Die infantile Genitalorganisation 1923-004/1926
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    DIE INFANTILE GENITALORGANISATION

    (Eine Einschaltung in die Sexualtheorie)

    Zuerst erschienen in der „Internationalen
    Zeitschrift für Psychoanalyse“, Band IX,
    1923.

    Es ist recht bezeichnend für die Schwierigkeit der Forsch-
    ungsarbeit in der Psychoanalyse, daß es möglich ist, all-
    gemeine Züge und charakteristische Verhältnisse trotz unaus-
    gesetzter jahrzehntelanger Beobachtung zu übersehen, bis sie
    einem endlich einmal unverkennbar entgegentreten; eine
    solche Vernachlässigung auf dem Gebiet der infantilen
    Sexualentwicklung möchte ich durch die nachstehenden
    Bemerkungen gutmachen.

    Den Lesern meiner „Drei Abhandlungen zur Sexual-
    theorie“ (1905) wird es bekannt sein, daß ich in den
    späteren Ausgaben dieser Schrift niemals eine Umarbeitung
    vorgenommen, sondern die ursprüngliche Anordnung gewahrt
    habe und den Fortschritten unserer Einsicht durch Ein-
    schaltungen und Abänderungen des Textes gerecht geworden
    bin. Dabei mag es oft vorgekommen sein, daß das Alte
    und das Neuere sich nicht gut zu einer widerspruchsfreien
    Einheit verschmelzen ließen. Anfänglich ruhte ja der Akzent
    auf der Darstellung der fundamentalen Verschiedenheit im

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    Sexualleben der Kinder und der Erwachsenen, später
    drängten sich die prägenitalen Organisationen der
    Libido in den Vordergrund und die merkwürdige und
    folgenschwere Tatsache des zweizeitigen Ansatzes der
    Sexualentwicklung. Endlich nahm die infantile Sexual-
    forschung
    unser Interesse in Anspruch, und von ihr aus
    ließ sich die weitgehende Annäherung
    des Aus-
    ganges der kindlichen Sexualität
    (um das fünfte
    Lebensjahr) an die Endgestaltung beim Erwachsenen
    erkennen. Dabei bin ich in der letzten Auflage der Sexual-
    theorie (1922) stehen geblieben.

    Auf Seite 63 derselben1 erwähne ich, daß „häufig oder
    regelmäßig bereits in den Kinderjahren eine Objektwahl
    vollzogen wird, wie wir sie als charakteristisch für die Ent-
    wicklungsphase der Pubertät hingestellt haben, in der Weise,
    daß sämtliche Sexualstrebungen die Richtung auf eine ein-
    zige Person nehmen, an der sie ihre Ziele erreichen wollen.
    Dies ist dann die größte Annäherung an die definitive
    Gestaltung des Sexuallebens nach der Pubertät, die in den
    Kinderjahren möglich ist. Der Unterschied von letzterer
    liegt nur noch darin, daß die Zusammenfassung der Partial-
    triebe und deren Unterordnung unter das Primat der Geni-
    talien in der Kindheit nicht oder nur sehr unvollkommen
    durchgesetzt wird. Die Herstellung dieses Primats im Dienste
    der Fortpflanzung ist also die letzte Phase, welche die
    Sexualorganisation durchläuft.

    Mit dem Satz, das Primat der Genitalien sei in der früh
    infantilen Periode nicht oder nur sehr unvollkommen
    durchgeführt, würde ich mich heute nicht mehr zufrieden

    1) [= Gesamtausgabe Bd. V, S. 74.]

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    geben. Die Annäherung des kindlichen Sexuallebens an das
    der Erwachsenen geht viel weiter und bezieht sich nicht
    nur auf das Zustandekommen einer Objektwahl. Wenn es
    auch nicht zu einer richtigen Zusammenfassung der Partial-
    triebe unter das Primat der Genitalien kommt, so gewinnt
    doch auf der Höhe des Entwicklungsganges der infantilen
    Sexualität das Interesse an den Genitalien und die Genital-
    betätigung eine dominierende Bedeutung, die hinter der in
    der Reifezeit wenig zurücksteht. Der Hauptcharakter dieser
    infantilen Genitalorganisation“ ist zugleich ihr
    Unterschied von der endgültigen Genitalorganisation der
    Erwachsenen. Er liegt darin, daß für beide Geschlechter nur
    ein Genitale,
    das männliche, eine Rolle spielt. Es
    besteht also nicht ein Genitalprimat, sondern ein Primat des
    Phallus.

    Leider können wir diese Verhältnisse nur für das männ-
    liche Kind beschreiben, in die entsprechenden Vorgänge
    beim kleinen Mädchen fehlt uns die Einsicht. Der kleine
    Knabe nimmt sicherlich den Unterschied von Männern und
    Frauen wahr, aber er hat zunächst keinen Anlaß, ihn mit
    einer Verschiedenheit ihrer Genitalien zusammenzubringen.
    Es ist ihm natürlich, ein ähnliches Genitale, wie er es
    selbst besitzt, bei allen anderen Lebewesen, Menschen und
    Tieren, vorauszusetzen, ja wir wissen, daß er auch an unbe-
    lebten Dingen nach einem seinem Gliede analogen Gebilde
    forscht.1 Dieser leicht erregte, veränderliche, an Empfindungen

    1) Es ist übrigens merkwürdig, ein wie geringes Maß von Aufmerksam-
    keit der andere Teil des männlichen Genitales, das Säckchen mit seinen Ein-
    schlüssen, beim Kinde auf sich zieht. Aus den Analysen könnte man nicht
    erraten, daß noch etwas anderes als der Penis zum Genitale gehört.

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    so reiche Körperteil beschäftigt das Interesse des
    Knaben in hohem Grade und stellt seinem Forschertrieb
    unausgesetzt neue Aufgaben. Er möchte ihn auch bei anderen
    Personen sehen, um ihn mit seinem eigenen zu vergleichen,
    er benimmt sich, als ob ihm vorschwebte, daß dieses Glied
    größer sein könnte und sollte; die treibende Kraft, welche
    dieser männliche Teil später in der Pubertät entfalten wird,
    äußert sich um diese Lebenszeit wesentlich als Forschungs-
    drang, als sexuelle Neugierde. Viele der Exhibitionen und
    Aggressionen, welche das Kind vornimmt und die man im
    späteren Alter unbedenklich als Äußerungen von Lüstern-
    heit beurteilen würde, erweisen sich der Analyse als Experi-
    mente im Dienste der Sexualforschung angestellt.

    Im Laufe dieser Untersuchungen gelangt das Kind zur
    Entdeckung, daß der Penis nicht ein Gemeingut aller ihm
    ähnlichen Wesen sei. Der zufällige Anblick der Genitalien
    einer kleinen Schwester oder Gespielin gibt hiezu den
    Anstoß; scharfsinnige Kinder haben schon vorher aus ihren
    Wahrnehmungen beim Urinieren der Mädchen, weil sie eine
    andere Stellung sehen und
    ein anderes Geräusch hören, den
    Verdacht geschöpft, daß hier etwas anders sei, und dann
    versucht, solche Beobachtungen in aufklärender Weise zu
    wiederholen. Es ist bekannt, wie sie auf die ersten Ein-
    drücke des Penismangels reagieren. Sie leugnen diesen
    Mangel, glauben doch ein Glied zu sehen, beschönigen den
    Widerspruch zwischen Beobachtung und Vorurteil durch die
    Auskunft, es sei noch klein und werde erst wachsen, und
    kommen dann langsam zu dem affektiv bedeutsamen Schluß,
    es sei doch wenigstens vorhanden gewesen und dann weg-
    genommen worden. Der Penismangel wird als Ergebnis

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    einer Kastration erfaßt und das Kind steht nun vor der
    Aufgabe, sich mit der Beziehung der Kastration zu seiner
    eigenen Person auseinanderzusetzen. Die weiteren Entwick-
    lungen sind zu sehr allgemein bekannt, als daß es not-
    wendig wäre, sie hier zu wiederholen. Es scheint mir nur,
    daß man die Bedeutung des Kastrations-
    komplexes erst richtig würdigen kann,
    wenn man seine Entstehung in der Phase
    des Phallusprimats mitberücksichtigt.
    1

    Es ist auch bekannt, wie viel Herabwürdigung des
    Weibes, Grauen vor dem Weib, Disposition zur Homo-
    sexualität sich aus der endlichen Überzeugung von der
    Penislosigkeit des Weibes ableitet. Ferenczi hat kürzlich
    mit vollem Recht das mythologische Symbol des Grausens,
    das Medusenhaupt, auf den Eindruck des penislosen weib-
    lichen Genitales zurückgeführt.2

    Doch darf man nicht glauben, daß das Kind seine
    Beobachtung, manche weibliche Personen besitzen keinen
    Penis, so rasch und
    bereitwillig verallgemeinert; dem steht
    schon die Annahme, daß die Penislosigkeit die Folge der
    Kastration als einer Strafe sei, im Wege. Im Gegenteile,

    1) Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß das Kind die Vor-
    stellung einer narzißtischen Schädigung durch Körperverlust aus dem Ver-
    lieren der Mutterbrust nach dem Saugen, aus der täglichen Abgabe der Fäzes,
    ja schon aus der Trennung vom Mutterleib bei der Geburt gewinnt. Von
    einem Kastrationskomplex sollte man aber doch erst sprechen, wenn sich diese
    Vorstellung eines Verlustes mit dem männlichen Genitale verknüpft hat.

    2) Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, IX, 1923, Heft 1. Ich
    möchte hinzufügen, daß im Mythos das Genitale der Mutter gemeint ist.
    Athene, die das Medusenhaupt an ihrem Panzer trägt, wird eben dadurch das
    unnahbare Weib, dessen Anblick jeden Gedanken an sexuelle Annäherung
    erstickt.

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    das Kind meint, nur unwürdige weibliche Personen, die sich
    wahrscheinlich ähnlicher unerlaubter Regungen schuldig
    gemacht haben wie es selbst, hätten das Genitale eingebüßt.
    Respektierte Frauen aber wie die Mutter behalten den
    Penis noch lange. Weibsein fällt eben für das Kind noch
    nicht mit Penismangel zusammen.1 Erst später, wenn das
    Kind die Probleme der Entstehung und Geburt der Kinder
    angreift und errät, daß nur Frauen Kinder gebären können,
    wird auch die Mutter des Penis verlustig und mitunter
    werden ganz komplizierte Theorien aufgebaut, die den
    Umtausch des Penis gegen ein Kind erklären sollen. Das
    weibliche Genitale scheint dabei niemals entdeckt zu werden.
    Wie wir wissen, lebt das Kind im Leib (Darm) der Mutter
    und wird durch den Darmausgang geboren. Mit diesen
    letzten Theorien greifen wir über die Zeitdauer der infan-
    tilen Sexualperiode hinaus.

    Es ist nicht unwichtig, sich vorzuhalten, welche Wand-
    lungen die uns geläufige geschlechtliche Polarität während
    der kindlichen Sexualentwicklung durchmacht. Ein erster
    Gegensatz wird mit der Objektwahl, die ja Subjekt und
    Objekt voraussetzt, eingeführt. Auf der Stufe der prägeni-
    talen sadistisch
    analen Organisation ist von männlich und
    weiblich noch nicht zu reden, der Gegensatz von aktiv
    und passiv ist der herrschende.2 Auf der nun folgenden
    Stufe der infantilen Genitalorganisation gibt es zwar ein

    1) Aus der Analyse einer jungen Frau erfuhr ich, daß sie, die keinen Vater
    und mehrere Tanten hatte, bis weit in die Latenzzeit an dem Penis der
    Mutter und einiger Tanten festhielt. Eine schwachsinnige Tante aber hielt sie
    für kastriert, wie sie sich selbst empfand.

    2) Siehe: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 5. Auflage, S. 62. [= Ge-
    samtausgabe Bd. V, S. 73.]

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    männlich, aber kein weiblich; der Gegensatz lautet hier:
    männliches Genitale oder kastriert. Erst mit der Vollendung der
    Entwicklung zur Zeit der Pubertät fällt die
    sexuelle
    Polarität mit männlich und weiblich
    zusammen. Das Männliche faßt das Subjekt, die Aktivität
    und den Besitz des Penis zusammen, das Weibliche setzt das
    Objekt und die Passivität fort. Die Vagina wird nun als
    Herberge des Penis geschätzt, sie tritt das Erbe des Mutter-
    leibes an.