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DIE VERNEINUNG
Erschien zuerst in „Imago“, Bd. XI
(1925), Heft 3.Die Art, wie unsere Patienten ihre Einfälle während der analyti-
schen Arbeit vorbringen, gibt uns Anlaß zu einigen interessanten
Beobachtungen. „Sie werden jetzt denken, ich will etwas Beleidi-
gendes sagen, aber ich habe wirklich nicht diese Absicht.“ Wir
verstehen, das ist die Abweisung eines eben auftauchenden Einfalles
durch Projektion. Oder „Sie fragen, wer diese Person im Traum
sein kann. Die Mutter ist es nicht.“ Wir berichtigen: Also ist
es die Mutter. Wir nehmen uns die Freiheit, bei der Deutung
von der Verneinung abzusehen und den reinen Inhalt des Einfalls
herauszugreifen. Es ist so, als ob der Patient gesagt hätte: „Mir
ist zwar die Mutter zu dieser Person eingefallen, aber ich habe
keine Lust, diesen Einfall gelten zu lassen.“Gelegentlich kann man sich eine gesuchte Aufklärung über das
unbewußte Verdrängte auf eine sehr bequeme Weise verschaffen.
Man fragt: Was halten Sie wohl für das Allerunwahrscheinlichste
in jener Situation? Was, meinen Sie, ist Ihnen damals am fernsten
gelegen? Geht der Patient in die Falle und nennt das, woran er
am wenigsten glauben kann, so hat er damit fast immer das
Richtige zugestanden. Ein hübsches Gegenstück zu diesem
Versuch stellt sich oft beim Zwangsneurotiker her, der bereits in das Ver-
ständnis seiner Symptome eingeführt worden ist. „Ich habe eineS.
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neue Zwangsvorstellung bekommen. Mir ist sofort dazu eingefallen,
sie könnte dies Bestimmte bedeuten. Aber nein, das kann ja nicht
wahr sein, sonst hätte es mir nicht einfallen können.“ Was er
mit dieser der Kur abgelauschten Begründung verwirft, ist natür-
lich der richtige Sinn der neuen Zwangsvorstellung.Ein verdrängter Vorstellungs‑ oder Gedankeninhalt kann also
zum Bewußtsein durchdringen, unter der Bedingung, daß er sich
verneinen läßt. Die Verneinung ist eine Art, das Verdrängte zur
Kenntnis zu nehmen, eigentlich schon eine Aufhebung der Ver-
drängung, aber freilich keine Annahme des Verdrängten. Man
sieht, wie sich hier die intellektuelle Funktion vom affektiven
Vorgang scheidet. Mit Hilfe der Verneinung wird nur die eine
Folge des Verdrängungsvorganges rückgängig gemacht, daß dessen
Vorstellungsinhalt nicht zum Bewußtsein gelangt. Es resultiert
daraus eine Art von intellektueller Annahme des Verdrängten bei
Fortbestand des Wesentlichen an der Verdrängung.1 Im Verlauf der
analytischen Arbeit schaffen wir oft eine andere, sehr wichtige
und ziemlich befremdende Abänderung derselben Situation. Es
gelingt uns, auch die Verneinung zu besiegen und die volle
intellektuelle Annahme des Verdrängten durchzusetzen, – der
Verdrängungsvorgang selbst ist damit noch nicht aufgehoben.Da es die Aufgabe der intellektuellen Urteilsfunktion ist, Ge-
dankeninhalte zu bejahen oder zu verneinen, haben uns die vor-
stehenden Bemerkungen zum psychologischen Ursprung dieser
Funktion geführt. Etwas im Urteil verneinen, heißt im Grunde:
das ist etwas, was ich am liebsten verdrängen möchte. Die Ver-
urteilung ist der intellektuelle Ersatz der Verdrängung, ihr Nein
ein Merkzeichen derselben, ein Ursprungszertifikat etwa wie das
„made in Germany“. Vermittels des Verneinungssymbols macht1 Derselbe Vorgang liegt dem bekannten Vorgang des „Berufens“ zugrunde. „Wie
schön, daß ich meine Migräne so lange nicht gehabt habe!“ Das ist aber die erste
Ankündigung des Anfalls, dessen Herannahen man bereits verspürt, aber noch nicht
glauben will.S.
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sich das Denken von den Einschränkungen der Verdrängung frei
und bereichert sich um Inhalte, deren es für seine Leistung nicht
entbehren kann.Die Urteilsfunktion hat im wesentlichen zwei Entscheidungen
zu treffen. Sie soll einem Ding eine Eigenschaft zu‑ oder ab-
sprechen, und sie soll einer Vorstellung die Existenz in der Realität
zugestehen oder bestreiten. Die Eigenschaft, über die entschieden
werden soll, könnte ursprünglich gut oder schlecht, nützlich oder
schädlich gewesen sein. In der Sprache der ältesten, oralen Trieb-
regungen ausgedrückt: das will ich essen oder will es ausspucken,
und in weitergehender Übertragung: das will ich in mich ein-
führen und das aus mir ausschließen. Also: es soll in mir oder
außer mir sein. Das ursprüngliche Lust‑Ich will, wie ich an
anderer Stelle ausgeführt habe, alles Gute sich introjizieren, alles
Schlechte von sich werfen. Das Schlechte, das dem Ich Fremde,
das Außenbefindliche, ist ihm zunächst identisch.1Die andere der Entscheidungen der Urteilsfunktion, die über
die reale Existenz eines vorgestellten Dinges, ist ein Interesse des
endgültigen Real‑Ichs, das sich aus dem anfänglichen Lust‑Ich
entwickelt. (Realitätsprüfung.) Nun handelt es sich nicht mehr
darum, ob etwas Wahrgenommenes (ein Ding) ins Ich aufge-
nommen werden soll oder nicht, sondern ob etwas im Ich als
Vorstellung Vorhandenes auch in der Wahrnehmung (Realität)
wiedergefunden werden kann. Es ist, wie man sieht, wieder eine
Frage des Außen und Innen. Das Nichtreale, bloß Vorgestellte,
Subjektive, ist nur innen; das andere, Reale, auch im Draußen
vorhanden. In dieser Entwicklung ist die Rücksicht auf das Lust-
prinzip beiseite gesetzt worden. Die Erfahrung hat gelehrt, es ist
nicht nur wichtig, ob ein Ding (Befriedigungsobjekt) die „gute“
Eigenschaft besitzt, also die Aufnahme ins Ich verdient, sondern
auch, ob es in der Außenwelt da ist, so daß man sich seiner1 Vgl. hiezu die Ausführungen in „Triebe und Triebschicksale“. [Bd. V dieser
Gesamtausgabe.]S.
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nach Bedürfnis bemächtigen kann. Um diesen Fortschritt zu
verstehen, muß man sich daran erinnern, daß alle Vorstellungen von
Wahrnehmungen stammen, Wiederholungen derselben sind. Ur-
sprünglich ist also schon die Existenz der Vorstellung eine Bürg-
schaft für die Realität des Vorgestellten. Der Gegensatz zwischen
Subjektivem und Objektivem besteht nicht von Anfang an. Er
stellt sich erst dadurch her, daß das Denken die Fähigkeit besitzt,
etwas einmal Wahrgenommenes durch Reproduktion in der Vor-
stellung wieder gegenwärtig zu machen, während das Objekt
draußen nicht mehr vorhanden zu sein braucht. Der erste und
nächste Zweck der Realitätsprüfung ist also nicht, ein dem Vor-
gestellten entsprechendes Objekt in der realen Wahrnehmung zu
finden, sondern es wiederzufinden, sich zu überzeugen, daß es
noch vorhanden ist. Ein weiterer Beitrag zur Entfremdung zwischen
dem Subjektiven und dem Objektiven rührt von einer anderen
Fähigkeit des Denkvermögens her. Die Reproduktion der Wahr-
nehmung in der Vorstellung ist nicht immer deren getreue Wiederh-
olung; sie kann durch Weglassungen modifiziert, durch Ver-
schmelzungen verschiedener Elemente verändert sein. Die Reali-
tätsprüfung hat dann zu kontrollieren, wie weit diese Entstellun-
gen reichen. Man erkennt aber als Bedingung für die Einsetzung
der Realitätsprüfung, daß Objekte verloren gegangen sind, die einst
reale Befriedigung gebracht hatten.Das Urteilen ist die intellektuelle Aktion, die über die Wahl
der motorischen Aktion entscheidet, dem Denkaufschub ein Ende
setzt und vom Denken zum Handeln überleitet. Auch über den
Denkaufschub habe ich bereits an anderer Stelle gehandelt. Er ist
als eine Probeaktion zu betrachten, ein motorisches Tasten mit
geringen Abfuhraufwänden. Besinnen wir uns: wo hatte das Ich
ein solches Tasten vorher geübt, an welcher Stelle die Technik
erlernt, die es jetzt bei den Denkvorgängen anwendet? Dies
geschah am sensorischen Ende des seelischen Apparats, bei den
Sinneswahrnehmungen. Nach unserer Annahme ist ja die WahrnehmungS.
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kein rein passiver Vorgang, sondern das Ich schickt
periodisch kleine Besetzungsmengen in das Wahrnehmungssystem,
mittels deren es die äußeren Reize verkostet, um sich nach jedem
solchen tastenden Vorstoß wieder zurückzuziehen.Das Studium des Urteils eröffnet uns vielleicht zum erstenmal
die Einsicht in die Entstehung einer intellektuellen Funktion aus
dem Spiel der primären Triebregungen. Das Urteilen ist die zweck-
mäßige Fortentwicklung der ursprünglich nach dem Lustprinzip
erfolgten Einbeziehung ins Ich oder Ausstoßung aus dem Ich.
Seine Polarität scheint der Gegensätzlichkeit der beiden von uns
angenommenen Triebgruppen zu entsprechen. Die Bejahung –
als Ersatz der Vereinigung – gehört dem Eros an, die Ver-
neinung – Nachfolge der Ausstoßung – dem Destruktionstrieb.
Die allgemeine Verneinungslust, der Negativismus mancher Psycho-
tiker ist wahrscheinlich als Anzeichen der Triebentmischung durch
Abzug der libidinösen Komponenten zu verstehen. Die Leistung
der Urteilsfunktion wird aber erst dadurch ermöglicht, daß die
Schöpfung des Verneinungssymbols dem Denken einen ersten Grad
von Unabhängigkeit von den Erfolgen der Verdrängung und somit
auch vom Zwang des Lustprinzips gestattet hat.Zu dieser Auffassung der Verneinung stimmt es sehr gut, daß
man in der Analyse kein „Nein“ aus dem Unbewußten auffindet,
und daß die Anerkennung des Unbewußten von seiten des Ichs
sich in einer negativen Formel ausdrückt. Kein stärkerer Beweis
für die gelungene Aufdeckung des Unbewußten, als wenn der
Analysierte mit dem Satze: Das habe ich nicht gedacht, oder:
Daran habe ich nicht (nie) gedacht, darauf reagiert.
freudgs11
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