Ein Fall von hypnotischer Heilung nebst Bemerkungen über die Entstehung hysterischer Symptome durch den „Gegenwillen“ 1893-005/1892
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    102 zam1.fifc fin- Hypnotinmu!-

    Ein Full von hypnntischer Nellung nebst Bemerkungen über die

    Entstehung hysleriecher Symptome durch den „Gegenwillen.“
    Von
    Dr. Sign. Freud, Pfivntdocent in Wien.

    Ich entschlieese mich hier, einen einzelnen Fell von Heilung durch
    hypnutische Suggestian zu verötl'entliehen, weil derselbe durch eine Reihe
    von Nebenumstänrlen heweiekriiftiger und durchsichn'ger geworden ist,
    als die Mehrzahl unserer Heilerfclge zu sein pflegt.

    Die Frau, welcher ich in einem fiir sie bedeutsamen Moment
    ihrer Existenz Hilfe leisten konnte, war mir seit Jahren bekannt und
    blieb mehrere Jahre später unter meiner Beobachtung; die Störung, von
    welcher sie die hypnotieche Suggestion befreite, war einige Zeit vorher
    zum ersten Male aufgetreten, erfolglos bekämpft werden und hatte der
    Kranken einen Verzicht nbgenöthigt, deseen sie dns zweite Mnl durch
    meine Hilfe enthoben war, während ein Jahr später dieselbe Störung
    sich neuerdings einetellte; und auf dieselbe Weise neuerdings überwunden
    wurde. Der Erfolg der Therapie war ein für die Kranke werthvoller,
    der auch so lange nnhielt, als die Kranke die der Störung unterworfeue
    Funktion ausüben wollte; und endlich dürfte es für diesen Fell gelungen
    sein, den einfachen psychischen Mechanismus der Störung nachzuweisen
    und ihn mit ähnlichen Vergüngen auf dein Gebiete der Nervenpnthologie
    in Beziehung zu setzen.

    Es handelt sich, um nicht länger in Räthseln sprechen zu miissen,
    um einen Fall, in dem eine Mutter ihr Neugeborenes nicht zu nnhren
    vermochte, ehe sich die hypnotische Suggestion eingemengt hatte, und
    in dem die Vorgänge bei einem früheren und einem späteren Rinde
    eine nur selten mögliche Controle des therapeutischen Erfolges gestatteten.

    Die Heldin der nachstehenden Krankengeschichte ist eine junge
    Finn zwischen 20 und 30 Jahren, mit der ich zufiillig seit den Kinder
    jahren in Verkehr gestanden hatte, und «lie in Folge ihrer Tüchtigkeit,

     

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    Sign. Freud, Ein m von hypnotischer Heilung etc. 103

    ruhigen Besonnenheit und Nstiirlichkeit bei Niemaudcm, auch nicht bei
    ihrem Hausarzte, im Rufe einer Nervösen stand. Mit Rücksicht auf
    die hier erzählten Begebenheiten muss ich sie als eine „Hystérique
    d'ocmsion“ nach Chsrcot‘s glücklichem Ausdruck bewichnen. Man
    weiss, dass diese Kategorie der Vartrefflichsten Mischung von Eigen-
    schaften und einer sonst ungestörten nervbsen Gesundheit nicht wider-
    spricht. Von ihrer Familie kenne ich die in keiner Weise nervüse
    Mutter und eine ähnlich geartete, gesunde, jüngere Schwester. Ein Bruder
    hat eine typische Jugendneurusthenie durchgemacht, die ihn auch zum
    Scheitern in seinen Lebenrplhnen gebracht bet. Ich kenne die Actio-
    lflg'ie und den Verlauf dieser Erkrankung, die sich in meiner hrztlichen
    Erfnhrung alljährlich mehrmnls in der nämlichen Weise wiederholt. Bei
    ursprünglich guter Anlage die gewöhnliche sexuelle Verirrung der
    Pubertätszeit, dann die Ueberarheituug der Studentenjahre, das Prüfungs-
    studium, eine Gonorrhee und im Anschluss an diese der plötzliche Aus-
    bruch einer Dyspepsie in Begleitung jener hartnickigen, fast unhegreif-
    lichen Stuhlverstupl'uug. Nach Monnteu Ablösung dieser Verstopfung
    durch Kopfdruck, Verstimnxung, Arbeitsunflihigkeit, und von ds ab
    entwickeln sich jene Charaktereinschränkung und egoistische Ver—
    kümmerung, welche den Kranken zur Geissel seiner Familie machen.
    Es ist mir nicht sicher, ob diese Form von Neuresthenie nicht in allen
    Stücken erworben werden kenn, und ich lasse daher, zumal da ich die
    anderen Verwandten meiner Patientin nicht kenne, die Frage ofi'nn,
    ob in ihrer Fnlnilie eine heredititre Disposition für Neurosen anzu-
    nehmen ist.

    Die Patientin hatte, als die Geburt des ersten Kindes aus ihrer
    glücklichen Ehe herunnahte, die Absicht, dasselbe selbst zu nihren.
    Der Geburtsukt verlief nicht schwieriger, Ill8 es bei älteren Erstgehärenden
    zu sein pflegt, wurde durch Furceps heenlligt. Der \Vi'ichnerin gelang
    es aber nicht, trotz ihres günstigen Körperbsues, (lem Rinde eine gute
    Nibrmutter zu sein. Die Milch kam nicht reichlich, das Anlegen ver-
    muchte Schmerzen, der Appetit mngelte, ein hedenklicher Widerwillc
    gegen die Nahrungsaufnahme stellte sich ein, die Nächte waren erregt
    und schlnflos, und um Mutter und Kind nicht weiter zu gefährden,
    wurde der Verluch nach 14 Tagen als missglückt abgebrochen und das
    Kind einer Amnle übergeben, wonach Alle Beschwerden der Mutter rasch
    Verschwenden: Ich bemerke, dass ich von diesem ersten Lactntions—
    versuch nicht als Arzt und Augenzeuge berichten kann.

     

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    104 Zein«ehrifc fiir Hypnntjnmuu.

    Drei Jahre später erfolgte die Geburt eines zweiten Kindea und
    diesmal liessen auch äuseem Umstände ee wünschenswerth erscheinen,
    eine Amine zu umgehen. Die Bemühungen der Mutter, selbst zu nihren,
    schienen aber weniger Erfolg zu haben und peinlichen; Encheinungcn
    hervorzurufen als das erste Mal. Die junge Mutter erbrach alle Nahrung.
    gerith in Aufregung, wenn sie dieselbe an ihr Bett bringen sah, war
    absolut schlaflos und so verstimrnt über ihre Unfähigkeit, dnss die beiden
    Aerzte der Familie, die in dieser Stadt so allgemein bekennwn Herren
    Dr. Breuer und Lott diesmal von einer längeren Fortsetzung des
    Versuches nichts wissen wollten. Sie riethen nur noch zu einem Ver-
    such mit, hypnotischer Suggestion und setzten durch, dass ich am Abend
    des vierten Tages als Arzt zu der mir befreundeten Freu geholt wurde.

    Ich fand sie mit hochgerötheten Wengen zu Bette liegend, wüthennl
    über ihre Unfähigkeit, das Kind zu nnhren, die sich bei jedem Versuch
    steigerte und der sie doch mit allen Kräften wideretrchte. Um den
    Erbrechen zu vermeiden, hatte sie diesen Tag über nicht:; zu sich
    genommen. Das Epigutrium wer vurgewölht, auf Druck empfindlich,
    die aufgelegte Hand fühlte den Magen unruhig, von Zeit zu Zeit er—
    folgte geruchloses Aufstossen, die Kranke klagte über hestindigen üblen
    Geschmack im Munde. Die Aern des hochtympnnitischen Magenschnllee
    wer erheblieh vergrössert. Ich wurde nicht als willkommener Retter
    uns der Neth begrüsst, sondern ofienbnr nur widerwillig mgenornmen
    und durfte auf nicht viel Zumuen rechnen.

    Ich versuchte sofort, die Hypnose, durch Fixirenlnssen bei bestin»
    digem Einreden der Symptnme des Schlafes herbeizufiihmn. Nach 3
    Minuten Ing die Kranke mit dem ruhigen Geeichtseusdruck einer tief
    Sehlnfenden da. Ich weiss mich nicht zu erinnern, ob ich auf Knmlepsie
    und andere Erscheinungen von Folgsnmkeit geprüft habe. Ich bediente
    mich der Suggestion, um allen ihren Befürchtungen und den Empfin-
    dungen, auf welche sich die Befürchtungen utiitnten, zu wider-sprechen.
    „Heben Sie keine Angst, Sie werden eine ausgezeichnete Anime sein,
    bei der das Kind prächtig gedeihen wird. Ihr hingen ist ganz ruhig,
    Ihr Appeu't ausgezeichnet, Sie sehnen sich nach einer Melleit u. dgl.“
    Die Krnnke schlief weiter, als ich sie für einige Minuten verliese,
    und zeigte sich muestilch, nachdem ich sie erweckt hatte. Ehe ich
    fortging, musste ich noch einer besoran Bemerkung des Mannes wider-
    sprechen, dass die Hypnose wohl die Nerven einer Frau gründlich
    ruiniren könne.

     

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    Sign. Freud. Ein Full wm hypnntischer Heilunk etc. 105

    Am nächsten Abend erfuhr ich, was mir als ein Unterpfund des
    Erfolges galt, den Angehörigen untl der Krunken aber merkwürdiger-
    weise keinen Eindruck gemacht llutte.‘ Die \Vüclmerin hatte ohne
    Beschwerde zu Abend gegessen, ruhig geschlafen und auch um Vor-
    mittag sich wie das Kind tadellos cmührt. Die etwas reichliche Mittags—
    mulzeit war aber zuviel für sie gewesen. Kuum dass dieselbe nufgetragen
    war, erwachte in ihr der frühere Widerwille, es trat Erbrechen ein,
    noch ehe sie etwas berührt hutte, das Kind anzulegen war unmöglich
    geworden, und die objectiven Zeichen wnren bei meinem Erscheinen
    wieder wie um Vorabend. Mein Argument, dass jetzt alles gewonnen
    sei, nachdem sie sich überzeugt hätte, dass die Störung weichen könne
    und auch für einen halben Tag gewichen sei, blieb wirkungslos. leh
    wnr nun bei der zweiten Hypnose, die ebenso rasch zum Somnumbulis—
    mus führte, energischer und zuversichtlicher. Die Kranke werde fünf
    Minuten nach meinem Fortgehen die Ihrigeu etwas unu'illig anfahren:
    wo denn das Essen bleibe, ob man denn die Absicht habe, sie ausqu
    hungem, woher sie denn das Kind nahmen solle, wenn sie nichts bekäme
    u. dgl. Als ich am dritten Abend wiederkehrte, liess die Wüchuerln
    keine weitere Behandlung zu. Es fehle ihr nichts mehr, sie habe aus»
    gezeichneten Appelit und reichlich Milch für das Kind, das Anlegen
    des Kindu mache ihr nicht die geringsten Schwierigkeiten u. dgl.
    Dem Hanne war es etwns unheimlich erschienen, dass sie gestern Abend
    bald nach meinem Fortgehen so ungestiim nach Nahrung verlangt, und
    der Mutter Vorwürfe gemacht habe, wie es niemals ihre Art gewesen.
    Seither gehe uber alles gut. ‚

    Ich hatte nichts mehr dabei zu thun. Die Frau nshrte das Kind
    8Monste lang, und ich hatte hlufig Gelegenheit, mich freundschaftlich
    von dem Wohlbefinden beider Personen zu überzeugen. Nur {und ich
    es unverständlich und verdrieselich, dass von jener merkwürdigen Leistung
    niemals zwischen uns die Rede wu.

    Infless kam meine Zeit ein Jahr später, als ein drittes Kind die-
    selben Ansprüche an die Mutter stellte, welche sie ebenso wenig wie
    die vorigen Male zu befriedigen vermochte. Ich truf die Freu in dem-
    selben Zustande wie voriges Jahr, und geradezu erbittert gegen sich,
    dass sie gegen die Essabneigung und die sucleren Symptome mit ihrem
    Willen nichts vemfichte. Die Hypnose des ersten Abends hatte auch
    nur den Erfolg, die Kranke noch hoi‘fuungeloser zu machen, Nach der
    zweiten Hypnose war der Symptomromplex wiederum so vollständig

    Zeitschrin ru: Hypnousmus uw. 8

     

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    106 Zeitschrift fur Hypnutismus.

    nbgeschnitten, dass es einer dritten nicht bedurl'te. Die Eine init such
    dieses Kind. des heute I'/‚ Jahre alt ist, ohne alle Beschwerde genährt
    und sich des ungestörtesten Wohlbefinden erfreut

    Angesichts dieser Wiederholung des Erfolges thsuten nun auch
    die beiden Eheleute auf und bekannten das Motiv, welches ihr Benehmen
    gegen mich geleitet hatte. Ich habe mich geschämt, sagte mir die Freu,
    dsss so etwas wie die Hypnose nützen soll, ds wo ich mit nll' meiner
    Willenskraft mmhdos war. Ich glaube inst nicht, dnss sie oder ihr
    Mann ihre Abneigung gegen die Hypnose überwunden haben.

    Ich gehe nun zu der Erörterung über, welches wohl der psychische
    Mechnnismus jener durch Suggestion behobeneu Störung bei meiner
    Patientin war. Ich habe nicht wie in anderen Fellen, von denen ein
    nndermnl die Rede sein soll, directe Auskunft darüber, sondern bin denn?
    angewiesen, ihn zu errsthcn.

    Es giebt Vorstellungen, mit denen ein Erwartungsstl'eet verbunden
    ist. und nur sind dieselben von zweierlei Art, Vorstellungen, dass ich
    dies oder jenes thun werde, sog. Vorsitzs und Vorstellungen, dass
    dies oder jenes mit mir geschehen wird, eigentliche Erwartungen.
    Der deren geknüpfte Afl'ect hhgt von zwei Fectoren eb, erstens von
    der Bedeutung, den der Ausfall für mich hat, zweitens von dem Grade
    von Unsicherheit, mit welchem die Erwartung desselben behaftet ist.
    Die snbjsctive Unsicherheit, die Gegenerwnrtung, wird selbst durch
    eine Summe von Vorstellungen dugestellt, welche wir als „peinliche
    Contrsstvorstellungcn“ bezeichnen wollen. Für den Fell des Vorsatzes
    leuten diese Contmstvorstelluugen so: FA wird mir nicht gelingen, meinen
    Vorsatz auszuführen, weil dies und jenes für mich zu schwer ist, ich
    dafiir ungeeignet bin; auch weiss ich, dass es bestimmten anderen
    Personen in ähnlicher Lege gleichfalls misslungen ist. Der andere Full, dar
    der Erwartung, ist ohne Weiteres klar; die Gegenanflnrtung beruht
    suf der Erwägung Aller anderen Möglichkeiten, die mir zustossen können,
    bis auf die eine, die ich wünsche. Die weitere Erörterung dieses Felles
    fiihrt zu den Phobien, die in der Symptometologic der Neurosen
    eine so grosse Rolle spielen. Wir verbleiben bei der ersten Kategorie
    bei den Vorsßtzen. Was thut nun ein gesundes Vorstellungslebcn niit
    den Contrastvorstellungen gegen den Vorsatz? Es unterdrückt und hemmt
    dieselben nschhlüglichkeit, wie es dem kräftigen Selbstbewusssein der

     

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    Ralereie. 107

    Gesundheit entspricht, schliesst sie von der Associntion aus, und dies
    gelingt häufig in so hohem Grade, den die Existenz der Contrutvor-
    stellung gegen den Vorsatz meist nicht evideut ist, sondern erst durch
    die Betmchtnng der Neurosen wahrscheinlich gemacht wird. Bei den
    Neuronen hingegen — und ich beziehe mich durch-us nicht allein auf die
    Hysterie, sondern auf den Status nervesns im Allgemeinen, ist als
    primär vorhanden eine Tendenz zur Versiimmung, zur Herehsetzung
    des Selbstbewuestseins snzunelimen, wie wir sie Ale höchstentwickeltes
    und vereinzelten Symptom bei der Melancholie kennen. Beiden Neu-
    ronen fällt nun auch den Contrutvoretellungen gegen den Vorsatz eine
    grosse Beachtung zu, vielleicht weil deren Inhslt zu der Stimmungs-
    fi'irbnng der Neurone pseet, oder vielleicht in der Weise, dass auf dem
    Boden der Neurose Contrastvorsteliungen entetehen, die sonst unter-

    blieben wären.
    (Schluss folgt)

    Referate.

    Liieraiurberieht
    von

    Dr. med. Albert Hall in Berlin.

    I.

    E. klnn nicht Aulgnhe fnlgenden Berichten nein, nimmtiiuhn Erscheinungen
    su! dem Gebiete der hypnotn'rnhen Literntnr zu besizrecllen. Ist diene doch im Leute
    der letzten zwölf Jshre rn enorm angesehwullen, dass „im eine Aufzählung der
    einzelnen Werke bereits ein slsttiichcs Buch muenchen wurde In seiner 1888
    erschienenen Bibliogrnphin des medernen Hypnot.ielnns hat llnr Dessoir bereits
    mehr nl. 800 einzelne Arbeiten des einschlägigen Gebietes mgefilhrt. Leider int
    uns der grnnnntr Autor nuruer einem Nuchmg keine Fortsetzung seines gndiegennn
    venlienstiiehen Werkes gebracht. Schon am! dem Umfnngu des genannten Buches
    dürfte hervorgehen, des: eine Besprechung der lzypnetischen Literatur in dem Ruinen
    einer Zeitschrift lediglich die wiclltigeren und interessant/ann Pnhlilrntionen herhhren

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