unter Analytikern scheint eine solche Voraus-
    setzung zu begiinstigen, denn man hårt oft bedauernd oder entschuldigend
    über ein in seiner Unvollkommenheit erkanntes Menschenkind äußern: Seine
    Analyse ist nicht fertig geworden, oder: Er ist nicht zu Ende analysiert
    worden.

    Man muß sich zunächst darüber verständigen, was mit der mehrdeutigen
    Redensart „Ende einer Analyse" gemeint ist. Praktisch ist das leicht zu sagen.
    Die Analyse ist beendigt, wenn Analytiker und Patient sich nicht mehr zur
    analytischen Arbeitsstunde treffen. Sie werden so tun, wenn zwei Bedin-
    gungen ungefähr erfüllt sind, die erste, daß der Patient nicht mehr an seinen
    Symptomen leidet und seine Angste wie seine Hemmungen iiberwunden hat,
    die zweite, daß der Analytiker urteilt, es sei beim Kranken soviel Verdrångtes
    bewußt gemacht, soviel Unverståndliches aufgeklärt, soviel innerer Wider»
    stand besiegt worden, daß man die Wiederholung der betreffenden patholoz
    gischen Vorgänge nicht zu befürchten braucht. Ist man durch äußere
    Schwierigkeiten verhindert worden, dies Ziel zu erreichen, so spricht man
    besser von einer unvollständigen als von einer unvollendeten Analyse.

    Die andere Bedeutung des Endes einer Analyse ist weit ehrgeiziger. In
    ihrem Namen wird gefragt, ob man die Beeinflussung des Patienten soweit
    getrieben hat, daß eine Fortsetzung der Analyse keine weitere Veränderung
    versprechen kann. Also als ob man durch Analyse ein Niveau von absoluter
    psychischer Normalität erreichen könnte, dem man auch die Fähigkeit zu-
    trauen dürfte, sich stabil zu erhalten, etwa wenn es gelungen wäre, alle vors
    gefallenen Verdrängungen aufzulösen und alle Lücken der Erinnerung ausz
    zufüllen. Man wird zuerst die Erfahrung befragen, ob dergleichen vorkommt,
    und dann die Theorie, ob es überhaupt möglich ist.

    - Jeder Analytiker wird einige Fälle mit so erfreulichem Ausgang behandelt
    haben. Es ist gelungen, die vorhandene neurotische Störung zu beseitigen,
    sie ist nicht wiedergekehrt und hat sich durch keine andere ersetzt. Man ist
    auch nicht ohne Einsicht in die Bedingungen dieser Erfolge. Das Ich der
    Patienten war nicht merklich verändert und die Ätiologie der Störung eine

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    Die endliche und die unendliche Analyse 213

    wesentlich traumatische. Die Ätiologie aller neurotischen Störungen ist ja
    eine gemischte; es handelt sich entweder um überstarke, also gegen die Bán-
    digung durch das Ich widerspenstige Triebe, oder um die Wirkung von
    frühzeitigen, d. h. vorzeitigen Traumen, deren ein unreifes Ich nicht Herr
    werden konnte. In der Regel um ein Zusammenwirken beider Momente, des
    konstitutionellen und des akzidentellen. Je stårker das erstere, desto eher wird
    ein Trauma zur Fixierung führen und eine Entwicklungsstórung zurücke
    lassen; je stårker das Trauma, desto sicherer wird es seine Schådigung auch
    unter normalen Triebverhåltnissen äußern. Es ist kein Zweifel, daß die trau-
    matische Atiologie der Analyse die weitaus giinstigere Gelegenheit bietet.
    Nur im vorwiegend traumatischen Fall wird die Analyse leisten, was sie
    meisterlich kann, die unzulängliche Entscheidung aus der Frühzeit dank der
    Erstarkung des Ichs durch eine korrekte Erledigung ersetzen. Nur in einem
    solchen Falle kann man von einer endgiltig beendeten Analyse sprechen.
    Hier hat die Analyse ihre Schuldigkeit getan und braucht nicht fortgesetzt
    zu werden. Wenn der so hergestellte Patient niemals wieder eine Störung
    produziert, die ihn der Analyse bediirftig macht, so weiß man freilich nicht,
    wieviel von dieser Immunität der Gunst des Schicksals zu danken ist, die ihm
    zu starke Belastungsproben erspart haben mag.

    Die konstitutionelle Triebstärke und die im Abwehrkampf erworbene une
    günstige Veränderung des Ichs, im Sinne einer Verrenkung und Ein
    schrånkung, sind die Faktoren, die der Wirkung der Analyse ungiinstig sind
    und ihre Dauer ins UnabschlieBbare verlängern können. Man ist versucht,
    das erstere, die Triebstårke, auch für die Ausbildung des anderen, der Iche
    verånderung, verantwortlich zu machen, aber es scheint, daß diese auch ihre
    eigene Ätiologie hat, und eigentlich muß man zugestehen, daß diese Vers
    håltnisse noch nicht geniigend bekannt sind. Sie werden eben erst jetzt
    Gegenstand des analytischen Studiums. Das Interesse der Analytiker scheint
    mir in dieser Gegend iiberhaupt nicht richtig eingestellt zu sein. Anstatt zu
    untersuchen, wie die Heilung durch die Analyse zustande kommt, was ich
    får hinreichend aufgeklårt halte, sollte die Fragestellung lauten, welche
    Hindernisse der analytischen Heilung im Wege stehen.

    Hier anschließend möchte ich zwei Probleme behandeln, die sich direkt
    aus der analytischen Praxis ergeben, wie die nachstehenden Beispiele zeigen
    sollen. Ein Mann, der die Analyse selbst mit großem Erfolge ausgeübt hat,
    urteilt, daß sein Verhältnis zum Mann wie zur Frau — zu den Männern,
    die seine Konkurrenten sind, und zur Frau, die er liebt — doch nicht frei von
    neurotischen Behinderungen ist, und macht sich darum zum analytischen

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    214 Sigm. Freud

    Objekt eines Anderen, den er für ihm überlegen hilt. Diese kritische Durch»
    leuchtung der eigenen Person bringt ihm vollen Erfolg. Er heiratet die gez
    liebte Frau und wandelt sich zum Freund und Lehrer der vermeintlichen
    Rivalen. Es vergehen so viele Jahre, in denen auch die Beziehung zum eine
    stigen Analytiker ungetriibt bleibt. Dann aber tritt ohne nachweisbaren
    äußeren Anlaß eine Störung ein. Der Analysierte tritt in Opposition zum
    Analytiker, er wirft ihm vor, daß er es versäumt hat, ihm eine vollständige
    Analyse zu geben. Er hätte doch wissen und in Betracht ziehen müssen, daß
    eine Ubertragungsbeziehung niemals bloß positiv sein kann; er hätte sich
    um die Möglichkeiten einer negativen Übertragung bekiimmern müssen. Der
    Analytiker verantwortet sich darin, daß zur Zeit der Analyse von einer nega-
    tiven Übertragung nichts zu merken war. Aber selbst angenommen, daß er
    Jeiseste Anzeichen einer solchen übersehen hätte, was bei der Enge des Hori-
    zonts in jener Friihzeit der Analyse nicht ausgeschlossen wåre, so bliebe es
    zweifelhaft, ob er die Macht gehabt hitte, ein Thema, oder, wie man sagt:
    einen „Komplex”, durch seinen bloßen Hinweis zu aktivieren, solange er beim
    Patienten selbst nicht aktuell war. Dazu hitte es doch gewif einer im realen
    Sinne unfreundlichen Handlung gegen den Patienten bedurft. Und außerdem
    sei nicht jede gute Beziehung zwischen Analytiker und Analysiertem, wahrend
    und nach der Analyse, als Übertragung einzuschätzen. Es gebe auch freunde
    schaftliche Beziehungen, die real begründet sind und sich als lebensfihig
    erweisen.

    Ich füge gleich das zweite Beispiel an, aus dem sich das nåmliche Pros
    blem erhebt. Ein älteres Mädchen ist seit ihrer Pubertät durch Gehunfâhige
    keit infolge heftiger Beinschmerzen aus dem Leben ausgeschaltet worden,
    der Zustand ist offenbar hysterischer Natur, er hat vielen Behandlungen
    getrotzt; eine analytische Kur von dreiviertel Jahren beseitigt ihn und gibt
    einer tüchtigen und wertvollen Person ihre Rechte auf einen Anteil am
    Leben wieder. Die Jahre nach der Genesung bringen nichts Gutes: Kata“
    strophen in der Familie, Vermógensverlust, mit dem Altern das Schwinden
    jeder Aussicht auf Liebesglück und Ehe. Aber die ehemals Kranke hilt allem
    wacker stand und wirkt in schweren Zeiten als eine Stütze für die Ihrigen.
    Ich weiß nicht mehr, ob es 12 oder 14 Jahre nach Beendigung der Kur war,
    daß profuse Blutungen eine gynikologische Untersuchung notwendig
    machten. Es fand sich ein Myom, das die Totalexstirpation des Uterus bez
    rechtigte. Von dieser Operation an war das Mädchen wieder krank. Sie vers
    liebte sich in den Operateur, schwelgte in masochistischen Phantasien von
    den schrecklichen Veränderungen in ihrem Inneren, mit denen sie ihren

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    Die endliche und die unendliche Analyse 215

    Liebesroman verhiillte, erwies sich als unzuginglich fiir einen neuerlichen
    analytischen Versuch und wurde auch bis zu ihrem Lebensende nicht mehr
    normal. Die erfolgreiche Behandlung liegt so weit zurück, daß man keine
    großen Ansprüche an sie stellen darf; sie fällt in die ersten Jahre meiner anas
    lytischen Tätigkeit. Es ist immerhin möglich, daß die zweite Erkrankung
    aus derselben Wurzel stammte wie die glücklich überwundene erste, daß sie
    ein veränderter Ausdruck derselben verdrängten Regungen war, die in der
    Analyse nur eine unvollkommene Erledigung gefunden hatten. Aber ich
    möchte doch glauben, daß es ohne das neue Trauma nicht zum neuerlichen
    Ausbruch der Neurose gekommen wäre.

    Diese beiden Fälle, absichtlich ausgewählt aus einer großen Anzahl åhn-
    licher, werden hinreichen, um die Diskussion über unsere Themen anzu-
    fachen. Skeptiker, Optimisten, Ehrgeizige werden sie in ganz verschiedener
    Weisc verwerten. Die ersteren werden sagen, es sei nun erwiesen, daß auch
    eine geglückte analytische Behandlung den derzeit Geheilten nicht davor
    schütze, später an einer anderen Neurose, ja selbst an einer Neurose aus der
    nämlichen Triebwurzel, also eigentlich an einer Wiederkehr des alten Leidens,
    zu erkranken. Die anderen werden diesen Beweis nicht für erbracht halten.
    Sie werden einwenden, die beiden Erfahrungen stammten aus den Frühzeiten
    der Analyse, vor 20 und vor 30 Jahren. Seither haben sich unsere Eine
    sichten vertieft und erweitert, unsere Technik habe sich in Anpassung an
    die neuen Errungenschaften verändert. Man dürfe heute fordern und ere
    warten, daß eine analytische Heilung sich als dauernd bewåhre, oder zum
    mindesten, daf) eine neuerliche Erkrankung sich nicht als Wiederbelebung
    der früheren Triebstôrung in neuen Ausdrucksformen erweise. Die Erfah-
    rung nötige uns nicht, die Ansprüche an unsere Therapie in so empfind-
    licher Weise einzuschrånken.

    Ich habe natürlich die beiden Beobachtungen darum ausgewählt, weil sie
    so weit zuriickliegen. Je rezenter ein Erfolg der Behandlung ist, desto mehr
    wird er begreiflicher Weise unbrauchbar fiir unsere Erwågungen, da wir
    kein Mittel haben, das spåtere Schicksal einer Heilung vorherzusehen. Die
    Erwartungen der Optimisten setzen offenbar mancherlei voraus, was nicht
    grade selbstverstindlich ist, erstens, daß es überhaupt möglich ist, einen
    Triebkonflikt (d. h. besser: einen Konflikt des Ichs mit einem Trieb) end-
    gültig fiir alle Zeiten zu erledigen, zweitens, daß es gelingen kann, einen
    Menschen, wåhrend man ihn an dem einen Triebkonflikt behandelt, gegen
    alle anderen solcher Konfliktmôglichkeiten sozusagen zu impfen, drittens,
    daß man die Macht hat, einen solchen pathogenen Konflikt, der sich derzeit

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    216 Sigm. Freud

    durch kein Anzeichen verrit, zum Zwecke der vorbeugenden Behandlung zu
    wecken, und daß man weise daran tut. Ich werfe diese Fragen auf, ohne sie
    gegenwärtig beantworten zu wollen. Vielleicht ist uns eine sichere Beants
    wortung derzeit überhaupt nicht möglich.

    Theoretische Überlegungen werden uns wahrscheinlich gestatten, einiges
    zu ihrer Würdigung beizutragen. Aber etwas anderes ist uns jetzt schon klar
    geworden: Der Weg zur Erfüllung der gesteigerten Ansprüche an die anas
    lytische Kur führt nicht zur oder über die Abkürzung ihrer Dauer.

    III.

    Analytische Erfahrung, die sich über mehrere Dezennien erstreckt, und
    ein Wechsel in der Art und Weise meiner Betitigung ermutigen mich, die
    Beantwortung der gestellten Fragen zu versuchen. In früheren Zeiten hatte
    ich es mit einer größeren Anzahl von Patienten zu tun, die, wie begreiflich,
    auf rasche Erledigung dringten; in den letzten Jahren haben die Lehranalysen
    überwogen und eine im Verhältnis geringe Zahl von schwerer Leidenden
    blieb bei mir zu fortgesetzter, wenn auch durch kurze oder lingere Pausen
    unterbrochener Behandlung. Bei diesen letzteren war die therapeutische Ziel
    setzung eine andere geworden. Eine Abkürzung der Kur kam nicht mehr in
    Betracht, die Absicht war, eine gründliche Erschöpfung der Krankheitsmóge
    lichkeiten und tiefgehende Veränderung der Person herbeizuführen.

    Von den drei Momenten, die wir als maßgebend für die Chancen der
    analytischen Therapie anerkannt haben: Einfluß von Traumen 一 konstitus
    tionelle Triebstårke ~~~ Ichveránderung, kommt es uns hier nur auf das mitts
    lere an, die Triebstårke. Die nächste Überlegung läßt uns in Zweifel ziehen,
    ob die Einschrinkung durch das Beiwort konstitutionell (oder kongenital)
    unerliBlich ist. So entscheidend von allem Anfang das konstitutionelle Мог
    ment sein mag, so bleibt es doch denkbar, daß eine später im Leben aufs
    tretende Triebverstirkung die gleichen Wirkungen äußern mag. Die Formel
    wire dann abzuåndern: derzeitige Triebstårke anstatt der konstitutionellen.
    Die erste unserer Fragen hat gelautet: ist es móglich, einen Konflikt des
    Triebs mit dem Ich oder einen pathogenen Triebanspruch an das Ich durch
    analytische Therapie dauernd und endgültig zu erledigen? Es ist wahrscheins
    lich zur Vermeidung von MiBverstandnis nicht unnötig, näher auszuführen,
    was mit der Wortfügung: dauernde Erledigung eines Triebanspruchs ges
    meint ist. Gewif nicht, daß man ihn zum Verschwinden bringt, so dal er
    nie wieder etwas von sich hören läßt. Das ist im allgemeinen unmöglich, wire
    auch gar nicht wünschenswert. Nein, sondern etwas anderes, was man uns
    gefihr als die ,,Bindigung“ des Triebes bezeichnen kann: das will heißen,

  • S.

    Die endliche und die unendliche Analyse 217

    daß der Trieb ganz in die Harmonie des Ichs aufgenommen, allen Beeins
    flussungen durch die anderen Strebungen im Ich zugänglich ist, nicht mehr
    seine eigenen Wege zur Befriedigung geht. Fragt man, auf welchen Wegen
    und mit welchen Mitteln das geschieht, so hat man’s nicht leicht mit der Bez
    antwortung. Man muß sich sagen: „So muß denn doch die Hexe dran“.
    Die Hexe Metapsychologie nämlich. Ohne metapsychologisches Spekulieren
    und Theoretisieren — beinahe hitte ich gesagt: Phantasieren — kommt man
    hier keinen Schritt weiter. Leider sind die Auskiinfte der Hexe auch diesmal
    weder sehr klar noch sehr ausführlich. Wir haben nur einen Anhaltspunkt
    — der allerdings unschåtzbar — an dem Gegensatz zwischen Primär» und
    Sekundårvorgang, und auf den will ich auch hier verweisen.

    Wenn wir jetzt zu unserer ersten Frage zurückkehren, so finden wir, daß
    unser neuer Gesichtspunkt uns eine bestimmte Entscheidung aufdrångt. Die
    Frage hat gelautet, ob es måglich ist, einen Triebkonflikt dauernd und ends
    gültig zu erledigen, d. h.: den Triebanspruch in solcher Weise zu „bin
    digen“. In dieser Fragestellung wird die Triebstårke überhaupt nicht erwähnt,
    aber gerade von ihr hångt der Ausgang ab. Gehen wir davon aus, daB die
    Analyse beim Neurotiker nichts anderes leistet, als was der Gesunde ohne
    diese Hilfe zustande bringt. Beim Gesunden aber, lehrt die tägliche Erfahs
    rung, gilt jede Entscheidung eines Triebkonflikts nur fiir eine bestimmte
    Triebstårke, richtiger gesagt, nur innerhalb einer bestimmten Relation zwi-
    schen Stärke des Triebs und Stärke des Ichs.? Läßt die Stärke des Ichs nach,
    durch Krankheit, Erschöpfung u. dgl., so können alle bis dahin glücklich
    gebändigten Triebe ihre Ansprüche wieder anmelden und auf abnormen
    Wegen ihre Ersatzbefriedigungen anstreben. Den unwiderleglichen Beweis
    für diese Behauptung gibt schon der nächtliche Traum, der auf die Schlaf
    einstellung des Ichs mit dem Erwachen der Triebanspriiche reagiert.

    Ebenso unzweifelhaft ist das Material von der anderen Seite. Zweimal
    im Laufe der individuellen Entwicklung treten erhebliche Verstårkungen
    gewisser Triebe auf, zur Pubertit und um die Menopause bei Frauen. Wir
    sind nicht im geringsten überrascht, wenn Personen, die vorher nicht neuros
    tisch waren, es um diese Zeiten werden. Die Båndigung der Triebe, die ihnen
    bei geringerer Stärke derselben gelungen war, miBlingt nun bei deren Vers

    2) In gewissenhafter Korrektur: fiir eine gewisse Breite dieser Relation.

    3) Dies zur Rechtfertigung des åtiologischen Anspruchs so unspezifischer Momente wie
    Uberarbeitung, Schockwirkung usw., die immer der allgemeinen Anerkennung sicher waren
    und grade von der Psychoanalyse in den Hintergrund gedrängt werden mußten. Ges
    sundheit 1406 sich eben nicht anders denn metapsychologisch beschreiben, bezogen
    auf Kräfteverhältnisse zwischen den von uns erkannten, wenn man will, erschlossenen,
    vermuteten, Instanzen des seelischen Apparats.

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    218 Sigm. Freud

    stårkung. Die Verdringungen benehmen sich wie Dåmme gegen den An-
    drang der Gewässer. Dasselbe, was diese beiden physiologischen Triebver-
    stärkungen leisten, kann in irregulärer Weise zu jeder anderen Lebenszeit
    durch akzidentelle Einflüsse herbeigeführt werden. Es kommt zu Triebvers
    stärkungen durch neue Traumen, aufgezwungene Versagungen, kollaterale
    Beeinflussungen der Triebe untereinander. Der Erfolg ist alle Male der
    gleiche und erhärtet die unwiderstehliche Macht des quantitativen Moments
    in der Krankheitsverursachung.

    Ich bekomme hier den Eindruck, als müßte ich mich all dieser schwere
    fälligen Erörterungen schämen, da doch das, was sie sagen, längst bekannt
    und selbstverständlich ist. Wirklich, wir haben uns immer so benommen,
    als wüßten wir es; nur, daß wir in unseren theoretischen Vorstellungen zus
    meist versäumt haben, dem ökonomischen Gesichtspunkt in demselben
    Maß Rechnung zu tragen wie dem dynamischen und dem topischen.
    Meine Entschuldigung ist also, daß ich an dieses Versäumnis mahne.

    Ehe wir uns aber für eine Antwort auf unsere Frage entscheiden, haben
    wir einen Einwand anzuhören, dessen Stärke darin besteht, daß wir wahre
    scheinlich von vornherein für ihn gewonnen sind. Er sagt, unsere Argumente
    sind alle aus den spontanen Vorgängen zwischen Ich und Trieb hergeleitet
    und setzen voraus, daß die analytische Therapie nichts machen kann, was
    nicht unter günstigen, normalen Verhältnissen von selbst geschieht. Aber ist
    das wirklich so? Erhebt nicht gerade unsere Theorie den Anspruch, einen
    Zustand herzustellen, der im Ich spontan nie vorhanden ist und dessen Neue
    schöpfung den wesentlichen Unterschied zwischen dem analysierten und dem
    nicht analysierten Menschen ausmacht? Halten wir uns vor, worauf sich
    dieser Anspruch beruft. Alle Verdrängungen geschehen in früher Kindheit;
    es sind primitive Abwehrmaßregeln des unreifen, schwachen Ichs. In späteren
    Jahren werden keine neuen Verdrängungen vollzogen, aber die alten erhalten
    sich und ihre Dienste werden vom Ich weiterhin zur Triebbeherrschung in
    Anspruch genommen. Neue Konflikte werden, wie wir es ausdrücken, durch
    »Nachverdrángung" erledigt. Von diesen infantilen Verdrångungen mag
    gelten, was wir allgemein behauptet haben, daß sie voll und ganz vom relas
    tiven Kräfteverhältnis abhängen und einer Steigerung der Triebstärke nicht
    standhalten können. Die Analyse aber läßt das gereifte und erstarkte Ich eine
    Revision dieser alten Verdrängungen vornehmen; einige werden abgetragen,
    andere anerkannt, aber aus soliderem Material neu aufgebaut. Diese neuen
    Dämme haben eine ganz andere Haltbarkeit als die früheren; ihnen darf man
    zutrauen, daß sie den Hochfluten der Triebsteigerung nicht so leicht nach=

  • S.

    Die endliche und die unendliche Analyse 219

    geben werden. Die nachträgliche Korrektur des ursprünglichen Verdrän-
    gungsvorganges, die der Ubermacht des quantitativen Faktors ein Ende
    macht, wire also die eigentliche Leistung der analytischen Therapie.

    So weit unsere Theorie, auf die wir ohne unwidersprechlichen Zwang nicht
    verzichten können. Und was sagt die Erfahrung dazu? Die ist vielleicht noch
    nicht umfassend genug fiir eine sichere Entscheidung. Oft genug gibt sie
    unseren Erwartungen recht, doch nicht jedesmal. Man hat den Eindruck,
    daß man nicht überrascht sein dürfte, wenn sich am Ende herausstellt, daß
    der Unterschied zwischen dem nicht Analysierten und dem spiteren Vers
    halten des Analysierten doch nicht so durchgreifend ist, wie wir es erstreben,
    erwarten und behaupten. Demnach wiirde es der Analyse zwar manchmal
    gelingen, den Einfluß der Triebverstårkung auszuschalten, aber nicht regel-
    mäßig. Oder ihre Wirkung beschränkte sich darauf, die Widerstandskraft
    der Hemmungen zu erhöhen, so daß sie nach der Analyse weit stärkeren
    Anforderungen gewachsen wåren als vor der Analyse oder ohne eine solche.
    Ich getraue mich hier wirklich keiner Entscheidung, weiß auch nicht, ob
    sie derzeit möglich ist.

    Man kann sich dem Verståndnis dieser Unstetigkeit in der Wirkung der
    Analyse aber von anderer Seite her nåhern. Wir wissen, es ist der erste Schritt
    zur intellektuellen Bewältigung der Umwelt, in der wir leben, daß wir Allge-
    meinheiten, Regeln, Gesetze herausfinden, die Ordnung in das Chaos
    bringen. Durch diese Arbeit vereinfachen wir die Welt der Phänomene,
    konnen aber nicht umhin, sie auch zu verfilschen, besonders wenn es sich
    um Vorgånge von Entwicklung und Umwandlung handelt. Es kommt uns
    darauf an, eine qualitative Anderung zu erfassen, und wir vernachlåssigen
    dabei in der Regel, wenigstens zunåchst, einen quantitativen Faktor. In der
    Realitåt sind die Ubergånge und Zwischenstufen weit håufiger als die scharf
    gesonderten gegensåtzlichen Zustånde. Bei Entwicklungen und Verwand-
    lungen richtet sich unsere Aufmerksamkeit allein auf das Resultat; wir iibers
    sehen gern, daß sich solche Vorgänge gewöhnlich mehr oder weniger unvolls
    ständig vollziehen, also eigentlich im Grunde nur partielle Veränderungen
    sind. Der scharfsinnige Satiriker des alten Osterreichs, J. Nestroy, hat
    einmal geäußert: „Ein jeder Fortschritt ist nur immer halb so groß, als wie
    er zuerst ausschaut". Man wire versucht, dem boshaften Satz eine recht all:
    gemeine Geltung zuzusprechen. Es gibt fast immer Resterscheinungen, ein
    partielles Zuriickbleiben. Wenn der freigebige Måzen uns durch einen ver-
    einzelten Zug von Knauserei überrascht, der sonst Ubergute sich plötzlich
    in einer feindseligen Handlung gehen 1806, so sind diese „Resterscheinungen”

  • S.

    220 Sigm. Freud

    unschitzbar für die genetische Forschung. Sie zeigen uns, daß jene lobense
    werten und wertvollen Eigenschaften auf Kompensation und Überkompens
    sation beruhen, die, wie zu erwarten stand, nicht durchaus, nicht nach dem:
    vollen Betrag gelungen sind. Wenn unsere erste Beschreibung der Libidoent-
    wicklung gelautet hat, eine ursprüngliche orale Phase mache der sadistische
    analen und diese der phallischzgenitalen Platz, so hat spätere Forschung dem
    nicht etwa widersprochen, sondern zur Korrektur hinzugefügt, daß diese
    Ersetzungen nicht plötzlich, sondern allmählich erfolgen, so daß jederzeit
    Stücke der früheren Organisation neben der neueren fortbestehen, und daß
    selbst bei normaler Entwicklung die Umwandlung nie vollständig geschieht,
    so daß noch in der endgültigen Gestaltung Reste der früheren Libidofixie-
    rungen erhalten bleiben können. Auf ganz anderen Gebieten sehen wir das
    námliche. Keiner der angeblich überwundenen Irr- und Aberglauben der
    Menschheit, von dem nicht Reste heute unter uns fortleben, in den tieferen
    Schichten der Kulturvólker oder selbst in den obersten Schichten der Kulturs
    gesellschaft. Was einmal zu Leben gekommen ist, weiß sich zäh zu behaupten.
    Manchmal könnte man zweifeln, ob die Drachen der Urzeit wirklich ausges
    storben sind.

    Um nun die Anwendung auf unseren Fall zu machen, ich meine, die Ants
    wort auf die Frage, wie sich die Unstetigkeit unserer analytischen Therapie
    erklärt, könnte leicht sein, daß wir unsere Absicht, die undichten Verdräns
    gungen durch zuverlissige, ichgerechte Bewiltigungen zu ersetzen, auch nicht
    immer im vollen Umfang, also nicht gründlich genug erreichen. Die Ums
    wandlung gelingt, aber oft nur partiell; Anteile der alten Mechanismen
    bleiben von der analytischen Arbeit unberührt. Es 1306 sich schwer beweisen,
    daß dem wirklich so ist; wir haben ja keinen anderen Weg, es zu beurteilen,
    als eben den Erfolg, den es zu erklären gilt. Aber die Eindrücke, die man
    während der analytischen Arbeit empfängt, widersprechen unserer Annahme
    nicht, scheinen sie eher zu bestitigen. Man darf nur die Klarheit unserer
    eigenen Einsicht nicht zum Maß der Überzeugung nehmen, die wir beim
    Analysierten hervorrufen. Es mag ihr an , Tiefe" fehlen, wie wir sagen
    kónnen; es handelt sich immer um den gerne übersehenen quantitativen
    Faktor. Wenn dies die Lösung ist, so kann man sagen, die Analyse habe mit
    ihrem Anspruch, sie heile Neurosen durch die Sicherung der Triebbeherrs
    schung, in der Theorie immer recht, in der Praxis nicht immer. Und zwar
    darum, weil es ihr nicht immer gelingt, die Grundlagen der Triebbeherre
    schung in genügendem Ausmaß zu sichern. Der Grund dieses partiellen
    Miflerfolgs ist leicht zu finden. Das quantitative Moment der Triebstárke

  • S.

    Die endliche und die unendliche Analyse 221

    hatte sich seinerzeit dem Abwehrstreben des Jchs widersetzt; wir haben
    darum die analytische Arbeit zur Hilfe gerufen, und nun setzt dasselbe Мог
    ment der Wirksamkeit dieser neuen Bemiihung eine Grenze. Bei iibergrofter
    Triebstirke miBlingt dem gereiften und von der Analyse unterstützten Ich
    die Aufgabe, ähnlich wie früher dem hilfløsen Ich; die Triebbeherrschung
    wird besser, aber sie bleibt unvollkommen, weil die Umwandlung des Abe
    wehrmechanismus nur unvollståndig ist. Daran ist nichts zu verwundern,
    denn die Analyse arbeitet nicht mit unbegrenzten, sondern mit beschrånkten
    Machtmitteln und das Endergebnis hängt immer vom relativen Kräftever-
    håltnis der mit einander ringenden Instanzen ab.

    Es ist unzweifelhaft wünschenswert, die Dauer einer analytischen Kur abs
    zukiirzen, aber der Weg zur Durchsetzung unserer therapeutischen Absicht
    führt nur über die Verstärkung der analytischen Hilfskraft, die wir dem Ich
    zuführen wollen. Die hypnotische Beeinflussung schien ein ausgezeichnetes
    Mittel fiir unsere Zwecke zu sein; es ist bekannt, warum wir darauf vere
    zichten mußten. Ein Ersatz für die Hypnose ist bisher nicht gefunden wore
    den, aber man versteht von diesem Gesichtspunkt aus die leider vergeblichen
    therapeutischen Bemiihungen, denen ein Meister der Analyse wie Ferenczi
    seine letzten Lebensjahre gewidmet hat.

    IV.

    Die beiden anschließenden Fragen, ob man den Patienten während der
    Behandlung eines Triebkonflikts gegen zukiinftige Triebkonflikte schiitzen
    kann und ob es ausfiihrbar und zweckmäßig ist, einen derzeit nicht mani-
    festen Triebkonflikt zum Zwecke der Vorbeugung zu wecken, sollen mit-
    einander behandelt werden, denn es ist offenbar, daß man die erste Aufgabe
    nur låsen kann, indem man das zweite tut, also den in der Zukunft mog
    lichen Konflikt in einen aktuellen verwandelt, den man der Beeinflussung
    unterzieht. Diese neue Fragestellung ist im Grunde nur eine Fortführung
    der fritheren. Handelte es sich vorhin um eine Verhiitung der Wiederkehr
    desselben Konflikts, so jetzt um seine mågliche Ersetzung durch einen
    anderen. Was man da vorhat, klingt sehr ehrgeizig, aber man will sich nux
    klar machen, welche Grenzen der Leistungsfåhigkeit einer analytischen The-
    rapie gesteckt sind.

    So sehr es den therapeutischen Ehrgeiz verlocken mag, sich derartige Auf-
    gaben zu stellen, die Erfahrung hat nur eine glatte Abweisung bereit. Wenn
    ein Triebkonflikt nicht aktuell ist, sich nicht äußert, kann man ihn auch durch
    die Analyse nicht beeinflussen. Die Warnung, schlafende Hunde nicht zu
    wecken, die man unseren Bemiihungen um die Erforschung der psychischen

  • S.

    222 Sigm. Freud

    Unterwelt so oft entgegengehalten, ist für die Verhältnisse des Seelenlebens
    ganz besonders unangebracht. Denn, wenn die Triebe Störungen machen,
    ist es ein Beweis, daß die Hunde nicht schlafen, und wenn sie wirklich zu
    schlafen scheinen, liegt es nicht in unserer Macht, sie aufzuwecken. Diese
    letztere Behauptung scheint aber nicht ganz zutreffend, sie fordert eine eins
    gehendere Diskussion heraus. Überlegen wir, welche Mittel wir haben, um
    einen derzeit latenten Triebkonflikt aktuell zu machen. Offenbar können wir
    nur zweierlei tun: entweder Situationen herbeiführen, in denen er aktuell
    wird, oder uns damit begniigen, von ihm in der Analyse zu sprechen, auf
    seine Möglichkeit hinzuweisen. Die erstere Absicht kann auf zweierlei Wegen
    erreicht werden; erstens in der Realität, zweitens in der Übertragung, beide
    Male, indem wir den Patienten einem Maß von realem Leiden durch Versas
    gung und Libidostauung aussetzen. Nun ist es richtig, daß wir uns einer
    solchen Technik schon in der gewöhnlichen Übung der Analyse bedienen.
    Was wäre sonst der Sinn der Vorschrift, daß die Analyse „in der Versagung“
    durchgeführt werden soll? Aber das ist eine Technik bei der Behandlung
    eines bereits aktuellen Konflikts. Wir suchen diesen Konflikt zuzuspitzen,
    ihn zur schårfsten Ausbildung zu bringen, um die Triebkraft für seine Lös
    sung zu steigern. Die analytische Erfahrung hat uns gezeigt, daß jedes Besser
    ein Feind des Guten ist, daß wir in jeder Phase der Herstellung mit der Trag“
    heit des Patienten zu kämpfen haben, die bereit ist, sich mit einer unvolls
    kommenen Erledigung zu begnügen.

    Wenn wir aber auf eine vorbeugende Behandlung von nicht aktuellen,
    bloß möglichen Triebkonflikten ausgehen, genügt es nicht, vorhandenes und
    unvermeidliches Leiden zu regulieren, man müßte sich entschließen, neues
    ins Leben zu rufen, und dies hat man bisher gewiß mit Recht dem Schicksal
    überlassen. Von allen Seiten würde man vor der Vermessenheit gewarnt
    werden, im Wettbewerb mit dem Schicksal so grausame Versuche mit den
    armen Menschenkindern anzustellen. Und welcher Art würden diese sein?
    Kann man es verantworten, daß man im Dienst der Prophylaxe eine be
    friedigende Ehe zerstört oder eine Stellung aufgeben läßt, mit der die Lebens»
    sicherung des Analysierten verbunden ist? Zum Glück kommt man gar nicht
    in die Lage, über die Berechtigung solcher Eingriffe ins reale Leben nachzus
    denken; man hat überhaupt nicht die Machtvollkommenheit, die sie erfor-
    dern, und das Objekt dieses therapeutischen Experiments würde gewiß nicht
    mittun wollen. Ist dergleichen also in der Praxis so gut wie ausgeschlossen,
    so hat die Theorie noch andere Einwinde dagegen. Die analytische Arbeit
    geht nämlich am besten vor sich, wenn die pathogenen Erlebnisse der Vers

  • S.

    Die endliche und die unendliche Analyse 223

    gangenheit angehören, so daß das Ich Distanz zu ihnen gewinnen konnte.
    In akut krisenhaften Zuständen ist die Analyse so gut wie nicht zu brauchen.
    Alles Interesse des Ichs wird dann von der schmerzhaften Realität in Ans
    spruch genommen und verweigert sich der Analyse, die hinter diese Ober
    fläche führen und die Einflüsse der Vergangenheit aufdecken will. Einen
    frischen Konflikt zu schaffen, wird also die analytische Arbeit nur vers
    längern und erschweren.

    Man wird einwenden, das seien völlig überflüssige Erörterungen. Nies
    mand denke daran, die Behandlungsmöglichkeit des latenten Triebkonflikts
    dadurch herzustellen, daß man absichtlich eine neue Leidenssituation heraufs
    beschwört. Das sei auch keine rühmenswerte prophylaktische Leistung. Es
    sei zum Beispiel bekannt, daß eine überstandene Scarlatina eine Immunität
    gegen die Wiederkehr der gleichen Erkrankung zurückläßt; darum fällt es
    doch den Internisten nicht ein, einen Gesunden, der möglicher Weise an
    Scarlatina erkranken kann, zum Zwecke dieser Sicherung mit Scarlatina zu
    infizieren. Die Schutzhandlung darf nicht dieselbe Gefahrsituation hers
    stellen wie die der Erkrankung selbst, sondern nur eine um sehr viel ges
    ringere, wie es bei der Blatternimpfung und vielen ähnlichen Verfahren er-
    reicht wird. Es kämen also auch bei einer analytischen Prophylaxe der Triebs
    konflikte nur die beiden anderen Methoden in Betracht, die künstliche Er-
    zeugung von neuen Konflikten in der Übertragung, denen doch der Chas
    rakter der Realität abgeht, und die Erweckung solcher Konflikte in der Vors
    stellung des Analysierten, indem man von ihnen spricht und ihn mit ihrer
    Möglichkeit vertraut macht.

    Ich weiß nicht, ob man behaupten darf, das erstere dieser beiden milderen
    Verfahren sei in der Analyse durchaus unanwendbar. Es fehlt an besonders
    darauf gerichteten Untersuchungen. Aber es drängen sich sofort Schwierige
    keiten auf, die das Unternehmen nicht als sehr aussichtsreich erscheinen
    lassen. Erstens, daß man in der Auswahl solcher Situationen für die Ubers
    tragung recht eingeschränkt ist. Der Analysierte selbst kann nicht alle seine
    Konflikte in der Übertragung unterbringen; ebensowenig kann der Ana
    lytiker aus der Ubertragungssituation alle möglichen Triebkonflikte des Paz
    tienten wachrufen. Man kann ihn etwa eifersüchtig werden oder Liebesent-
    tåuschungen erleben lassen, aber dazu braucht es keine technische Absicht,
    Dergleichen tritt ohnedies spontan in den meisten Analysen auf. Zweitens
    aber darf man nicht übersehen, daß alle solche Veranstaltungen unfreund-
    liche Handlungen gegen den Analysierten notwendig machen, und durch
    diese schidigt man die zirtliche Einstellung zum Analytiker, die positive

  • S.

    224 Sigm. Freud

    Ubertragung, die das stirkste Motiv fiir die Beteiligung des Analysierten an
    der gemeinsamen analytischen Arbeit ist. Man wird also von diesen Vere
    fahren keinesfalls viel erwarten diirfen.

    So eriibrigt also nur jener Weg, den man urspriinglich wahrscheinlich allein
    im Auge gehabt hat. Man erzählt dem Patienten von den Möglichkeiten an-
    derer Triebkonflikte und weckt seine Erwartung, daß sich dergleichen auch
    bei ihm ereignen könnte. Man hofft nun, solche Mitteilung und Warnung
    werde den Erfolg haben, beim Patienten einen der angedeuteten Konflikte
    in bescheidenem und doch zur Behandlung zureichendem Maß zu aktis
    vieren. Aber diesmal gibt die Erfahrung eine unzweideutige Antwort. Der
    erwartete Erfolg stellt sich nicht ein. Der Patient hort die Botschaft wohl,
    allein es fehlt der Widerhall. Er mag sich denken: Das ist ja sehr interessant,
    aber ich verspiire nichts davon. Man hat sein Wissen vermehrt und sonst
    nichts in ihm verändert. Der Fall ist ungefähr derselbe wie bei der Lektüre
    psychoanalytischer Schriften. Der Leser wird nur bei jenen Stellen „auf:
    geregt", in denen er sich getroffen fühlt, die also die in ihm derzeit wirk-
    samen Konflikte betreffen. Alles andere läßt ihn kalt. Ich meine, man kann
    analoge Erfahrungen machen, wenn man Kindern sexuelle Aufklårungen
    gibt. Ich bin weit entfernt zu behaupten, es sei ein schådliches oder über-
    flüssiges Vorgehen, aber man hat offenbar die vorbeugende Wirkung dieser
    liberalen Mafiregel weit überschätzt. Die Kinder wissen jetzt etwas, was sie
    bisher nicht gewußt haben, aber sie machen nichts mit den neuen, ihnen
    geschenkten Kenntnissen. Man überzeugt sich, daß sie nicht einmal so rasch
    bereit sind, ihnen jene, man möchte sagen: naturwiichsigen, Sexualtheorien
    zum Opfer zu bringen, die sie im Einklang mit und in Abhingigkeit von
    ihrer unvollkommenen Libidoorganisation gebildet haben, von der Rolle des
    Storchs, von der Natur des sexuellen Verkehrs, von der Art, wie die Kinder
    zustande kommen. Noch lange Zeit, nachdem sie die sexuelle Aufklirung
    empfangen haben, benehmen sie sich wie die Primitiven, denen man das
    Christentum aufgedrångt hat und die im Geheimen fortfahren, ihre alten
    Götzen zu verehren.

    У.

    Wir sind von der Frage ausgegangen, wie man die beschwerlich lange
    Dauer einer analytischen Behandlung abkiirzen kann, und sind dann, immer
    noch vom Interesse für zeitliche Verhältnisse geleitet, zur Untersuchung forte
    geschritten, ob man Dauerheilung erzielen oder gar durch vorbeugende Bee
    handlung zukünftige Erkrankung fernhalten kann. Wir haben dabei als mafie
    gebend für den Erfolg unserer therapeutischen Bemühung erkannt die Еше

  • S.

    Die endliche und die unendliche Analyse 225

    flüsse der traumatischen Ätiologie, die relative Stärke der zu beherrschenden
    Triebe und etwas, was wir die Ichverinderung nannten. Nur bei dem zweiten
    dieser Momente haben wir ausführlicher verweilt, hatten dabei Anlaß, die
    überragende Wichtigkeit des quantitativen Faktors anzuerkennen und das
    Anrecht der metapsychologischen Betrachtungsweise bei jedem Erklärungs-
    versuch zu betonen.

    Uber das dritte Moment, das der Ichverånderung, haben wir noch nichts
    geäußert. Wenden wir uns ihm zu, so empfangen wir den ersten Eindruck,
    daß hier viel zu fragen und zu beantworten ist und daß, was wir dazu zu
    sagen haben, sich als sehr unzureichend erweisen wird. Dieser erste Eindruck
    hilt auch bei weiterer Beschäftigung mit dem Problem stand. Die analys
    tische Situation besteht bekanntlich darin, daß wir uns mit dem Ich der
    Objektperson verbiinden, um unbeherrschte Anteile ihres Es zu unterwerfen,
    also sie in die Synthese des Ichs einzubeziehen. Die Tatsache, daß ein solches
    Zusammenarbeiten beim Psychotiker regelmäßig miflingt, leiht unserem Urs
    teil einen ersten festen Punkt. Das Ich, mit dem wir einen solchen Pakt
    schließen können, muß ein normales Ich sein. Aber ein solches Normal-Ich
    ist, wie die Normalitit iiberhaupt, eine Idealfiktion. Das abnorme, fiir unsere
    Absichten unbrauchbare Ich ist leider keine. Jeder Normale ist eben nur
    durchschnittlich normal, sein Ich nåhert sich dem des Psychotikers in dem
    oder jenem Stück, in größerem oder geringerem Ausmaß, und der Betrag der
    Entfernung von dem einen und der Annåherung an das andere Ende der
    Reihe wird uns vorlåufig ein Maf fiir die so unbestimmt gekennzeichnete
    »Ichveránderung" sein.

    Fragen wir, woher die so mannigfaltigen Arten und Grade der Ichvere
    änderung rühren mögen, so ist die nächste unvermeidliche Alternative, sie
    sind entweder urspriinglich oder erworben. Der zweite Fall wird leichter
    zu behandeln sein. Wenn erworben, dann gewiß im Laufe der Entwicklung
    von den ersten Lebenszeiten an. Von allem Anfang an muß ja das Ich seine
    Aufgabe zu erfüllen suchen, zwischen seinem Es und der Außenwelt im
    Dienste des Lustprinzips vermitteln, das Es gegen die Gefahren der Aufen-
    welt behiiten. Wenn es im Laufe dieser Bemiihung lernt, ‚sich auch gegen
    das eigene Es defensiv einzustellen und dessen Triebanspriiche wie åuftere
    Gefahren zu behandeln, so geschieht dies wenigstens zum Teil darum, weil
    es versteht, daß die Triebbefriedigung zu Konflikten mit der Außenwelt
    führen. würde. Das Ich gewöhnt sich dann unter dem Einfluß der Erziehung,
    den Schauplatz des Kampfes von auften nach innen zu verlegen, dieinnere
    Gefahr zu bewältigen, ehe sie zur äußeren geworden ist, und tut wahre

    scheinlich zumeist gut daran. Wåhrend dieses Kampfes auf zwei Fronten
    Int. Zeitschr. F Psychoanalyse XXIII/2 15

  • S.

    26 Sigm. Freud

    — später wird eine dritte Front hinzukommen — bedient sich das Ich vers
    schiedener Verfahren, um seiner Aufgabe zu geniigen, allgemein ausdriickt,
    um Gefahr, Angst, Unlust zu vermeiden. Wir nennen diese Verfahren „A be
    wehrmechanismen“. Sie sind uns noch nicht erschópfend genug bes
    kannt. Das Buch von Anna Freud hat uns einen ersten Einblick in ihre
    Mannigfaltigkeit und vielseitige Bedeutung gestattet.*

    Von einem dieser Mechanismen, von der Verdrängung, hat das Studium
    der neurotischen Vorgänge überhaupt seinen Ausgang genommen. Es war
    nie ein Zweifel daran, daß die Verdrängung nicht das einzige Verfahren ist,
    das dem Ich für seine Absichten zu Gebote steht. Immerhin ist sie etwas
    ganz Besonderes, das von den anderen Mechanismen schärfer geschieden ist
    als diese untereinander. Ich móchte ihr Verhiltnis zu diesen anderen durch
    einen Vergleich deutlich machen, weiß aber, daß in diesen Gebieten Ver:
    gleichungen nie weit tragen. Man denke also an die móglichen Schicksale
    eines Buches zur Zeit, als Bücher noch nicht in Auflagen gedruckt, sondern
    einzeln geschrieben wurden. Ein solches Buch enthalte Angaben, die in
    spáteren Zeiten als unerwünscht betrachtet werden. Etwa wie nach Robert
    Eisler die Schriften des Flavius Josephus Stellen über Jesus Christus
    enthalten haben müssen, an denen die spätere Christenheit Anstoß nahm.
    Die amtliche Zensur würde in der Jetztzeit keinen anderen Abwehrmechas
    nismus anwenden als die Konfiskation und Vernichtung jedes Exemplars der
    ganzen Auflage. Damals wandte man verschiedene Methoden zur Unscháde
    lichmachung an. Entweder die anstóBigen Stellen wurden dick durchge-
    strichen, so daß sie unleserlich waren; sie konnten dann auch nicht abges
    schrieben werden und der nichste Kopist des Buches lieferte einen tadellosen
    Text, aber an einigen Stellen lückenhaft und vielleicht dort unverständlich.
    Oder man begnügte sich nicht damit, wollte auch den Hinweis auf die Vere
    stümmelung des Textes vermeiden; man ging also dazu über, den Text zu
    entstellen. Man ließ einzelne Worte aus oder ersetzte sie durch andere, man
    schaltete neue Sátze ein; am besten strich man die ganze Stelle heraus und
    fügte an ihrer Statt eine andere ein, die das genaue Gegenteil besagte. Der
    náchste Abschreiber des Buches konnte dann einen unverdichtigen Text
    herstellen, der aber verfilscht war; er enthielt nicht mehr, was der Autor
    hatte mitteilen wollen, und sehr wahrscheinlich war er nicht zur Wahrheit
    korrigiert worden.

    Wenn man den Vergleich nicht allzu strenge durchführt, kann man sagen,

    4) Anna Freud: Das Ich und die Abwehrmechanismen. Int. Psa. Verlag, Wien, 1956.
    5) Robert Eisler: Jesus Basileus. Religionswissenschaftliche Bibliothek, begründet von
    W. Streitberg, Band 9, Heidelberg bei Carl Winter, 1929.

  • S.

    Die endliche und die unendliche Analyse 27

    die Verdrängung verhält sich zu den anderen Abwehrmethoden wie die Auss
    lassung zur Textentstellung, und in den verschiedenen Formen dieser Vers
    fälschung kann man die Analogien zur Mannigfaltigkeit der Ichverände-
    rung finden. Man kann den Einwand versuchen, dieser Vergleich gleite in
    einem wesentlichen Punkte ab, denn die Textentstellung ist das Werk einer
    tendenziôsen Zensur, zu der die Ichentwicklung kein Gegenstück zeigt. Aber
    dem ist nicht so, denn diese Tendenz wird durch den Zwang des Lustprinzips
    weitgehend vertreten. Der psychische Apparat vertrigt die Unlust nicht, er
    muf sich ihrer um jeden Preis erwehren, und wenn die Wahrnehmung der
    Realität Unlust bringt, muß sie — die Wahrheit also — geopfert werden.
    Gegen die äußere Gefahr kann man sich eine ganze Weile durch Flucht und
    Vermeidung der Gefahrsituation helfen, bis man spåter einmal stark genug
    wird, um die Drohung durch aktive Veränderung der Realität aufzuheben.
    Aber vor sich selbst kann man nicht fliehen, gegen die innere Gefahr hilft
    keine Flucht, und darum sind die Abwehrmechanismen des Ichs dazu vers
    urteilt, die innere Wahrnehmung zu verfilschen und uns nur eine mangel
    hafte und entstellte Kenntnis unseres Es zu ermåglichen. Das Ich ist dann
    in seinen Beziehungen zum Es durch seine Einschrinkungen gelihmt oder
    durch seine Irrtiimer verblendet, und der Erfolg im psychischen Geschehen
    wird derselbe sein miissen, wie wenn man auf der Wanderung die Gegend
    nicht kennt und nicht riistig ist im Gehen.

    Die Abwehrmechanismen dienen der Absicht, Gefahren abzuhalten. Es
    ist unbestreitbar, daf3 ihnen solches gelingt; es ist zweifelhaft, ob das Ich
    während seiner Entwicklung völlig auf sie verzichten kann, aber es ist auch
    sicher, daß sie selbst zu Gefahren werden können. Manchmal stellt es sich
    heraus, daß das Ich fiir die Dienste, die sie ihm leisten, einen zu hohen Preis
    gezahlt hat. Der dynamische Aufwand, der erfordert wird, um sie zu unters
    halten, sowie die Icheinschränkungen, die sie fast regelmäßig mit sich bringen,
    erweisen sich als schwere Belastungen der psychischen Okonomie. Auch
    werden diese Mechanismen nicht aufgelassen, nachdem sie dem Ich in den
    schweren Jahren seiner Entwicklung ausgeholfen haben. Jede Person vers
    wendet natiirlich nicht alle måglichen Abwehrmechanismen, sondern nur eine
    gewisse Auswahl von ihnen, aber diese fixieren sich im Ich, sie werden regel
    mäßige Reaktionsweisen des Charakters, die durchs ganze Leben wiederholt
    werden, so oft eine der ursprünglichen Situation ähnliche wiederkehrt. Das
    mit werden sie zu Infantilismen, teilen das Schicksal so vieler Institutionen,
    die sich über die Zeit ihrer Brauchbarkeit hinaus zu erhalten streben. ,, Ver»
    nunft wird Unsinn, Wohltat Plage", wie es der Dichter beklagt. Das er

    15°

  • S.

    228 Sigm. Freud

    starkte Ich des Erwachsenen fährt fort, sich gegen Gefahren zu verteidigen,
    die in der Realität nicht mehr bestehen, ja es findet sich gedrängt, jene Situa-
    tionen der Realität herauszusuchen, die die ursprüngliche Gefahr ungefähr
    ersetzen können, um sein Festhalten an den gewohnten Reaktionsweisen an
    ihnen rechtfertigen zu können. Somit wird es leicht verständlich, wie die
    Abwehrmechanismen durch immer weiter greifende Entfremdung von der
    Außenwelt und dauernde Schwächung des Ichs den Ausbruch der Neurose
    vorbereiten und begünstigen.

    Unser Interesse ist aber gegenwärtig nicht auf die pathogene Rolle der Abz
    wehrmechanismen gerichtet; wir wollen untersuchen, wie die ihnen ente
    sprechende Ichveränderung unsere therapeutische Bemühung beeinflußt. Das
    Material zur Beantwortung dieser Frage ist in dem erwihnten Buch von
    Anna Freud gegeben. Das Wesentliche daran ist, daß der Analysierte
    diese Reaktionsweisen auch während der analytischen Arbeit wiederholt, uns
    gleichsam vor Augen führt; eigentlich kennen wir sie nur daher. Damit ist
    nicht gesagt, daß sie die Analyse unmöglich machen. Sie legen vielmehr
    die eine Hilfte unserer analytischen Aufgabe fest. Die andere, die in der
    Frühzeit der Analyse zuerst in Angriff genommen wurde, ist die Aufdeckung
    des im Es Verborgenen. Unsere therapeutische Bemühung pendelt während
    der Behandlung bestándig von einem Stückchen Esanalyse zu einem
    Stückchen Ichanalyse. Im einen Fall wollen wir etwas vom Es bewußt
    machen, im anderen etwas am Ich korrigieren. Die entscheidende Tatsache
    ist nämlich, daß die Abwehrmechanismen gegen einstige Gefahren in der
    Kur als Widerstände gegen die Heilung wiederkehren. Es läuft darauf
    hinaus, daß die Heilung selbst vom Ich wie eine neue Gefahr behandelt wird.

    Der therapeutische Effekt ist an die Bewuftmachung des im Es im
    weitesten Sinn Verdrångten gebunden; wir bereiten dieser Bewuftmachung
    den Weg durch Deutungen und Konstruktionen, aber wir haben nur für
    uns, nicht für den Analysierten gedeutet, solange das Ich an den früheren
    Abwehren festhilt, die Widerstände nicht aufgibt. Nun sind diese Wider-
    stände, obwohl dem Ich angehôrig, doch unbewufit und in gewissem Sinne
    innerhalb des Ichs abgesondert. Der Analytiker erkennt sie leichter als das
    Verborgene im Es; es sollte hinreichen, sie wie Anteile des Es zu behandeln
    und durch Bewuftmachung mit dem übrigen Ich in Beziehung zu bringen.
    Auf diesem Weg wire die eine Hilfte der analytischen Aufgabe zu erledigen;
    auf einen Widerstand gegen die Aufdeckung von Widerstånden möchte man
    nicht rechnen. Es ereignet sich aber folgendes. Während der Arbeit an den
    Widerständen tritt das Ich — mehr oder weniger ernsthaft — aus dem Ver-

  • S.

    Die endliche und die unendliche Analyse 229

    trag aus, auf dem die analytische Situation ruht. Das Ich unterstützt unsere
    Bemiihung um die Aufdeckung des Es nicht mehr, es widersetzt sich ihr,
    hilt die analytische Grundregel nicht ein, lift keine weiteren Abkómmlinge
    des Verdrångten auftauchen. Eine starke Überzeugung von der heilenden
    Macht der Analyse kann man vom Patienten nicht erwarten; er mag ein
    Stück Vertrauen zum Analytiker mitgebracht haben, das durch die zu er-
    weckenden Momente der positiven Übertragung zur Leistungsfähigkeit vers
    stärkt wird. Unter dem Einfluß der Unlustregungen, die durch das neuerliche
    Abspielen der Abwehrkonflikte verspürt werden, können jetzt negative
    Übertragungen die Oberhand gewinnen und die analytische Situation völlig
    aufheben. Der Analytiker ist jetzt für den Patienten nur ein fremder Mensch,
    der unangenehme Zumutungen an ihn stellt, und er benimmt sich gegen
    ihn ganz wie das Kind, das den Fremden nicht mag und ihm nichts glaubt.
    Versucht der Analytiker, dem Patienten eine der in der Abwehr vorgenoms
    menen Entstellungen aufzuzeigen und sie zu korrigieren, so findet er ihn ver-
    ståndnislos und unzugånglich fiir gute Argumente. So gibt es wirklich einen
    Widerstand gegen die Aufdeckung von Widerstånden und die Abwehr-
    mechanismen verdienen wirklich den Namen, mit dem wir sie anfånglich
    bezeichnet haben, ehe sie genauer erforscht wurden; es sind Widerstinde
    nicht nur gegen die Bewufitmachung der Es-Inhalte, sondern auch gegen die
    Analyse iiberhaupt und somit gegen die Heilung.

    Die Wirkung der Abwehren im Ich können wir wohl als ,,Ichveránde-
    rung“ bezeichnen, wenn wir darunter den Abstand von einem fiktiven
    Normal-Ich verstehen, das der analytischen Arbeit unerschiitterliche Bünd-
    nistreue zusichert. Es ist nun leicht zu glauben, was die tigliche Erfahrung
    zeigt, daß es wesentlich davon abhängt, wie stark und wie tief eingewurzelt
    diese Widerstände der Ichverinderung sind, wo es sich um den Ausgang
    einer analytischen Kur handelt. Wieder tritt uns hier die Bedeutung des
    quantitativen Faktors entgegen, wieder werden wir daran gemahnt, daß die
    Analyse nur bestimmte und begrenzte Mengen von Energien aufwenden
    ‘kann, die sich mit den feindlichen Kräften zu messen haben. Und als ob der
    Sieg wirklich meist bei den stårkeren Bataillonen wåre.

    VI

    Die nåchste Frage wird lauten, ob alle Ichverinderung — in unserem Sinne
    — wåhrend der Abwehrkåmpfe der Friihzeit erworben wird. Die Antwort
    kann nicht zweifelhaft sein. Es besteht kein Grund, die Existenz und Bedeu-
    tung urspriinglicher, mitgeborener Ichverschiedenheiten zu bestreiten. Schon
    die eine Tatsache ist entscheidend, daß jede Person ihre Auswahl unter den

  • S.

    230 Sigm. Freud

    möglichen Abwehrmechanismen trifft, immer nur einige und dann stets dies
    selben verwendet. Das deutet darauf hin, daß das einzelne Ich von vornherein
    mit individuellen Dispositionen und Tendenzen ausgestattet ist, deren Art |
    und Bedingtheit wir nun freilich nicht angeben können. Außerdem wissen
    wir, daß wir den Unterschied zwischen ererbten und erworbenen Eigen-
    schaften nicht zu einem Gegensatz iiberspannen dürfen; unter dem Ererbten
    ist, was die Vorfahren erworben haben, gewiß ein wichtiger Anteil. Wenn
    wir von ,,archaischer Erbschaft" sprechen, denken wir gewöhnlich nur an
    das Es und scheinen anzunehmen, daf ein Ich am Beginn des Eigenlebens
    noch nicht vorhanden ist. Aber wir wollen nicht übersehen, daß Es und
    Ich ursprünglich eins sind, und es bedeutet noch keine mystische Über-
    schåtzung der Erblichkeit, wenn wir fiir glaubwürdig halten, daß dem noch
    nicht existierenden Ich bereits festgelegt ist, welche Entwicklungsrichtungen,
    Tendenzen und Reaktionen es spiterhin zum Vorschein bringen wird. Die
    psychologischen Besonderheiten von Familien, Rassen und Nationen auch
    in ihrem Verhalten gegen die Analyse lassen keine andere Erklärung zu.
    Ja noch mehr, die analytische Erfahrung hat uns die Überzeugung aufge-
    drängt, daß selbst bestimmte psychische Inhalte wie die Symbolik keine
    anderen Quellen haben als die erbliche Übertragung, und in verschiedenen
    völkerpsychologischen Untersuchungen wird uns nahegelegt, noch andere,
    ebenso spezialisierte Niederschläge frühmenschlicher Entwicklung in der
    archaischen Erbschaft vorauszusetzen.

    Mit der Einsicht, daß die Eigenheiten des Ichs, die wir als Widerstände zu
    spüren bekommen, ebensowohl hereditär bedingt als in Abwehrkåmpfen ere
    worben sein können, hat die topische Unterscheidung, ob Ich, ob Es, viel
    von ihrem Wert für unsere Untersuchung eingebüßt. Ein weiterer Schritt in
    unserer analytischen Erfahrung führt uns zu Widerständen anderer Art, die
    wir nicht mehr lokalisieren können und die von fundamentalen Verhältnissen
    im seelischen Apparat abzuhängen scheinen. Ich kann nur einige Proben
    dieser Gattung aufführen, das ganze Gebiet ist noch verwirrend fremd, uns
    genügend erforscht. Man trifft z. B. auf Personen, denen man eine besondere
    „Klebrigkeit der Libido“ zuschreiben möchte. Die Prozesse, die die Kur bei
    ihnen einleitet, verlaufen so viel langsamer als bei anderen, weil sie sich, wie
    es scheint, nicht entschließen können, Libidobesetzungen von einem Objekt
    abzulösen und auf ein neues zu verschieben, obwohl besondere Gründe für
    solche Besetzungstreue nicht zu finden sind. Man begegnet auch dem ent-
    gegengesetzten Typus, bei dem die Libido besonders leicht beweglich er-
    scheint, rasch auf die von der Analyse vorgeschlagenen Neubesetzungen

  • S.

    Die endliche und die unendliche Analyse 231

    eingeht und die früheren fiir sie aufgibt. Es ist ein Unterschied, wie ihn der
    bildende Kiinstler verspiiren mag, ob er in hartem Stein oder in weichem
    Ton arbeitet. Leider zeigen sich die analytischen Resultate bei diesem zweiten
    Typus oft als sehr hinfällig; die neuen Besetzungen werden bald wieder
    verlassen, man bekommt den Eindruck, als habe man nicht in Ton gearbeitet,
    sondern in Wasser geschrieben. Die Warnung „Wie gewonnen, so zers
    ronnen'* behält hier Recht.

    Bei einer anderen Gruppe von Fällen wird man durch ein Verhalten iibere
    rascht, das man nur auf eine Erschöpfung der sonst zu erwartenden Plastic
    zität, der Fähigkeit zur Abänderung und Weiterentwicklung beziehen kann.
    Auf ein gewisses Maß von psychischer Trigheit sind wir in der Analyse wohl
    vorbereitet; wenn die analytische Arbeit der Triebregung neue Wege er
    öffnet hat, so beobachten wir fast regelmäßig, daß sie nicht ohne deutliche
    Verzógerung begangen werden. Wir haben dies Verhalten, vielleicht nicht
    ganz richtig, als „Widerstand vom Es“ bezeichnet. Aber bei den Fällen, die
    hier gemeint sind, erweisen sich alle Abläufe, Beziehungen und Kraftvere
    teilungen als unabånderlich, fixiert und erstarrt. Es ist so, wie man es bei
    sehr alten Leuten findet, durch die sogenannte Macht der Gewohnheit, die
    Erschópfung der Aufnahmsfihigkeit, durch eine Art von psychischer
    Entropie erklärt; aber es handelt sich hier um noch jugendliche Individuen.
    Unsere theoretische Vorbereitung scheint unzureichend, um die so beschrie-
    benen Typen richtig aufzufassen; es kommen wohl zeitliche Charaktere in
    Betracht, Abinderungen eines noch nicht gewürdigten Entwicklungse
    rhythmus im psychischen Leben. ・

    Anders und noch tiefer begründet mögen die Ichverschiedenheiten sein,
    die in einer weiteren Gruppe von Fällen als Quellen des Widerstands gegen
    die analytische Kur und als Verhinderungen des therapeutischen Erfolgs
    zu beschuldigen sind. Hier handelt es sich um das letzte, was die psycho
    logische Erforschung iiberhaupt zu erkennen vermag, das Verhalten der
    beiden Urtriebe, deren Verteilung, Vermengung und Entmischung, Dinge,
    die nicht auf eine einzige Provinz des seelischen Apparates, Es, Ich und
    Uber-Ich beschränkt vorzustellen sind. Es gibt keinen stärkeren Eindruck
    von den Widerständen während der analytischen Arbeit als den von einer
    Kraft, die sich mit allen Mitteln gegen die Genesung wehrt und durchaus an
    Krankheit und Leiden festhalten will. Einen Anteil dieser Kraft haben win,
    sicherlich mit Recht, als Schuldbewußtsein und Strafbedürfnis agnosziert und
    im| Verhältnis des Ichs zum ÜberzIch lokalisiert. Aber das ist nur jener Ans
    teil, der vom Uber-lch sozusagen psychisch gebunden ist und in solcher

  • S.

    232 Sigm. Freud

    Weise kenntlich wird; andere Beträge derselben Kraft mögen, unbestimmt
    wo, in gebundener oder freier Form, am Werke sein. Hält man sich das Bild
    in seiner Gesamtheit vor, zu dem sich die Erscheinungen des immanenten
    Masochismus so vieler Personen, der negativen therapeutischen Reaktion und
    des Schuldbewußtseins der Neurotiker zusammensetzen, so wird man nicht
    mehr dem Glauben anhängen können, daß das seelische Geschehen aus-
    schließlich vom Luststreben beherrscht wird. Diese Phänomene sind une
    verkennbare Hinweise auf das Vorhandensein einer Macht im Seelenleben,
    die wir nach ihren Zielen Aggressions oder Destruktionstrieb heißen und
    von dem ursprünglichen Todestrieb der belebten Materie ableiten. Ein
    Gegensatz einer optimistischen zu einer pessimistischen Lebenstheorie kommt
    nicht in Frage; nur das Zusammen- und Gegeneinanderwirken beider Ure
    triebe Eros und Todestrieb erklärt die Buntheit der Lebenserscheinungen,
    niemals einer von ihnen allein.

    Wie Anteile der beiden Triebarten zur Durchsetzung der einzelnen Lebens-
    funktionen miteinander zusammentreten, unter welchen Bedingungen diese
    Vereinigungen sich lockern oder zerfallen, welche Stórungen diesen Vere
    änderungen entsprechen und mit welchen Empfindungen die Wahrnehs
    mungsskala des Lustprinzips auf sie antwortet, das klarzustellen wire die
    lohnendste Aufgabe der psychologischen Forschung. Vorlåufig beugen wir
    uns vor der Übermacht der Gewalten, an der wir unsere Bemühungen schei-
    tern sehen. Schon die psychische Beeinflussung des einfachen Masochismus
    stellt unser Kónnen auf eine harte Probe.

    Beim Studium der Phänomene, die die Betätigung des Destruktionstriebs
    erweisen, sind wir nicht auf Beobachtungen an pathologischem Material eins
    geschrånkt. Zahlreiche Tatsachen des normalen Seelenlebens drängen nach
    einer solchen Erklärung, und je mehr unser Blick sich schärft, desto reichs
    licher werden sie uns auffallen. Es ist ein Thema, zu neu und zu wichtig, um
    es in dieser Erörterung wie beiläufig zu behandeln; ich werde mich damit
    bescheiden, einige wenige Proben herauszuheben. Die folgende als Beispiel:

    Es ist bekannt, daß es zu allen Zeiten Menschen gegeben hat und noch
    gibt, die Personen des gleichen wie des anderen Geschlechts zu ihren Sexual-
    objekten nehmen können, ohne daß die eine Richtung die andere beeintráche
    tigt. Wir heiflen diese Leute Bisexuelle, nehmen ihre Existenz hin, ohne uns
    viel darüber zu verwundern. Wir haben aber gelernt, daß alle Menschen in
    diesem Sinne bisexuell sind, ihre Libido entweder in manifester oder in
    latenter Weise auf Objekte beider Geschlechter verteilen, Nur fällt uns fol:
    gendes dabei auf. Wihrend im ersten Falle die beiden Richtungen sich ohne

  • S.

    Die endliche und die unendliche Analyse 233

    Anstoß mit einander vertragen haben, befinden sie sich im anderen und
    häufigeren Falle im Zustand eines unversóhnlichen Konflikts. Die Hetero-
    sexualität eines Mannes duldet keine Homosexualität, und ebenso ist es ume
    gekehrt. Ist die erstere die stärkere, so gelingt es ihr, die letztere latent zu
    erhalten und von der Realbefriedigung abzudringen; andererseits gibt es
    ' keine größere Gefahr für die heterosexuelle Funktion eines Mannes als die
    Störung durch die latente Homosexualität. Man könnte die Erklärung vers
    suchen, daß eben nur ein bestimmter Betrag von Libido verfügbar ist, um
    den die beiden mit einander rivalisierenden Richtungen ringen müssen. Allein
    man sieht nicht ein, warum die Rivalen nicht regelmäßig den verfügbaren
    Betrag der Libido je nach ihrer relativen Stärke unter sich aufteilen, wenn sie
    es doch in manchen Fällen tun können. Man bekommt durchaus den Eins
    druck, als sei die Neigung zum Konflikt etwas Besonderes, was neu zur
    Situation hinzukommt, unabhängig von der Quantität der Libido. Eine solche
    unabhängig auftretende Konfliktneigung wird man kaum auf anderes zuriicks
    führen können als auf das Eingreifen eines Stückes von freier Aggression.
    Wenn: man den hier erôrterten Fall als Äußerung des Destruktionss oder
    Aggressionstriebs anerkennt, so erhebt sich sofort die Frage, ob man nicht
    dieselbe Auffassung auf andere Beispiele von Konflikt ausdehnen, ja ob
    man nicht iiberhaupt all unser Wissen vom psychischen Konflikt unter
    diesem neuen Gesichtspunkt revidieren soll. Wir nehmen doch an, daß auf
    dem Weg der Entwicklung vom Primitiven zum Kulturmenschen eine sehr
    erhebliche Verinnerlichung, Einwirtswendung der Aggression stattfindet,
    und für die AuBenkámpfe, die dann unterbleiben, wären die inneren Kon:
    flikte sicherlich das richtige Äquivalent. Es ist mir wohl bekannt, daß die
    dualistische Theorie, die einen Todes Destruktionss oder Aggressionstrieb
    als gleichberechtigten Partner neben den in der Libido sich kundgebenden
    Eros hinstellen will, im allgemeinen wenig Anklang gefunden und sich auch
    unter Psychoanalytikern nicht eigentlich durchgesetzt hat. Umsomehr mußte
    es mich erfreuen, als ich unlängst unsere Theorie bei einem der großen
    Denker der griechischen Friihzeit wiederfand. Ich opfere dieser Bestitigung
    gem das Prestige der Originalität, zumal da ich bei dem Umfang meiner
    Lektüre in früheren Jahren doch nie sicher werden kann, ob meine angebs
    liche Neuschópfung nicht eine Leistung der Kryptomnesie war.
    Empedokles aus Akragas (Спрепн), etwa 495 a. Chr. geboren, ers
    scheint als eine der groBartigsten und merkwürdigsten Gestalten der griechis
    schen Kulturgeschichte, Seine vielseitige Persönlichkeit betätigte sich in den

    mo Das Folgende nach Wilhelm Capelle: Die Vorsokratiker, Alfred Króner, Leipzig,

  • S.

    234 Sigm. Freud

    verschiedensten Richtungen; er war Forscher und Denker, Prophet und
    Magier, Politiker, Menschenfreund und naturkundiger Arzt; er soll die Stadt
    Selinunt von der Malaria befreit haben, von seinen Zeitgenossen wurde er
    wie ein Gott verehrt. Sein Geist scheint die schirfsten Gegensitze in sich
    vereinigt zu haben; exakt und nüchtern in seinen physikalischen und physioz |
    logischen Forschungen, scheut er doch vor dunkler Mystik nicht zurück,
    baut kosmische Spekulation auf von erstaunlich phantastischer Kiihnheit.
    Capelle vergleicht ihn dem Dr. Faust, ,,dem gar manch Geheimnis wurde
    Кипа“. Zu einer Zeit entstanden, da das Reich des Wissens noch nicht in
    so viele Provinzen zerfiel, müssen manche seiner Lehren uns primitiv ans
    muten, Er erklärte die Verschiedenheiten der Dinge durch Mischungen der
    vier Elemente, Erde, Wasser, Feuer und Luft, glaubte an die Allbelebtheit
    der Natur und an die Seelenwanderung, aber auch so moderne Ideen wie die
    stufenweise Entwicklung der Lebewesen, das Uberbleiben des Tauglichsten
    und die Anerkennung der Rolle des Zufalls (0x1) bei dieser Entwicklung
    gehen in sein Lehrgebåude ein.

    Unser Interesse gebührt aber jener Lehre des Empedokles, die der psychos
    analytischen Triebtheorie so nahe kommt, daß man versucht wird zu bee
    haupten, die beiden wären identisch, bestünde nicht der Unterschied, daß
    die des Griechen eine kosmische Phantasie ist, wahrend unsere sich mit dem
    Anspruch auf biologische Geltung bescheidet. Der Umstand freilich, daß
    Empedokles dem Weltall dieselbe Beseelung zuspricht wie dem eine
    zelnen Lebewesen, entzieht dieser Differenz ein großes Stück ihrer Bedéu-
    tung. ⑧

    Der Philosoph lehrt also, daß es zwei Prinzipien des Geschehens im welt-
    lichen wie im seelischen Leben gibt, die in ewigem Kampf mit einander liegen.
    Er nennt sie や AiG — Liebe 一 und veikoc 一 Streit. Die eine dieser
    Mächte, die fiir ihn im Grunde „triebhaft wirkende Naturkräfte, durchaus
    keine zweckbewuften Intelligenzen'” sind, strebt darnach, die Urteilchen der
    vier Elemente zu einer Einheit zusammenzuballen, die andere im Gegenteile
    will all diese Mischungen rückgängig machen und die Urteilchen der Elez
    mente von einander sondern. Den Weltprozef denkt er sich als fortgesetzte,
    niemals aufhórende Abwechslung von Perioden, in denen die eine oder die
    andere der beiden Grundkråfte den Sieg davontrågt, so daf3 einmal die Liebe,
    das nåchstemal der Streit seine Absicht voll durchsetzt und die Welt be
    herrscht, worauf der andere, unterlegene, Teil einsetzt und nun seinerseits
    den Partner niederringt.

    7) 1. <, S. 186.

  • S.

    Die endliche und die unendliche Analyse 235

    Die beiden Grundprinzipien des E mpedokles — pia und veixog 一
    sind dem Namen wie der Funktion nach das Gleiche wie unsere beiden Ur-
    triebe Eros und Destruktion, der eine bemüht, das Vorhandene zu
    immer größeren Einheiten zusammenzufassen, der andere, diese Vereini-
    gungen aufzulösen und die durch sie entstandenen Gebilde zu zerstören. Wir
    werden uns aber auch nicht verwundern, daß diese Theorie in manchen
    Zügen verändert ist, wenn sie nach zweiundeinhalb Jahrtausenden wieder
    auftaucht. Von der Einschränkung auf das Biopsychische abgesehen, die uns
    auferlegt ist, unsere Grundstoffe sind nicht mehr die vier Elemente des
    Empedokles, das Leben hat sich fiir uns scharf vom Unbelebten gesons
    dert, wir denken nicht mehr an Vermengung und Trennung von Stoffteilchen,
    sondern an Verlötung und Entmischung von Triebkomponenten. Auch
    haben wir das Prinzip des ,,Streites" gewissermaßen biologisch unterbaut,
    indem wir unseren Destruktionstrieb auf den Todestrieb zuriickfiihrten, den
    Drang des Lebenden, zum Leblosen zuriickzukehren. Das will nicht in Abe
    rede stellen, daß ein analoger Trieb schon vorher bestanden hat, und natür-
    lich nicht behaupten, daß ein solcher Trieb erst mit dem Erscheinen des
    Lebens entstanden ist. Und niemand kann vorhersehen, in welcher Einklei-

    · dung der Wahrheitskern in der Lehre des Em pe do kle sich späterer Ein:
    sicht zeigen wird.
    VIL

    Ein inhaltreicher Vortrag, den S. Ferenczi 1927 gehalten, „Das Pros
    blem der Beendigung der Analysen", schließt mit der tróstlichen Versiche-
    rung, „daß die Analyse kein endloser Prozeß ist, sondern bei entsprechender
    Sachkenntnis und Geduld des Analytikers zu einem natürlichen Abschluß
    gebracht werden kann”. Ich meine, im ganzen kommt dieser Aufsatz doch
    einer Mahnung gleich, sich nicht die Abkiirzung, sondern die Vertiefung
    der Analyse zum Ziel zu setzen. Ferenczi fügt noch die wertvolle Be-
    merkung an, es sei so sehr entscheidend fiir den Erfolg, daß der Analytiker
    aus seinen eigenen „Irrungen und Irrtiimern“ genügend gelernt und die
    „schwachen Punkte der eigenen Persönlichkeit“ in seine Gewalt bekommen
    habe, Das ergibt eine wichtige Ergänzung zu unserem Thema. Nicht nur die
    Ichbeschaffenheit des Patienten, auch die Eigenart des Analytikers fordert
    ihre Stelle unter den Momenten, die die Aussichten der analytischen Kur
    beeinflussen und dieselbe nach Art der Widerstände erschweren.

    Es ist unbestreitbar, daß die Analytiker in ihrer eigenen Persönlichkeit
    nicht durchwegs das Maß von psychischer Normalität erreicht haben, zu

    8) Int. Ztschr. f. Psa., Bd. XIV, 1928.

  • S.

    236 Sigm. Freud

    dem sie ihre Patienten erziehen wollen. Gegner der Analyse pflegen auf diese
    Tatsache hShnend hinzuweisen und sie als Argument für die Nutzlosigkeit
    der analytischen Bemiihung zu verwerten. Man könnte diese Kritik als une
    gerechte Anforderung zuriickweisen. Analytiker sind Personen, die eine be
    stimmte Kunst auszuiiben gelernt haben und daneben Menschen sein diirfen
    wie auch andere. Man behauptet doch sonst nicht, daß jemand zum Arzt
    fiir interne Krankheiten nicht taugt, wenn seine internen Organe nicht gesund
    sind; man kann im Gegenteil gewisse Vorteile dabei finden, wenn ein selbst
    von Tuberkulose Bedrohter sich in der Behandlung von "Tuberkulôsen spes
    zialisiert. Aber die Fille liegen doch nicht gleich. Der lungens oder herzs
    kranke Arzt wird, insoweit er iiberhaupt leistungsfåhig geblieben ist, durch
    sein Kranksein weder in der Diagnostik noch in der Therapie interner Leiden
    behindert sein, wåhrend der Analytiker infolge der besonderen Bedingungen
    der analytischen Arbeit durch seine eigenen Defekte wirklich darin gestört
    wird, die Verhältnisse des Patienten richtig zu erfassen und in zweckdiens
    licher Weise auf sie zu reagieren. Es hat also seinen guten Sinn, wenn man
    vom Analytiker als Teil seines Befihigungsnachweises ein höheres Maß von
    seelischer Normalität und Korrektheit fordert; dazu kommt noch, daß er
    auch eine gewisse Überlegenheit benötigt, um auf den Patienten in gewissen
    analytischen Situationen als Vorbild, in anderen als Lehrer zu wirken. Und
    endlich ist nicht zu vergessen, daß die analytische Beziehung auf Wahrheitse
    liebe, d. h. auf die Anerkennung der Realitåt gegriindet ist und jeden Schein
    und ‚Trug ausschließt.

    Machen wir einen Moment halt, um den Analytiker unserer aufrichtigen
    Anteilnahme zu versichern, daß er bei Ausübung seiner Tätigkeit so schwere
    Anforderungen erfüllen soll. Es hat doch beinahe den Anschein, als wäre
    das Analysieren der dritte jener „unmöglichen‘“ Berufe, in denen man des
    ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher sein kann. Die beiden anderen,
    weit länger bekannten, sind das Erziehen und das Regieren. Daß der zukiinfs
    tige Analytiker ein vollkommener Mensch sei, ehe er sich mit der Analyse
    beschäftigt hat, also daß nur Personen von so hoher und so seltener Voll
    endung sich diesem Beruf zuwenden, kann man offenbar nicht verlangen.
    Wo und wie soll aber der Armste sich jene ideale Eignung erwerben, die
    er in seinem Berufe brauchen wird? Die Antwort wird lauten: in der Eigene
    analyse, mit der seine Vorbereitung für seine zukünftige Tátigkeit beginnt.
    Aus praktischen Gründen kann diese nur kurz und unvollstándig sein, ihr
    'hauptsichlicher Zweck ist, dem Lehrer ein Urteil zu ermöglichen, ob der
    Kandidat zur weiteren Ausbildung zugelassen werden kann. Ihre Leistung

  • S.

    Die endliche und die unendliche Analyse 237

    ist erfüllt, wenn sie dem Lehrling die sichere Überzeugung von der Existenz
    des Unbewuften bringt, ihm die sonst unglaubwiirdigen Selbstwahrneh>
    mungen beim Auftauchen des Verdringten vermittelt und ihm an einer ersten
    Probe die Technik zeigt, die sich in der analytischen Tätigkeit allein bewährt
    hat. Dies allein wiirde als Unterweisung nicht ausreichen, allein man rechnet
    darauf, daß die in der Eigenanalyse erhaltenen Anregungen mit deren Auf-
    hören nicht zu Ende kommen, daß die Prozesse der Ichumarbeitung sich
    spontan beim Analysierten fortsetzen und alle weiteren Erfahrungen in dem
    neu erworbenen Sinn verwenden werden. Das geschieht auch wirklich, und
    soweit es geschieht, macht es den Analysierten tauglich zum Analytiker.

    Es ist bedauerlich, daß außerdem noch anderes geschieht. Man bleibt auf
    Eindriicke angewiesen, wenn man dies beschreiben will; Feindseligkeit auf
    der einen, Parteilichkeit auf der anderen Seite schaffen eine Atmosphire, die
    der objektiven Erforschung nicht günstig ist. Es scheint also, daß zahlreiche
    Analytiker es erlernen, Abwehrmechanismen anzuwenden, die ihnen ge-
    statten, Folgerungen und Forderungen der Analyse von der eigenen Person
    abzulenken, wahrscheinlich indem sie sie gegen andere richten, so daß sie
    selbst bleiben, wie sie sind; und sich dem kritisierenden und korrigierenden
    Einfluß der Analyse entziehen können. Es mag sein, daß dieser Vorgang
    dem Dichter recht gibt, der uns mahnt, wenn einem Menschen Macht ver
    lieben wird, falle es ihm schwer, sie nicht zu miBbrauchen.? Mitunter drängt
    sich dem um ein Verstindnis Bemiihten die unliebsame Analogie mit der
    Wirkung der Réntgenstrahlen auf, wenn man ohne besondere Vorsichten
    mit ihnen hantiert, Es wäre nicht zu verwundern, wenn durch die unausz
    gesetzte Beschiftigung mit all dem Verdrångten, was in der menschlichen
    Seele nach Befreiung ringt, auch beim Analytiker alle jene Triebanspriiche
    wachgeriittelt wiirden, die er sonst in der Unterdriickung erhalten kann. Auch
    dies sind ,,Gefahren der Analyse", die zwar nicht dem passiven, sondern dem
    aktiven Partner der analytischen Situation drohen, und man sollte es nicht
    unterlassen, ihnen zu begegnen. Es kann nicht zweifelhaft sein, auf welche
    Weise. Jeder Analytiker sollte periodisch, etwa nach Verlauf von fiinf
    Jahren, sich wieder zum Objekt der Analyse machen, ohne sich dieses
    Schrittes zu schämen. Das hieße also, auch die Eigenanalyse würde aus einer
    endlichen eine unendliche Aufgabe, nicht nur die therapeutische Analyse
    am Kranken. ⑥

    Indes hier ist es an der Zeit, ein Mifverständnis abzuwehren. Ich habe
    nicht die Absicht zu behaupten, daß die Analyse überhaupt eine Arbeit ohne

    9) Anatole France: La revolte des anges.

  • S.

    ___________________ __ __-_ _ _-
    238 Sigm. Freud

    Abschluß ist. Wie immer man sich theoretisch zu dieser Frage stellen mag,
    die Beendigung einer Analyse ist, meine ich, eine Angelegenheit der Praxis.
    Jeder erfahrene Analytiker wird sich an eine Reihe von Fällen erinnern
    können, in denen er rebus bene gestis vom Patienten dauernden Abschied
    genommen hat. Weit weniger entfernt sich die Praxis von der Theorie in
    Fillen der sogenannten Charakteranalyse. Hier wird man nicht leicht ein
    natürliches Ende voraussehen können, auch wenn man sich von übertriebenen
    Erwartungen ferne hilt und der Analyse keine extremen Aufgaben stellt.
    Man wird sich nicht zum Ziel setzen, alle menschlichen Eigenarten zugunsten
    einer schematischen Normalitit abzuschleifen oder gar zu fordern, daß der
    „gründlich Analysierte" keine Leidenschaften verspüren und keine inneren
    Konflikte entwickeln dürfe. Die Analyse soll die für die Ichfunktionen günz
    stigsten psychologischen Bedingungen herstellen; damit wire ihre Aufgabe
    erledigt.

    VIII.

    In therapeutischen ebenso wie in Charakteranalysen wird man auf die
    Tatsache aufmerksam, daß zwei Themen sich besonders hervortun und dem
    Analytiker ungewöhnlich viel zu schaffen machen. Man kann das Gesetze
    mäßige, das sich darin äußert, nicht lange verkennen. Die beiden Themen
    sind an die Differenz der Geschlechter gebunden; das eine ist ebenso cha-
    rakteristisch für den Mann wie das andere für das Weib. Trotz der Vers
    schiedenheit des Inhalts sind es offenbare Entsprechungen. Etwas, das beiden
    Geschlechtern gemeinsam ist, ist durch den Geschlechtsunterschied in eine
    andere Ausdrucksform gepreßt worden.

    Die beiden einander entsprechenden Themen sind für das Weib der
    Penisneid — das positive Streben nach dem Besitz eines männlichen Genis
    tales 一 , für den Mann das Sträuben gegen seine passive oder feminine Ein
    stellung zum anderen Mann. Das Gemeinsame hat die psychoanalytische
    Nomenklatur frühzeitig als Verhalten zum Kastrationskomplex herausge-
    hoben, Alfred Adler hat später die für den Mann voll zutreffende Bezeich>
    nung „männlicher Protest" in Gebrauch gebracht; ich meine, „Ablehnung
    der Weiblichkeit“ wäre vom Anfang an die richtige Beschreibung dieses so
    merkwürdigen Stückes des menschlichen Seelenlebens gewesen.

    Beim Versuch einer Einfügung in unser theoretisches Lehrgebäude darf
    man nicht übersehen, daß dieser Faktor seiner Natur nach nicht die gleiche
    Unterbringung bei beiden Geschlechtern finden kann. Beim Mann ist das
    Månnlichkeitsstreben von Anfang an und durchaus ichgerecht; die passive
    Einstellung wird, da sie die Annahme der Kastration voraussetzt, energisch

  • S.

    Die endliche und die unendliche Analyse 239

    verdringt, und oftmals weisen nur exzessive Uberkompensationen auf ihr
    Vorhandensein hin. Auch beim Weib ist das Streben nach Minnlichkeit zu
    einer gewissen Zeit ichgerecht, nämlich in der phallischen Phase, vor der Ent
    wicklung zur Femininitåt. Dann aber unterliegt es jenem bedeutsamen Vere
    drängungsprozef}, von dessen Ausgang, wie oft dargestellt, die Schicksale
    der Weiblichkeit abhångig sind. Sehr viel wird darauf ankommen, ob genug
    vom Månnlichkeitskomplex sich der Verdrångung entzieht und den Cha-
    rakter dauernd beeinflußt; große Anteile des Komplexes werden normaler
    Weise umgewandelt, um zum Aufbau der Weiblichkeit beizutragen; aus
    dem ungestillten Wunsch nach dem Penis soll der Wunsch nach dem Kind
    und nach dem Manne werden, der den Penis trägt. Ungewöhnlich oft aber
    werden wir finden, daß der Männlichkeitswunsch im Unbewußten erhalten
    geblieben ist und von der Verdrängung her seine störenden Wirkungen ente
    faltet.

    Wie man aus dem Vorstehenden ersieht, ist es in beiden Fällen das Gegen-
    geschlechtliche, das der Verdrångung verfållt. Ich habe bereits an anderer
    Stelle erwähnt, daß mir dieser Gesichtspunkt seinerzeit von Wilhelm F lie 8
    vorgetragen wurde, der geneigt war, den Gegensatz der Geschlechter fiir den
    eigentlichen Anlaß und das Urmotiv der Verdrängung zu erklären. Ich
    wiederhole nur meinen damaligen Widerspruch, wenn ich es ablehne, die
    Verdrångung in solcher Art zu sexualisieren, also sie biologisch anstatt nur
    psychologisch zu begriinden.

    Die hervorragende Bedeutung dieser beiden Themen — des Peniswunsches
    beim Weibe und des Sträubens gegen die passive Einstellung beim Manne
    — ist der Aufmerksamkeit Ferenczis nicht entgangen. In seinem 1927
    gehaltenen Vortrag stellt er die Forderung auf, daß jede erfolgreiche Ana-

    * lyse diese beiden Komplexe bewältigt haben müßte.!! Ich möchte aus eigener
    Erfahrung hinzufügen, daß ich Ferenczi hier besonders anspruchsvoll
    finde. Zu keiner Zeit der analytischen Arbeit leidet man mehr unter dem be-
    drückenden Gefühl erfolglos wiederholter Anstrengung, unter dem Verdacht,
    daß man ,,Fischpredigten” abhält, als wenn man die Frauen bewegen will,
    ihren Peniswunsch als undurchsetzbar aufzugeben, und wenn man die
    Männer überzeugen möchte, daß eine passive Einstellung zum Mann nicht
    immer die Bedeutung einer Kastration hat und in vielen Lebensbeziehungen

    10) „Ein Kind wird geschlagen", Ges. Schr., Bd. V, S. 369.

    11) ,... .jeder männliche Patient muß dem Arzt gegenüber als Zeichen der Ober
    windung der Kastrationsangst ein Gefühl der Gleichberechtigung erlangen, alle weiblichen
    Kranken müssen, soll ihre Neurose als eine vollständig erledigte gelten, mit ihrem Männ-
    lichkeitskomplex fertig werden und sich ohne Ramkiine den Denkmóglichkeiten der weib-
    lichen Rolle hingeben“. (1. c., S. 8)

  • S.

    240 Sigm. Freud

    unerläßlich ist. Aus der trotzigen Uberkompensation des Mannes leitet sich
    einer der stärksten Ubertragungswiderstånde ab. Der Mann will sich einem
    Vaterersatz nicht unterwerfen, will ihm nicht zu Dank verpflichtet sein, will
    also auch vom Arzt die Heilung nicht annehmen. Eine analoge Ubertragung
    kann sich aus dem Peniswunsch des Weibes nicht herstellen, dagegen
    stammen aus dieser Quelle Ausbriiche von schwerer Depression um die
    innere Sicherheit, daß die analytische Kur nichts nützen wird und daß der
    Kranken nicht geholfen werden kann. Man wird ihr nicht unrecht geben,
    wenn man erfährt, daß die Hoffnung, das schmerzlich vermifite männliche
    Organ doch noch zu bekommen, das stärkste Motiv war, das sie in die Kur
    gedringt hat.

    Man lernt aber auch daraus, daß es nicht wichtig ist, in welcher Form der
    Widerstand auftritt, ob als Übertragung oder nicht. Entscheidend bleibt, daß
    der Widerstand keine Änderung zustande kommen läßt, daß alles so bleibt,
    wie es ist. Man hat oft den Eindruck, mit dem Peniswunsch und dem 1112111112
    lichen Protest sei man durch alle psychologische Schichtung hindurch zum
    „gewachsenen Fels" durchgedrungen und so am Ende seiner Tätigkeit. Das
    muß wohl so sein, denn fiir das Psychische spielt das Biologische wirklich
    die Rolle des unterliegenden gewachsenen Felsens. Die Ablehnung der Weibz
    lichkeit kann ja nichts anderes sein als eine biologische Tatsache, ein Stiick
    jenes großen Ritsels der Geschlechtlichkeit.? Ob und wann es uns in einer
    analytischen Kur gelungen ist, diesen Faktor zu bewiltigen, wird schwer
    zu sagen sein. Wir trösten uns mit der Sicherheit, daß wir dem Analysierten
    jede mögliche Anregung geboten haben, seine Einstellung zu ihm zu über-
    priifen und zu åndern.

    12) Man darf sich durch die Bezeichnung „männlicher Protest" nicht zur Annahme
    verleiten lassen, die Ablehnung des Mannes gelte der passiven Einstellung, dem sozusagen
    sozialen Aspekt der Femininitit. Dem widerspricht die leicht zu beståtigende Beobachtung,
    daß solche Männer häufig ein masochistisches Verhalten gegen das Weib, gradezu eine
    Hórigkeit zur Schau tragen. Der Mann wehrt sich nur gegen die Passivität im Verhältnis
    zum Mann, nicht gegen die Passivitit überhaupt. Mit anderen Worten, der „männliche
    Protest" ist in der Tat nichts anderes als Kastrationsangst.