Die infantile Genitalorganisation 1923-004/1931
  • S.

    188

    DIE INFANTILE GENITALORGANISATION

    (Eine Einschaltung in die Sexualtheorie)

    (1923)

    Es ist recht bezeichnend für die Schwierigkeit der Forschungs-
    arbeit in der Psychoanalyse, daß es möglich ist, allgemeine
    Züge und charakteristische Verhältnisse trotz unausgesetzter
    jahrzehntelanger Beobachtung zu übersehen, bis sie einem end-
    lich einmal unverkennbar entgegentreten; eine solche Vernach-
    lässigung auf dem Gebiet der infantilen Sexualentwicklung
    möchte ich durch die nachstehenden Bemerkungen gutmachen.

    Den Lesern meiner „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“
    (1905) wird es bekannt sein, daß ich in den späteren Ausgaben
    dieser Schrift niemals eine Umarbeitung vorgenommen, sondern
    die ursprüngliche Anordnung gewahrt habe und den Fort-
    schritten unserer Einsicht durch Einschaltungen und Abände-
    rungen des Textes gerecht geworden bin. Dabei mag es oft
    vorgekommen sein, daß das Alte und das Neuere sich nicht
    gut zu einer widerspruchsfreien Einheit verschmelzen ließen.
    Anfänglich ruhte ja der Akzent auf der Darstellung der fun-
    damentalen Verschiedenheit im Sexualleben der Kinder und
    der Erwachsenen, später drängten sich die prägenitalen
    Organisationen
    der Libido in den Vordergrund und die
    merkwürdige und folgenschwere Tatsache des zwei-
    zeitigen Ansatzes
    der Sexualentwicklung. Endlich

  • S.

    189

    nahm die infantile Sexualforschung unser Interesse
    in Anspruch, und von ihr aus ließ sich die weitgehende An-
    näherung des Ausganges der kindlichen
    Sexualität
    (um das fünfte Lebensjahr) an die Endgestal-
    tung beim Erwachsenen erkennen. Dabei bin ich in der letzten
    Auflage der Sexualtheorie (1922) stehen geblieben.

    Auf Seite 63 derselben1 erwähne ich, daß „häufig oder regel-
    mäßig bereits in den Kinderjahren eine Objektwahl vollzogen
    wird, wie wir sie als charakteristisch für die Entwicklungs-
    phase der Pubertät hingestellt haben, in der Weise, daß
    sämtliche Sexualstrebungen die Richtung auf eine einzige
    Person nehmen, an der sie ihre Ziele erreichen wollen. Dies
    ist dann die größte Annäherung an die definitive Gestaltung
    des Sexuallebens nach der Pubertät, die in den Kinderjahren
    möglich ist. Der Unterschied von letzterer liegt nur noch darin,
    daß die Zusammenfassung der Partialtriebe und deren Unter-
    ordnung unter das Primat der Genitalien in der Kindheit nicht
    oder nur sehr unvollkommen durchgesetzt wird. Die Her-
    stellung dieses Primats im Dienste der Fortpflanzung ist also
    die letzte Phase, welche die Sexualorganisation durchläuft.

    Mit dem Satz, das Primat der Genitalien sei in der früh-
    infantilen Periode nicht oder nur sehr unvollkommen durch-
    geführt, würde ich mich heute nicht mehr zufrieden geben.
    Die Annäherung des kindlichen Sexuallebens an das der Er-
    wachsenen geht viel weiter und bezieht sich nicht nur auf das
    Zustandekommen einer Objektwahl. Wenn es auch nicht zu
    einer richtigen Zusammenfassung der Partialtriebe unter das
    Primat der Genitalien kommt, so gewinnt doch auf der Höhe
    des Entwicklungsganges der infantilen Sexualität das Interesse
    an den Genitalien und die Genitalbetätigung eine domi-
    nierende Bedeutung, die hinter der in der Reifezeit wenig

    1) [= Gesamtausgabe Bd. V, S. 74.]

  • S.

    190

    zurücksteht. Der Hauptcharakter dieser „infantilen
    Genitalorganisation
    “ ist zugleich ihr Unterschied
    von der endgiltigen Genitalorganisation der Erwachsenen. Er
    liegt darin, daß für beide Geschlechter nur ein Genitale,
    das männliche, eine Rolle spielt. Es besteht also nicht ein
    Genitalprimat, sondern ein Primat des Phallus.

    Leider können wir diese Verhältnisse nur für das männ-
    liche Kind beschreiben, in die entsprechenden Vorgänge beim
    kleinen Mädchen fehlt uns die Einsicht. Der kleine Knabe
    nimmt sicherlich den Unterschied von Männern und Frauen
    wahr, aber er hat zunächst keinen Anlaß, ihn mit einer Ver-
    schiedenheit ihrer Genitalien zusammenzubringen. Es ist ihm
    natürlich, ein ähnliches Genitale, wie er es selbst besitzt, bei
    allen anderen Lebewesen, Menschen und Tieren, vorauszu-
    setzen, ja wir wissen, daß er auch an unbelebten Dingen
    nach einem seinem Gliede analogen Gebilde forscht.2 Dieser
    leicht erregte, veränderliche, an Empfindungen so reiche
    Körperteil beschäftigt das Interesse des Knaben in hohem
    Grade und stellt seinem Forschertrieb unausgesetzt neue Auf-
    gaben. Er möchte ihn auch bei anderen Personen sehen, um
    ihn mit seinem eigenen zu vergleichen, er benimmt sich, als
    ob ihm vorschwebte, daß dieses Glied größer sein könnte und
    sollte; die treibende Kraft, welche dieser männliche Teil später
    in der Pubertät entfalten wird, äußert sich um diese Lebens-
    zeit wesentlich als Forschungsdrang, als sexuelle Neugierde.
    Viele der Exhibitionen und Aggressionen, welche das Kind
    vornimmt und die man im späteren Alter unbedenklich als
    Äußerungen von Lüsternheit beurteilen würde, erweisen sich

    2) Es ist übrigens merkwürdig, ein wie geringes Maß von
    Aufmerksamkeit der andere Teil des männlichen Genitales, das
    Säckchen mit seinen Einschlüssen, beim Kinde auf sich zieht. Aus
    den Analysen könnte man nicht erraten, daß noch etwas anderes
    als der Penis zum Genitale gehört.

  • S.

    191

    der Analyse als Experimente, im Dienste der Sexualforschung
    angestellt.

    Im Laufe dieser Untersuchungen gelangt das Kind zur Ent-
    deckung, daß der Penis nicht ein Gemeingut aller ihm ähn-
    lichen Wesen sei. Der zufällige Anblick der Genitalien einer
    kleinen Schwester oder Gespielin gibt hiezu den Anstoß;
    scharfsinnige Kinder haben schon vorher aus ihren Wahr-
    nehmungen beim Urinieren der Mädchen, weil sie eine andere
    Stellung sehen und ein anderes Geräusch hören, den Verdacht
    geschöpft, daß hier etwas anders sei, und dann versucht, solche
    Beobachtungen in aufklärender Weise zu wiederholen. Es ist
    bekannt, wie sie auf die ersten Eindrücke des Penismangels
    reagieren. Sie leugnen diesen Mangel, glauben doch ein Glied
    zu sehen, beschönigen den Widerspruch zwischen Beobachtung
    und Vorurteil durch die Auskunft, es sei noch klein und werde
    erst wachsen, und kommen dann langsam zu dem affektiv
    bedeutsamen Schluß, es sei doch wenigstens vorhanden gewesen
    und dann weggenommen worden. Der Penismangel wird als
    Ergebnis einer Kastration erfaßt und das Kind steht nun vor
    der Aufgabe, sich mit der Beziehung der Kastration zu seiner
    eigenen Person auseinanderzusetzen. Die weiteren Entwick-
    lungen sind zu sehr allgemein bekannt, als daß es notwendig
    wäre, sie hier zu wiederholen. Es scheint mir nur, daß man
    die Bedeutung des Kastrationskomplexes
    erst richtig würdigen kann, wenn man seine
    Entstehung in der Phase des Phallusprimats
    mitberücksichtigt
    .3

    3) Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß das Kind
    die Vorstellung einer narzißtischen Schädigung durch Körperver-
    lust aus dem Verlieren der Mutterbrust nach dem Saugen, aus der
    täglichen Abgabe der Fäzes, ja schon aus der Trennung vom
    Mutterleib bei der Geburt gewinnt. Von einem Kastrationskomplex
    sollte man aber doch erst sprechen, wenn sich diese Vorstellung
    eines Verlustes mit dem männlichen Genitale verknüpft hat.

  • S.

    192

    Es ist auch bekannt, wie viel Herabwürdigung des Weibes,
    Grauen vor dem Weib, Disposition zur Homosexualität sich
    aus der endlichen Überzeugung von der Penislosigkeit des
    Weibes ableitet. Ferenczi hat kürzlich mit vollem Recht
    das mythologische Symbol des Grausens, das Medusenhaupt,
    auf den Eindruck des penislosen weiblichen Genitales zurück-
    geführt.4

    Doch darf man nicht glauben, daß das Kind seine Beob-
    achtung, manche weibliche Personen besitzen keinen Penis,
    so rasch und bereitwillig verallgemeinert; dem steht schon die
    Annahme, daß die Penislosigkeit die Folge der Kastration
    als einer Strafe sei, im Wege. Im Gegenteile, das Kind meint,
    nur unwürdige weibliche Personen, die sich wahrscheinlich
    ähnlicher unerlaubter Regungen schuldig gemacht haben wie
    es selbst, hätten das Genitale eingebüßt. Respektierte Frauen
    aber wie die Mutter behalten den Penis noch lange. Weibsein
    fällt eben für das Kind noch nicht mit Penismangel zusammen.5
    Erst später, wenn das Kind die Probleme der Entstehung und
    Geburt der Kinder angreift und errät, daß nur Frauen Kinder
    gebären können, wird auch die Mutter des Penis verlustig und
    mitunter werden ganz komplizierte Theorien aufgebaut, die
    den Umtausch des Penis gegen ein Kind erklären sollen. Das
    weibliche Genitale scheint dabei niemals entdeckt zu werden.
    Wie wir wissen, lebt das Kind im Leib (Darm) der Mutter
    und wird durch den Darmausgang geboren. Mit diesen letzten

    4) Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, IX, 1923, Heft I.
    Ich möchte hinzufügen, daß im Mythos das Genitale der Mutter
    gemeint ist. Athene, die das Medusenhaupt an ihrem Panzer trägt,
    wird eben dadurch das unnahbare Weib, dessen Anblick jeden Ge-
    danken an sexuelle Annäherung erstickt.

    5) Aus der Analyse einer jungen Frau erfuhr ich, daß sie, die
    keinen Vater und mehrere Tanten hatte, bis weit in die Latenz-
    zeit an dem Penis der Mutter und einiger Tanten festhielt. Eine
    schwachsinnige Tante aber hielt sie für kastriert, wie sie sich
    selbst empfand.

  • S.

    193

    Theorien greifen wir über die Zeitdauer der infantilen Sexual-
    periode hinaus.

    Es ist nicht unwichtig, sich vorzuhalten, welche Wandlungen
    die uns geläufige geschlechtliche Polarität während der kind-
    lichen Sexualentwicklung durchmacht. Ein erster Gegensatz
    wird mit der Objektwahl, die ja Subjekt und Objekt voraus-
    setzt, eingeführt. Auf der Stufe der prägenitalen sadistisch‑
    analen Organisation ist von männlich und weiblich noch nicht
    zu reden, der Gegensatz von aktiv und passiv ist der
    herrschende.6 Auf der nun folgenden Stufe der infantilen
    Genitalorganisation gibt es zwar ein männlich, aber kein
    weiblich; der Gegensatz lautet hier: männliches Geni-
    tale
    oder kastriert. Erst mit der Vollendung der Ent-
    wicklung zur Zeit der Pubertät fällt die sexuelle Polarität mit
    männlich und weiblich zusammen. Das Männliche
    faßt das Subjekt, die Aktivität und den Besitz des Penis
    zusammen, das Weibliche setzt das Objekt und die Passivität
    fort. Die Vagina wird nun als Herberge des Penis geschätzt,
    sie tritt das Erbe des Mutterleibes an.

    6) Siehe: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 5. Aufl., S. 62.
    [= Gesamtausgabe, Bd. V, S. 73.]