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Die infantile Genitalorganisation.
(Eine Einschaltung in die Sexualtheorie.)
Von Sigm. Freud.
Es ist recht bezeichnend für die Schwierigkeit der Forschungs-
arbeit in der Psychoanalyse, daß es möglich ist, allgemeine Züge
und charakteristische Verhältnisse trotz unausgesetzter jahrzehnte-
langer Beobachtung zu übersehen, bis sie einem endlich einmal
unverkennbar entgegentreten; eine solche Vernachlässigung auf
dem Gebiet der infantilen Sexualentwicklung möchte ich durch
die nachstehenden Bemerkungen gutmachen.Den Lesern meiner „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“
(1905) wird es bekannt sein, daß ich in den späteren Ausgaben
dieser Schrift niemals eine Umarbeitung vorgenommen, sondern
die ursprüngliche Anordnung gewahrt habe und den Fortschritten
unserer Einsicht durch Einschaltungen und Abänderungen des
Textes gerecht geworden bin. Dabei mag es oft vorgekommen
sein, daß das Alte und das Neuere sich nicht gut zu einer wider-
spruchsfreien Einheit verschmelzen ließen. Anfänglich ruhte ja
der Akzent auf der Darstellung der fundamentalen Verschiedenheit
im Sexualleben der Kinder und der Erwachsenen, später drängten
sich die prägenitalen Organisationen der Libido in den
Vordergrund und die merkwürdige und folgenschwere Tatsache
des zweizeitigen Ansatzes der Sexualentwicklung. Endlich
nahm die infantile Sexualforschung unser Interesse in
Anspruch, und von ihr aus ließ sich die weitgehende Annäherung
des Ausganges der kindlichen Sexualität (um das
fünfte Lebensjahr) an die Endgestaltung beim Erwachsenen
erkennen. Dabei bin ich in der letzten Auflage der Sexualtheorie
(1922) stehen geblieben.Auf Seite 63 derselben erwähne ich, daß „häufig oder regel-
mäßig bereits in den Kinderjahren eine Objektwahl vollzogen
wird, wie wir sie als charakteristisch für die Entwicklungsphase
der Pubertät hingestellt haben, in der Weise, daß sämtliche
Sexualstrebungen die Richtung auf eine einzige Person nehmen,S.
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an der sie ihre Ziele erreichen wollen. Dies ist dann die größte
Annäherung an die definitive Gestaltung des Sexuallebens nach der
Pubertät, die in den Kinderjahren möglich ist. Der Unterschied von
letzterer liegt nur noch darin, daß die Zusammenfassung der Partial-
triebe und deren Unterordnung unter das Primat der Genitalien in
der Kindheit nicht oder nur sehr unvollkommen durchgesetzt wird.
Die Herstellung dieses Primats im Dienste der Fortpflanzung ist
also die letzte Phase, welche die Sexualorganisation durchläuft.“Mit dem Satz, das Primat der Genitalien sei in der früh-
infantilen Periode nicht oder nur sehr unvollkommen durchgeführt,
würde ich mich heute nicht mehr zufrieden geben. Die Annäherung
des kindlichen Sexuallebens an das der Erwachsenen geht viel
weiter und bezieht sich nicht nur auf das Zustandekommen einer
Objektwahl. Wenn es auch nicht zu einer richtigen Zusammen-
fassung der Partialtriebe unter das Primat der Genitalien
kommt, so gewinnt doch auf der Höhe des Entwicklungsganges
der infantilen Sexualität das Interesse an den Genitalien und die
Genitalbetätigung eine dominierende Bedeutung, die hinter der
in der Reifezeit wenig zurücksteht. Der Hauptcharakter dieser
„infantilen Genitalorganisation“ ist zugleich ihr Unter-
schied von der endgiltigen Genitalorganisation der Erwachsenen.
Er liegt darin, daß für beide Geschlechter nur ein Genitale,
das männliche, eine Rolle spielt. Es besteht also nicht ein Genital-
primat, sondern ein Primat des Phallus.Leider können wir diese Verhältnisse nur für das männliche
Kind beschreiben, in die entsprechenden Vorgänge beim kleinen
Mädchen fehlt uns die Einsicht. Der kleine Knabe nimmt sicherlich
den Unterschied von Männern und Frauen wahr, aber er hat
zunächst keinen Anlaß, ihn mit einer Verschiedenheit ihrer
Genitalien zusammenzubringen. Es ist ihm natürlich, ein ähnliches
Genitale, wie er es selbst besitzt, bei allen anderen Lebewesen,
Menschen und Tieren, vorauszusetzen, ja wir wissen, daß er auch
an unbelebten Dingen nach einem seinem Gliede analogen Gebilde
forscht.1 Dieser leicht erregte, veränderliche, an Empfindungen so
reiche Körperteil beschäftigt das Interesse des Knaben in hohem
Grade und stellt seinem Forschertrieb unausgesetzt neue Aufgaben.
Er möchte ihn auch bei anderen Personen sehen, um ihn mit
seinem eigenen zu vergleichen, er benimmt sich, als ob ihm1 Es ist übrigens merkwürdig, ein wie geringes Maß von Aufmerk-
samkeit der andere Teil des männlichen Genitales, das Säckchen mit seinen
Einschlüssen, beim Kinde auf sich zieht. Aus den Analysen könnte man nicht
erraten, daß noch etwas anderes als der Penis zum Genitale gehört.S.
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vorschwebte, daß dieses Glied größer sein könnte und sollte; die
treibende Kraft, welche dieser männliche Teil später in der
Pubertät entfalten wird, äußert sich um diese Lebenszeit wesentlich
als Forschungsdrang, als sexuelle Neugierde. Viele der Exhibi-
tionen und Aggressionen, welche das Kind vornimmt und die
man im späteren Alter unbedenklich als Äußerungen von
Lüsternheit beurteilen würde, erweisen sich der Analyse als
Experimente im Dienste der Sexualforschung angestellt.Im Laufe dieser Untersuchungen gelangt das Kind zur
Entdeckung, daß der Penis nicht ein Gemeingut aller ihm ähnlichen
Wesen sei. Der zufällige Anblick der Genitalien einer kleinen
Schwester oder Gespielin gibt hiezu den Anstoß; scharfsinnige
Kinder haben schon vorher aus ihren Wahrnehmungen beim
Urinieren der Mädchen, weil sie eine andere Stellung sehen und
ein anderes Geräusch hören, den Verdacht geschöpft, daß hier
etwas anders sei, und dann versucht, solche Beobachtungen in
aufklärender Weise zu wiederholen. Es ist bekannt, wie sie auf
die ersten Eindrücke des Penismangels reagieren. Sie leugnen
diesen Mangel, glauben doch ein Glied zu sehen, beschönigen den
Widerspruch zwischen Beobachtung und Vorurteil durch die
Auskunft, es sei noch klein und werde erst wachsen, und kommen
dann langsam zu dem affektiv bedeutsamen Schluß, es sei doch
wenigstens vorhanden gewesen und dann weggenommen worden.
Der Penismangel wird als Ergebnis einer Kastration erfaßt und
das Kind steht nun vor der Aufgabe, sich mit der Beziehung der
Kastration zu seiner eigenen Person auseinanderzusetzen. Die
weiteren Entwicklungen sind zu sehr allgemein bekannt, als daß
es notwendig wäre, sie hier zu wiederholen. Es scheint mir nur,
daß man die Bedeutung des Kastrationskomplexes erst
richtig würdigen kann, wenn man seine Entstehung
in der Phase des Phallusprimats mitberücksichtigt.1Es ist auch bekannt, wie viel Herabwürdigung des Weibes,
Grauen vor dem Weib, Disposition zur Homosexualität sich aus
der endlichen Überzeugung von der Penislosigkeit des Weibes
ableitet. Ferenczi hat kürzlich mit vollem Recht das mythologische1 Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß das Kind die
Vorstellung einer narzißtischen Schädigung durch Körperverlust aus dem
Verlieren der Mutterbrust nach dem Saugen, aus der täglichen Abgabe der
Fäzes, ja schon aus der Trennung vom Mutterleib bei der Geburt gewinnt.
Von einem Kastrationskomplex sollte man aber doch erst sprechen, wenn
sich diese Vorstellung eines Verlustes mit dem männlichen Genitale ver-
knüpft hat.S.
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Symbol des Grausens, das Medusenhaupt, auf den Eindruck
des penislosen weiblichen Genitales zurückgeführt.1Doch darf man nicht glauben, daß das Kind seine Beobachtung,
manche weibliche Personen besitzen keinen Penis, so rasch und
bereitwillig verallgemeinert; dem steht schon die Annahme, daß
die Penislosigkeit die Folge der Kastration als einer Strafe sei,
im Wege. Im Gegenteile, das Kind meint, nur unwürdige weibliche
Personen, die sich wahrscheinlich ähnlicher unerlaubter Regungen
schuldig gemacht haben wie es selbst, hätten das Genitale eingebüßt.
Respektierte Frauen aber wie die Mutter behalten den Penis noch
lange. Weibsein fällt eben für das Kind noch nicht mit Penis-
mangel zusammen.2 Erst später, wenn das Kind die Probleme der
Entstehung und Geburt der Kinder angreift und errät, daß nur
Frauen Kinder gebären können, wird auch die Mutter des Penis
verlustig und mitunter werden ganz komplizierte Theorien
aufgebaut, die den Umtausch des Penis gegen ein Kind erklären
sollen. Das weibliche Genitale scheint dabei niemals entdeckt zu
werden. Wie wir wissen, lebt das Kind im Leib (Darm) der Mutter und
wird durch den Darmausgang geboren. Mit diesen letzten Theorien
greifen wir über die Zeitdauer der infantilen Sexualperiode hinaus.Es ist nicht unwichtig, sich vorzuhalten, welche Wandlungen
die uns geläufige geschlechtliche Polarität während der kindlichen
Sexualentwicklung durchmacht. Ein erster Gegensatz wird mit
der Objektwahl, die ja Subjekt und Objekt voraussetzt, eingeführt.
Auf der Stufe der prägenitalen sadistisch‑analen Organisation ist von
männlich und weiblich noch nicht zu reden, der Gegensatz von
aktiv und passiv ist der herrschende.3 Auf der nun folgenden
Stufe der infantilen Genitalorganisation gibt es zwar ein
männlich, aber kein weiblich; der Gegensatz lautet hier:
männliches Genitale oder kastriert. Erst mit der Vollendung
der Entwicklung zur Zeit der Pubertät fällt die sexuelle Polarität
mit männlich und weiblich zusammen. Das Männliche faßt das
Subjekt, die Aktivität und den Besitz des Penis zusammen, das Weib-
liche setzt das Objekt und die Passivität fort. Die Vagina wird nun als
Herberge des Penis geschätzt, sie tritt das Erbe des Mutterleibes an.1 Diese Zeitschrift 1923, Heft 1. Ich möchte hinzufügen, daß im Mythos
das Genitale der Mutter gemeint ist. Athene, die das Medusenhaupt an
ihrem Panzer trägt, wird eben dadurch das unnahbare Weib, dessen Anblick
jeden Gedanken an sexuelle Annäherung erstickt.2 Aus der Analyse einer jungen Frau erfuhr ich, daß sie, die keinen
Vater und mehrere Tanten hatte, bis weit in die Latenzzeit an dem Penis der
Mutter und einiger Tanten festhielt. Eine schwachsinnige Tante aber hielt sie
für kastriert, wie sie sich selbst empfand.3 Siehe: Drei Abh. z. Sexualtheorie. 5. Aufl., S. 62.
(Eine Einschaltung in die Sexualtheorie)
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