S.
An dem in mehrfacher Beziehung interessanten Falle wird uns hier nur das
Krankheitsbild und die Zurückführung desselben auf den Leichenbefund
beschäftigen. Wahrscheinlich allmälig ansteigend entwickelte sich bei unserem
Kranken ein tiefes Koma mit geringer Erhöhung der Temperatur, ohne
Beeinflussung der Respiration und Pulsfrequenz und ohne irgend welche
Anzeichen für die Lokalisation der Läsion zu bieten. Da über die Natur
der Läsion als Blutung kein Zweifel bestehen konnte, war es gerade die-
ses Verhalten, welches auf eine Oberflächenblutung hindeutete. Nach etwa
12stündiger Dauer des Komas stellten sich allgemeine Reizerscheinungen
(Unruhe, Trismus, Nackenstarre), Lähmungs- und solche Reizungssymptome
ein, welche zu einer topischen Diagnose der Läsion aufforderten. Ptosis,
Pupillenerweiterung, Gesichtsmuskellähmung linkerseits, Ablenkung
beider Augen nach links und Kontraktur der rechtsseitigen Extremitäten
liessen in ihrem Beisammensein eine Affektion im linken Schädelraume
erkennen, welche einerseits Hirnnervenstämme lähmend beeinflusst, andererseits
auf die motorische Bahn für die rechte Körperhälfte reizend einwirkt.
An welcher Strecke des langen Verlaufes der motorischen Bahn fand
nun die reizende Einwirkung statt? Wollte man alle beobachteten Symptome
von einem Herde ableiten, so war die Rinde der linken Hemisphäre
aus naheliegenden Gründen auszuschliessen; dieselben Gründe sprachen
auch gegen eine Affektion der motorischen Ganglien und überdies der
Umstand, dass am Facialis der rechten Seite weder Lähmung noch Kontraktur
zu konstatiren war. Wenn demnach am wahrscheinlichsten war, dass
die motorische Bahn an der Hirnbasis vom Insulte getroffen worden sei, so
schienen auch die weiteren Veränderungen des Krankheitsbildes, das verschiedene
Verhalten der motorischen Bahnen für die obere und für die untere
Extremität und das Uebergreifen auf die andere Seite, diese Annahme
zu begünstigen. Aus der Hemikontraktur wurde zunächst Monokontraktur
der rechten oberen Extremität und Paraplegie, sodann trat beiderseitige
Kontraktur der oberen Extremitäten auf, die ihrerseits alsbald in Lähmung
überging. (Dass auch an der linken unteren Extremität der Erschlaffung
erhöhte Muskelspannung vorausgeeilt, dürfte der Beobachtung entgangen
sein.) Eine Blutung in die basale Strecke der motorischen Bahn selbst war
ferner durch zwei Momente auszuschliessen, erstens durch die fehlende
Beeinträchtigung von Respiration und Pulsfrequenz zu einer Zeit, als die
motorischen Reizsymptome scharf ausgeprägt waren, und sodann durch den
Umstand, dass an der rechten oberen Extremität stundenlange Kontraktur
ohne Leitungsunterbrechung bestand, wie deren koordinirte Aktion nach
langer Unbeweglichkeit kurz vor dem Eintritte der allgemeinen Lähmung
darthat. Es konnte sich also nur um eine Blutung handeln, die in ihren
entfernteren Folgen, durch indirekte Einwirkung, zur Beeinträchtigung der
motorischen Bahn an der Basis führte, und mit Uebersehen einer anderen
Möglichkeit gelangte man zur Aufstellung einer intermeningealen Blutung
an der Hirnbasis.S.
Die Autopsie ergab nun mehrfache Blutungen in der linken Hälfte
des Schädelraumes: eine solche in die Meningen längs des medialen Stirnzuges,
die sich auf die medialsten Stücke der Zentralwindungen fortsetzte, die
Rinde aber nirgends betheiligte, einen Blutaustritt zwischen Dura und Pia
über dem unteren Scheitelläppchen und endlich eine Zerstörung des unteren
Scheitelläppchens selbst durch zahlreiche kapilläre Hämorrhagien. Lassen
sich die beobachteten Symptome auf eine der gefundenen Läsionen allein
zurückführen und sind irgend welche Erscheinungen als direkte Herdsymptome
der Läsionen aufzufassen? Da ist denn zunächst hervorzuheben, dass
die lange Dauer eines komatösen Zustandes ohne halbseitige Erscheinungen
darauf hinweist, dass die Oberflächenblutung die frühere war. Auch die
frühzeitige Steigerung der Temperatur, nach F ü r s t n e r 1 für die Oberflächenblutung
charakteristisch, während der intracerebralen Blutung eine
Herabsetzung der Temperatur zukommt, würde in demselben Sinne sprechen.
Beide Oberflächenblutungen waren aber als mässige zu bezeichnen und
hätten demnach ohne alle Herdsymptome verlaufen können.
Von der Blutung unter die Dura in der Gegend des Scheitellappens sind weder
direkte noch indirekte Herdsymptome zu erwarten. Dagegen kommt in Betracht,
ob nicht die Kontraktur der rechtsseitigen Extremitäten als direktes Herdsymptom
der auf die linke motorische Region übergreifenden Oberflächenblutung
aufzufassen ist, wofür die von F ü r s t n e r in der erwähnten Abhandlung
mitgetheilten Beobachtungen zahlreiche Analogien bieten würden. Ich glaube
nicht, dass sich diese Frage mit Sicherheit beantworten lässt. Der Fall ist wohl zu
komplizirt, um eine völlige Aufklärung zuzulassen. Es muss nur hervorgehoben
werden, dass die rechtsseitige Kontraktur nicht vor der linksseitigen Facialisund
Oculomotoriuslähmung zur Beobachtung kam, welche beide Symptome, da
keine Blutung im rechten Schädelraume vorlag, nur als basale Symptome gedeutet
werden können. Eine Oberflächenblutung kann aber basale Erscheinungen
nur dann erzeugen, wenn sie besonders massenhaft und ausgebreitet auftritt,
während sie in unserem Falle eher als geringfügig zu bezeichnen war.Ob der Läsion des unteren Scheitelläppchens Herdsymptome zukommen,
und welche, ist derzeit nicht mit Sicherheit bekannt. Von sensorischen
Symptomen, die bei dem tiefen Koma unseres Falles nicht ausgeprägt sein
konnten, sind Störungen des Muskelgefühles2 und aphasische Erscheinungen
in Zusammenhang mit der uns interessirenden Lokalität gebracht worden.
Während zahlreiche Beobachtungen zu lehren scheinen, dass kein Ausfall
von Motilität an eine Läsion des unteren Scheitelläppchens geknüpft ist,
scheinen andere Fälle auf eine nähere Beziehung desselben zu dem Muskelapparate
der Augen hinzuweisen. So führt L a n d o u z y 3 gekreuzte
Ptosis als Herdsymptom auf und B o y e r 4 ist selbst geneigt, das Rindenzentrum
für den Oculomotorius dahin zu verlegen. Insbesondere ist mehreren
Autoren die häufige Verknüpfung der konjugirten Augenablenkung
mit Läsionen des unteren Scheitelläppchens aufgefallen5 6, welche auch von
We r n i c k e 7 anerkannt wird.
In den 5 Fällen der E x n e r ’schen Sammlung mit gleichsinniger Augenablenkung
ist das untere Scheitelläppchen 2 Mal8 Sitz der Läsion. Unser
Fall war wegen der basalen Lähmung des Oculomotorius auf der Seite
der Blutung für die Konstatirung einer gekreuzten Ptosis nicht günstig; die
gleichsinnige Augenablenkung fand sich dagegen vor, u. z. nach der Seite
des Herdes, der angenommenen Regel ent-
sprechend9. Da indessen
dieses Symptom bei den verschiedensten Hirnerkrankungen – besonders
häufig bei Oberflächenblutungen nach F ü r s t n e r 10 – auftritt, muss die
Bedeutung desselben als Herdsymptom des unteren Scheitelläppchens dahingestellt
bleiben.
Es kann nicht zweifelhaft sein, dass für alle bei unserem Kranken beobachteten
Erscheinungen die Blutung ins untere Scheitelläppchen eine
ausreichende Erklärung bietet. Dieselbe war so massenhaft, dass sie durch
ihre allgemeine kompressive Wirkung das ganze Gehirn blutleer machte und
innerhalb weniger als 20 Stunden zum Tode führte. Wenn die Erscheinungen
am Krankenbette dennoch halbseitige und herdartige bis eine Stunde
vor dem Tode waren, so erklärt sich dieses Verhalten leicht daraus, dass die
lokale kompressive Wirkung früher und stärker zur Geltung kam, als die
allgemeine, welcher die endliche gleichmässige Lähmung zugeschrieben werden
kann. Wie die Sektion lehrte, war die linke Hirnhälfte in weit höherem
Grade als die rechte gequollen, die Windungen links abgeplattet und die
basalen Gebilde, besonders Hirnschenkel und Hirnnerven, auffällig komprimirt.
Es ist kaum zu entscheiden und endlich auch gleichgiltig, ob die Reizung
der motorischen Bahn durch die Kompression der Rinde, der motorischen
Ganglien und der inneren Kapsel, oder des basalen Stückes zu Stande
kam. Das frühzeitige Auftreten von Lähmungen an den Hirnnervenstämmen
weist darauf hin, dass die Basis in der That zur Erklärung der Symptome in
erster Linie herangezogen werden muss; was sonst an dem Wechsel der Erscheinungen
für diesen Erklärungsversuch spricht, ist bereits früher erwähnt
worden. Es ist verständlich, dass bei allgemeiner Kompression des Gehirnes
die gegen die unnachgiebige Wand gepressten Partien am ehesten Schaden
leiden; auch hebt We r n i c k e 11 hervor, dass bei Druckwirkung im Gehirne
von einer Oertlichkeit her gewisse Richtungen für die Fortpflanzung
des Druckes bevorzugt scheinen. Das Gehirn entfernt sich eben in seinem
Verhalten gegen Druck in hohem Maasse von den Eigenschaften einer Flüssigkeit.
Wenn von den Autoren mehrfach die Häufigkeit schwerer halbseitiger
und Allgemeinerscheinungen bei Blutungen in die hinteren Hirnlappen
betont wird, so liegt die Vermuthung nahe, dass die leichtere Fortpflanzung
des Druckes von dort aus gegen die basalen Gebilde, die in dem anatomischen
Befunde unseres Falles eine so extreme Ausprägung gefunden hat,
dabei in Betracht kommt.
Der Betrachtung einzelner in unserem Falle hervortretender Symptome
möchte ich die Bemerkung vorausschicken, dass streng genommen zwischen
Herd- und Allgemeinsymptomen kein wesentlicher Unterschied zu bestehen
braucht. Die Allgemeinsymptome können sehr wohl Herdsymptome sein,
deren Zentrum eine so hohe Erregbarkeit oder deren Endapparat eine so
feine Semiotik besitzt, dass die bei jeder Läsion im Schädel vorhandenen
Allgemeinwirkungen an dem betreffenden Endapparate Zeichen geben.12
Die verschiedene Bedeutung beider Symptomreihen für die Diagnostik wird
durch diese Bemerkung nicht berührt, dagegen wohl die Verwerthung klinischer
Fälle für die Kenntniss der Lokalisation der Funktionen. So könnte
beispielsweise das untere Scheitelläppchen immer noch das Zentrum für
die Augenbewegungen sein13, Störungen der letzteren aber bei so vielen anders
lokalisirten Hirnläsionen auftreten, weil der fein gegliederte, nervenreiche
Muskelapparat der Bulbi auf so vielfachen Wegen anzuregen ist und
auf geringe Veränderungen seines Zentrums mit merklichen motorischen
Symptomen antwortet. Eine ähnliche Bevorzugung des Zentrums wäre vielleicht
für den Trismus geltend zu machen, der, wegen der vermuthlichen
Innervation der Kaumuskeln1 Zur Genese und Symptomatologie der Pachymeningitis hæmorrhagica. Archiv für
Psychiatrie 1878.2 V e t t e r , Deutsches Archiv f. kl. Medizin, XXII.
3 Archives générales de Médecine, 1877.
4 Etudes cliniques sur les lésions corticales, 1879.
5 G r a s s e t , De la déviation conjuguée de la tête et des yeux, 1879.
6 L a n d o u z y , Progrès médical, 1879.
7 Lehrbuch der Gehirnkrankheiten II, 1882.
8 E x n e r , Untersuchung über die Lokalisation, etc. 1881, Fall 58 und 107.
9 Vergl. zu diesem Absatze N o t h n a g e l ’s Topische Diagnostik, Cortex Cerebri.
10 l. c.
11 l. c. III. p. 262 u. f.
12 Vergl. We r n i c k e II, p. 60 u. A.
13 Vergl. einen Fall von A n d r a l bei We r n i c k e , II, p. 86.
S.
von beiden Hemisphären, nicht einmal
wie die Augenablenkung einen Hinweis auf die Seite der Läsion geben
kann14. Die Verengerung der Pupille des rechten Auges ist wohl auf die durch
Allgemeinwirkung gesetzte Reizung des Oculomotorius zu beziehen; nach
N o t h n a g e l 1 5 dürfte man in der Pupillenverengerung ein indirektes
Herdsymptom vom Pons aus erblicken. Der Schwere des Falles – das heisst
also der Betheiligung basaler Gebilde – entsprechend, fand sich Eiweiss im
Harne und stieg die Temperatur eine Stunde vor dem Tode auf 39.5o C.
Die koordinirten als „traumhaft“ bezeichneten Bewegungen, welche unser
Kranker entweder spontan oder im Anschlusse an Reizungen, zuerst mit beiden
linken, dann nur mit der linken oberen, und endlich mit beiden oberen
Extremitäten ausführte, schliessen sich gewiss an die „automatischen Gestikulationen“
an, die We s t p h a l 1 6 bei dem Befunde von Cysticerken
an der Gehirnoberfläche beobachtete, und in welcher dann S a m t 1 7 ein
diagnostisches Moment für Rindenerkrankungen finden wollte. In unserem
Falle trat deren automatischer Charakter, der sich in häufiger Wiederholung
derselben Aktion äussert, mehr zurück; diese Bewegungen hatten insoferne
Bedeutung in unserem Falle, als sie die Erhaltung der Kontinuität und Leitungsfähigkeit
in den betreffenden motorischen Bahnen bewiesen.
Das Verhalten der Sensibilität und der Hautreflexe war bei unserem Falle
arm an Symptomen wie an Ergebnissen. Der häufige Wechsel in der Erregbarkeit
der sensiblen Bahnen, auf den die Krankenbeobachtung deutet,
kommt zum Theile auf Rechnung wiederholter Aetherinjektionen; doch war
nicht zu verkennen, dass die Sensibilität der rechten Körperhälfte eher und
stärker beeinträchtigt war, als die der linken, auch scheint die Aufhebung der
Empfindlichkeit im Gesichte so frühzeitig und vollständig gewesen zu sein,
dass eine direkte Läsion der Trigemini nicht ausgeschlossen ist.
In Betreff der Haut- und Sehnenreflexe möchte ich hervorheben, dass die
Beobachtung unseres Kranken eine vollkommene Uebereinstimmung mit
den von Arthur S c h w a r z 1 8 für das Verhalten der Reflexe bei Gehirnläsionen
aufgestellten Regeln ergab. Die Sehnenreflexe zeigten sich erhöht,
als Reizung, aufgehoben, als Lähmung der motorischen Bahn für die betreffende
Extremität anzunehmen war. Das Verhalten der Hautreflexe zeigte sich
durchwegs unabhängig von dem der Sehnenreflexe. In einem Stadium war
auf der früher gelähmten Seite nur der Hautreflex, auf der eben in Lähmung
gerathenden nur der Sehnenreflex zu erzeugen, wofür die Erklärung nicht
mit Sicherheit gegeben werden kann.
Es gereicht mir zur angenehmen Pflicht, dem Chef der IV. mediz. Abtheilung,
Herrn Primarius Dr. S c h o l z , für die gütige Ueberlassung dieses
Falles zu danken.14 Vergl. E x n e r l. c., p. 50.
15 l. c.
16 Archiv f. Psychiatrie IV.
17 Zur Pathologie der Rinde, Archiv f. Psychiatrie V.
18 Zur Lehre von den Haut- und Sehnenreflexen, Archiv für Psychiatrie XIII.
276
–279