Ein Fall von Hirnblutung mit indirekten basalen Herdsymptomen bei Skorbut (Schluss.) 1884-001/1884.2
  • S.

    An dem in mehrfacher Beziehung interessanten Falle wird uns hier nur das
    Krankheitsbild und die Zurückführung desselben auf den Leichenbefund
    beschäftigen. Wahrscheinlich allmälig ansteigend entwickelte sich bei unserem
    Kranken ein tiefes Koma mit geringer Erhöhung der Temperatur, ohne
    Beeinflussung der Respiration und Pulsfrequenz und ohne irgend welche
    Anzeichen für die Lokalisation der Läsion zu bieten. Da über die Natur
    der Läsion als Blutung kein Zweifel bestehen konnte, war es gerade die-
    ses Verhalten, welches auf eine Oberflächenblutung hindeutete. Nach etwa
    12stündiger Dauer des Komas stellten sich allgemeine Reizerscheinungen
    (Unruhe, Trismus, Nackenstarre), Lähmungs- und solche Reizungssymptome
    ein, welche zu einer topischen Diagnose der Läsion aufforderten. Ptosis,
    Pupillenerweiterung, Gesichtsmuskellähmung linkerseits, Ablenkung
    beider Augen nach links und Kontraktur der rechtsseitigen Extremitäten
    liessen in ihrem Beisammensein eine Affektion im linken Schädelraume
    erkennen, welche einerseits Hirnnervenstämme lähmend beeinflusst, andererseits
    auf die motorische Bahn für die rechte Körperhälfte reizend einwirkt.
    An welcher Strecke des langen Verlaufes der motorischen Bahn fand
    nun die reizende Einwirkung statt? Wollte man alle beobachteten Symptome
    von einem Herde ableiten, so war die Rinde der linken Hemisphäre
    aus naheliegenden Gründen auszuschliessen; dieselben Gründe sprachen
    auch gegen eine Affektion der motorischen Ganglien und überdies der
    Umstand, dass am Facialis der rechten Seite weder Lähmung noch Kontraktur
    zu konstatiren war. Wenn demnach am wahrscheinlichsten war, dass
    die motorische Bahn an der Hirnbasis vom Insulte getroffen worden sei, so
    schienen auch die weiteren Veränderungen des Krankheitsbildes, das verschiedene
    Verhalten der motorischen Bahnen für die obere und für die untere
    Extremität und das Uebergreifen auf die andere Seite, diese Annahme
    zu begünstigen. Aus der Hemikontraktur wurde zunächst Monokontraktur
    der rechten oberen Extremität und Paraplegie, sodann trat beiderseitige
    Kontraktur der oberen Extremitäten auf, die ihrerseits alsbald in Lähmung
    überging. (Dass auch an der linken unteren Extremität der Erschlaffung
    erhöhte Muskelspannung vorausgeeilt, dürfte der Beobachtung entgangen
    sein.) Eine Blutung in die basale Strecke der motorischen Bahn selbst war
    ferner durch zwei Momente auszuschliessen, erstens durch die fehlende
    Beeinträchtigung von Respiration und Pulsfrequenz zu einer Zeit, als die
    motorischen Reizsymptome scharf ausgeprägt waren, und sodann durch den
    Umstand, dass an der rechten oberen Extremität stundenlange Kontraktur
    ohne Leitungsunterbrechung bestand, wie deren koordinirte Aktion nach
    langer Unbeweglichkeit kurz vor dem Eintritte der allgemeinen Lähmung
    darthat. Es konnte sich also nur um eine Blutung handeln, die in ihren
    entfernteren Folgen, durch indirekte Einwirkung, zur Beeinträchtigung der
    motorischen Bahn an der Basis führte, und mit Uebersehen einer anderen
    Möglichkeit gelangte man zur Aufstellung einer intermeningealen Blutung
    an der Hirnbasis.

  • S.

    Die Autopsie ergab nun mehrfache Blutungen in der linken Hälfte
    des Schädelraumes: eine solche in die Meningen längs des medialen Stirnzuges,
    die sich auf die medialsten Stücke der Zentralwindungen fortsetzte, die
    Rinde aber nirgends betheiligte, einen Blutaustritt zwischen Dura und Pia
    über dem unteren Scheitelläppchen und endlich eine Zerstörung des unteren
    Scheitelläppchens selbst durch zahlreiche kapilläre Hämorrhagien. Lassen
    sich die beobachteten Symptome auf eine der gefundenen Läsionen allein
    zurückführen und sind irgend welche Erscheinungen als direkte Herdsymptome
    der Läsionen aufzufassen? Da ist denn zunächst hervorzuheben, dass
    die lange Dauer eines komatösen Zustandes ohne halbseitige Erscheinungen
    darauf hinweist, dass die Oberflächenblutung die frühere war. Auch die
    frühzeitige Steigerung der Temperatur, nach F ü r s t n e r 1 für die Oberflächenblutung
    charakteristisch, während der intracerebralen Blutung eine
    Herabsetzung der Temperatur zukommt, würde in demselben Sinne sprechen.
    Beide Oberflächenblutungen waren aber als mässige zu bezeichnen und
    hätten demnach ohne alle Herdsymptome verlaufen können.
    Von der Blutung unter die Dura in der Gegend des Scheitellappens sind weder
    direkte noch indirekte Herdsymptome zu erwarten. Dagegen kommt in Betracht,
    ob nicht die Kontraktur der rechtsseitigen Extremitäten als direktes Herdsymptom
    der auf die linke motorische Region übergreifenden Oberflächenblutung
    aufzufassen ist, wofür die von F ü r s t n e r in der erwähnten Abhandlung
    mitgetheilten Beobachtungen zahlreiche Analogien bieten würden. Ich glaube
    nicht, dass sich diese Frage mit Sicherheit beantworten lässt. Der Fall ist wohl zu
    komplizirt, um eine völlige Aufklärung zuzulassen. Es muss nur hervorgehoben
    werden, dass die rechtsseitige Kontraktur nicht vor der linksseitigen Facialisund
    Oculomotoriuslähmung zur Beobachtung kam, welche beide Symptome, da
    keine Blutung im rechten Schädelraume vorlag, nur als basale Symptome gedeutet
    werden können. Eine Oberflächenblutung kann aber basale Erscheinungen
    nur dann erzeugen, wenn sie besonders massenhaft und ausgebreitet auftritt,
    während sie in unserem Falle eher als geringfügig zu bezeichnen war.

    Ob der Läsion des unteren Scheitelläppchens Herdsymptome zukommen,
    und welche, ist derzeit nicht mit Sicherheit bekannt. Von sensorischen
    Symptomen, die bei dem tiefen Koma unseres Falles nicht ausgeprägt sein
    konnten, sind Störungen des Muskelgefühles2 und aphasische Erscheinungen
    in Zusammenhang mit der uns interessirenden Lokalität gebracht worden.
    Während zahlreiche Beobachtungen zu lehren scheinen, dass kein Ausfall
    von Motilität an eine Läsion des unteren Scheitelläppchens geknüpft ist,
    scheinen andere Fälle auf eine nähere Beziehung desselben zu dem Muskelapparate
    der Augen hinzuweisen. So führt L a n d o u z y 3 gekreuzte
    Ptosis als Herdsymptom auf und B o y e r 4 ist selbst geneigt, das Rindenzentrum
    für den Oculomotorius dahin zu verlegen. Insbesondere ist mehreren
    Autoren die häufige Verknüpfung der konjugirten Augenablenkung
    mit Läsionen des unteren Scheitelläppchens aufgefallen5 6, welche auch von
    We r n i c k e 7 anerkannt wird.
    In den 5 Fällen der E x n e r ’schen Sammlung mit gleichsinniger Augenablenkung
    ist das untere Scheitelläppchen 2 Mal8 Sitz der Läsion. Unser
    Fall war wegen der basalen Lähmung des Oculomotorius auf der Seite
    der Blutung für die Konstatirung einer gekreuzten Ptosis nicht günstig; die
    gleichsinnige Augenablenkung fand sich dagegen vor, u. z. nach der Seite
    des Herdes, der angenommenen Regel ent-
    sprechend9. Da indessen
    dieses Symptom bei den verschiedensten Hirnerkrankungen – besonders
    häufig bei Oberflächenblutungen nach F ü r s t n e r 10 – auftritt, muss die
    Bedeutung desselben als Herdsymptom des unteren Scheitelläppchens dahingestellt
    bleiben.
    Es kann nicht zweifelhaft sein, dass für alle bei unserem Kranken beobachteten
    Erscheinungen die Blutung ins untere Scheitelläppchen eine
    ausreichende Erklärung bietet. Dieselbe war so massenhaft, dass sie durch
    ihre allgemeine kompressive Wirkung das ganze Gehirn blutleer machte und
    innerhalb weniger als 20 Stunden zum Tode führte. Wenn die Erscheinungen
    am Krankenbette dennoch halbseitige und herdartige bis eine Stunde
    vor dem Tode waren, so erklärt sich dieses Verhalten leicht daraus, dass die
    lokale kompressive Wirkung früher und stärker zur Geltung kam, als die
    allgemeine, welcher die endliche gleichmässige Lähmung zugeschrieben werden
    kann. Wie die Sektion lehrte, war die linke Hirnhälfte in weit höherem
    Grade als die rechte gequollen, die Windungen links abgeplattet und die
    basalen Gebilde, besonders Hirnschenkel und Hirnnerven, auffällig komprimirt.
    Es ist kaum zu entscheiden und endlich auch gleichgiltig, ob die Reizung
    der motorischen Bahn durch die Kompression der Rinde, der motorischen
    Ganglien und der inneren Kapsel, oder des basalen Stückes zu Stande
    kam. Das frühzeitige Auftreten von Lähmungen an den Hirnnervenstämmen
    weist darauf hin, dass die Basis in der That zur Erklärung der Symptome in
    erster Linie herangezogen werden muss; was sonst an dem Wechsel der Erscheinungen
    für diesen Erklärungsversuch spricht, ist bereits früher erwähnt
    worden. Es ist verständlich, dass bei allgemeiner Kompression des Gehirnes
    die gegen die unnachgiebige Wand gepressten Partien am ehesten Schaden
    leiden; auch hebt We r n i c k e 11 hervor, dass bei Druckwirkung im Gehirne
    von einer Oertlichkeit her gewisse Richtungen für die Fortpflanzung
    des Druckes bevorzugt scheinen. Das Gehirn entfernt sich eben in seinem
    Verhalten gegen Druck in hohem Maasse von den Eigenschaften einer Flüssigkeit.
    Wenn von den Autoren mehrfach die Häufigkeit schwerer halbseitiger
    und Allgemeinerscheinungen bei Blutungen in die hinteren Hirnlappen
    betont wird, so liegt die Vermuthung nahe, dass die leichtere Fortpflanzung
    des Druckes von dort aus gegen die basalen Gebilde, die in dem anatomischen
    Befunde unseres Falles eine so extreme Ausprägung gefunden hat,
    dabei in Betracht kommt.
    Der Betrachtung einzelner in unserem Falle hervortretender Symptome
    möchte ich die Bemerkung vorausschicken, dass streng genommen zwischen
    Herd- und Allgemeinsymptomen kein wesentlicher Unterschied zu bestehen
    braucht. Die Allgemeinsymptome können sehr wohl Herdsymptome sein,
    deren Zentrum eine so hohe Erregbarkeit oder deren Endapparat eine so
    feine Semiotik besitzt, dass die bei jeder Läsion im Schädel vorhandenen
    Allgemeinwirkungen an dem betreffenden Endapparate Zeichen geben.12
    Die verschiedene Bedeutung beider Symptomreihen für die Diagnostik wird
    durch diese Bemerkung nicht berührt, dagegen wohl die Verwerthung klinischer
    Fälle für die Kenntniss der Lokalisation der Funktionen. So könnte
    beispielsweise das untere Scheitelläppchen immer noch das Zentrum für
    die Augenbewegungen sein13, Störungen der letzteren aber bei so vielen anders
    lokalisirten Hirnläsionen auftreten, weil der fein gegliederte, nervenreiche
    Muskelapparat der Bulbi auf so vielfachen Wegen anzuregen ist und
    auf geringe Veränderungen seines Zentrums mit merklichen motorischen
    Symptomen antwortet. Eine ähnliche Bevorzugung des Zentrums wäre vielleicht
    für den Trismus geltend zu machen, der, wegen der vermuthlichen
    Innervation der Kaumuskeln

    1 Zur Genese und Symptomatologie der Pachymeningitis hæmorrhagica. Archiv für
    Psychiatrie 1878.

    2 V e t t e r , Deutsches Archiv f. kl. Medizin, XXII.

    3 Archives générales de Médecine, 1877.

    4 Etudes cliniques sur les lésions corticales, 1879.

    5 G r a s s e t , De la déviation conjuguée de la tête et des yeux, 1879.

    6 L a n d o u z y , Progrès médical, 1879.

    7 Lehrbuch der Gehirnkrankheiten II, 1882.

    8 E x n e r , Untersuchung über die Lokalisation, etc. 1881, Fall 58 und 107.

    9 Vergl. zu diesem Absatze N o t h n a g e l ’s Topische Diagnostik, Cortex Cerebri.

    10 l. c.

    11 l. c. III. p. 262 u. f.

    12 Vergl. We r n i c k e II, p. 60 u. A.

    13 Vergl. einen Fall von A n d r a l bei We r n i c k e , II, p. 86.

  • S.

    von beiden Hemisphären, nicht einmal
    wie die Augenablenkung einen Hinweis auf die Seite der Läsion geben
    kann14. Die Verengerung der Pupille des rechten Auges ist wohl auf die durch
    Allgemeinwirkung gesetzte Reizung des Oculomotorius zu beziehen; nach
    N o t h n a g e l 1 5 dürfte man in der Pupillenverengerung ein indirektes
    Herdsymptom vom Pons aus erblicken. Der Schwere des Falles – das heisst
    also der Betheiligung basaler Gebilde – entsprechend, fand sich Eiweiss im
    Harne und stieg die Temperatur eine Stunde vor dem Tode auf 39.5o C.
    Die koordinirten als „traumhaft“ bezeichneten Bewegungen, welche unser
    Kranker entweder spontan oder im Anschlusse an Reizungen, zuerst mit beiden
    linken, dann nur mit der linken oberen, und endlich mit beiden oberen
    Extremitäten ausführte, schliessen sich gewiss an die „automatischen Gestikulationen“
    an, die We s t p h a l 1 6 bei dem Befunde von Cysticerken
    an der Gehirnoberfläche beobachtete, und in welcher dann S a m t 1 7 ein
    diagnostisches Moment für Rindenerkrankungen finden wollte. In unserem
    Falle trat deren automatischer Charakter, der sich in häufiger Wiederholung
    derselben Aktion äussert, mehr zurück; diese Bewegungen hatten insoferne
    Bedeutung in unserem Falle, als sie die Erhaltung der Kontinuität und Leitungsfähigkeit
    in den betreffenden motorischen Bahnen bewiesen.
    Das Verhalten der Sensibilität und der Hautreflexe war bei unserem Falle
    arm an Symptomen wie an Ergebnissen. Der häufige Wechsel in der Erregbarkeit
    der sensiblen Bahnen, auf den die Krankenbeobachtung deutet,
    kommt zum Theile auf Rechnung wiederholter Aetherinjektionen; doch war
    nicht zu verkennen, dass die Sensibilität der rechten Körperhälfte eher und
    stärker beeinträchtigt war, als die der linken, auch scheint die Aufhebung der
    Empfindlichkeit im Gesichte so frühzeitig und vollständig gewesen zu sein,
    dass eine direkte Läsion der Trigemini nicht ausgeschlossen ist.
    In Betreff der Haut- und Sehnenreflexe möchte ich hervorheben, dass die
    Beobachtung unseres Kranken eine vollkommene Uebereinstimmung mit
    den von Arthur S c h w a r z 1 8 für das Verhalten der Reflexe bei Gehirnläsionen
    aufgestellten Regeln ergab. Die Sehnenreflexe zeigten sich erhöht,
    als Reizung, aufgehoben, als Lähmung der motorischen Bahn für die betreffende
    Extremität anzunehmen war. Das Verhalten der Hautreflexe zeigte sich
    durchwegs unabhängig von dem der Sehnenreflexe. In einem Stadium war
    auf der früher gelähmten Seite nur der Hautreflex, auf der eben in Lähmung
    gerathenden nur der Sehnenreflex zu erzeugen, wofür die Erklärung nicht
    mit Sicherheit gegeben werden kann.
    Es gereicht mir zur angenehmen Pflicht, dem Chef der IV. mediz. Abtheilung,
    Herrn Primarius Dr. S c h o l z , für die gütige Ueberlassung dieses
    Falles zu danken.

    14 Vergl. E x n e r l. c., p. 50.

    15 l. c.

    16 Archiv f. Psychiatrie IV.

    17 Zur Pathologie der Rinde, Archiv f. Psychiatrie V.

    18 Zur Lehre von den Haut- und Sehnenreflexen, Archiv für Psychiatrie XIII.