S.
Separatabdruck
aus der Zeitschrift für Hypnotismus, Suggestionstherapie,Suggestionslehre und verwandte psychologische Forschungen,
1892/93. Heft III./IV.(Verlag von Hermann Brieger, Berlin.)
Ein Fall von hypnotischer Heilung nebst Bemerkungen über die
Entstehung hysterischer Symptome durch den ,,Gegenwillen.“
Von
Dr. Sigm. Freud, Privatdocent in Wien.Ich entse mich hier, einen einzelnen Fall von Heilung durch
öffentlichen, weil derselbe durch eine Reihe
hypnotische Suggestion zu ve
von Nebenumstinden beweiskräftiger und durchsichtiger geworden ist,
als die Mehrzahl unserer Heilerfolge zu sein pflegt.Die Frau, welcher ich in einem für sie bedeutsamen Moment
ihrer Existenz Hilfe leisten. konnte, war mir seit Jahren bekannt und
blieb. mehrere Jahre später unter meiner Beobachtung; die Störung, von
welcher sie die hypnotische Su tion befreite, war einige Zeit vorher
on Male aufgetreten, erfoKranken einen Verzicht abgenóthigt, dessen sie das zweite Mal durch
zum ers glos bekämpft worden und hatte der
selbe Störung
meine Hilfe enthoben war, während ein Jahr später di
sich neuerdings einstellte; und auf dieselbe Weise neuerdings überwunden
wurde. Der Erfolg der Therapie war ein für die Kranke werthvoller,
der auch so lange anhielt, als die Kranke die der Störung unterworfene
Funktion ausüben wollte; und endlich dürfte es für diesen Fall gelungen
sein, den einfachen psychischen Mechanismus der Störung nachzuweisen
und ihn mit ähnlichen Vengen auf dem Gebiete der Neryenpathologic
gi
in Beziehung zu setzen.Es handelt sich, um nicht linger in Räthseln sprechen zu müssen,
um einen Fall in dem eine Mutter ihr Neugeborenes nieht zu nährenhatte, und
vermochte, ehe sich die hypnotisehe Suggestion cingemeng:
in dem die Vorgänge bei einem früheren und einem späteren Kinde
eine nur selten mögliche Controle des therapeutischen Erf:Die Heldin der nachstehenden. Krankenge
Frau zwischen 20 und 30 Jahren, mit der ich zufällig seit den Kinder-
jahren in Verkehr gestanden hatte, und die in Folge ihrer Tüchtigkeit,ges gestatteten.
shichte ist eine jung
S.
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ruhigen Besonnenheit und Natürlichkeit bei Niemandem, auch nicht bei
ihrem Hausarzte, im Rufe einer Nervosen stand. Mit Rücksicht auf
die hier erzählten Begebenheiten muss ich sie als eine „Hystórique
d’occasion“ nach Charcot's glücklichem Ausdruck bezeichnen. Man
weiss, dass diese Kategorie der vortrefflichsten Mischung von Eigen-
schaften und einer sonst ungestôrten nerven Gesundheit nicht wider-
spricht. Von ihrer Familie kenne ich die in keiner Weise nervöse
Mutter und eine ähnlich geartete, gesunde, jüngere Schwester. Ein Bruder
hat eine typische Jugendneurasthenie durchgemacht, die ihn auch zum
Scheitern in seinen Lebensplånen gebracht hat. Ich kenne die Aetio-
ogie und den Verlauf dieser Erkrankung, die sich in meiner älichen
Erfahrung alljährlich mehrmals in der nämlichen Weise wiederholt. Bei
ursprünglich guter Anlage die gewöhnliche sexuelle Verirrung der
Pubertätszeit, dann die Ueberarbeitung der Studentenjahre, das Prüfungs-
studium, eine Gonorrhoe und im Anschluss an diese der plötzliche Aus-
bruch einer Dyspepsie in Begleitung jener hartnäckigen, fast unbegreif-
lichen Stuhlverstopfung. Nach Monaten Ablösung dieser Verstopfung
durch Kopfdruck, Verstimmung, Arbeitsunfähigkeit, und von da ab
entwickeln sich jene Charaktereinschränkung und egoistische Ver-
kiimmerung, welche den Kranken zur Geissel seiner Familie machen
Es ist mir nicht sicher, ob diese Form von Neurasthenie nicht in allen
Stücken erworben werden kann, und ich lasse daher, zumal da ich die
anderen Verwandten meiner Patientin nicht kenne, die Frage offen,
ob in ihrer Familie eine hereditäre Disposition für Neurosen anzu-
nehmen ist.Die Patientin hatte, als die Geburt des ersten Kindes aus ihrer
glücklichen Ehe herannahte, die Absicht, dasselbe selbst zu nähren.
Der Geburtsakt verlief nicht schwieriger, als es bei älteren Erstgebärenden
zu sein pflegt, wurde durch Forceps beendigt. Der Vhnerin gelang
es aber nicht, trotz ihres günstigen Körperbaues, dem Kinde eine gute
Nährmutter zu sein. Die Milch kam nicht reichlich, das Anlegen ver-
ursachte Schmerzen, der Appetit mangelte, ein bedenklicher Widerwille
gegen die Nahrungsaufnahme stellte sich ein, die Nächte waren erre
und schlaflos, und um Mutter und Kind nicht weiter zu gefährden,
wurde der Versuch nach 14 Tagen als missglückt abgebrochen und das
Kind einer Amme übergeben, wonach alle Beschwerden der Mutter rasch
verschwanden. Ich bemerke, dass ich von diesem ersten Lactations-
versuch nicht als Arzt und Augenzeuge berichten kann.S.
Drei Jahre später erfolgte die Geburt cines zweiten Kindes und
diesmal liessen auch äussere Umstände es wünschenswerth erscheinen,
eine Amme zu umgehen. Die Bemühungen der Mutter, selbst zu nähren,schienen aber weniger Erfolg zu haben und peinlichere Erscheinungen
hervorzurufen als das erste Mal. Die junge Mutter erbrach alle Nahrung,
gerieth in Aufregung, wenn sie dieselbe an ihr Bett bringen sah, war
absolut schlaflos und so verstimmt über ihre Unfähigkeit, dass die beiden
Aerzte der Familie, die in dieser Stadt so allgemein bekannten Herren
Dr. Breuer und Lott diesmal von einer längeren Fortsetzung des
Versuches nichts wissen wollten. Sie riethen nur noch zu einem Ver-
such mit hypnotischer Suggestion und setzten durch, dass ich am Abend
„des vierten Tages als Arzt zu der mir befreundeten Frau geholt wurde.Ich fand sie mit hochgerötheten Wangen zu Bette liegend, wüthend
über ihre Unfähigkeit, das Kind zu nähren, die sich bei jedem Versuch
steigerte und der sie doch mit allen Kräften widerstrebte. Um das
sen Tag über nichts zu sichErbrechen zu vermeiden, hatte sie die
genommen. Das Epigastrium war vorgewölbt, auf Druck empfindlich,
die aufgelegte Hand fühlte den Magen unruhig, von Zeit zu Zeit er-
folgte geruchloses Aufstossen, die Kranke klagte über beständigen üblen
Geschmack im Munde. Die Aera des hochtympanitischen Magenschalles
war erheblich vergrössert. Ich wurde nicht als willkommener Retter
aus der Noth begrüsst, sondern offenbar nur widerwillig angenommen
und durfte auf nicht viel Zutrauen rechnen.Ich versuchte sofort, die Hypnose, durch Fixirenlassen bei bes
digem Einreden der Symptome des Schlafes herbeizuführen. Nach 3
Minuten lag die Kranke mit dem ruhigen Gesichtsausdruck einer tief
Schlafenden da. Ich weiss mich nicht zu erinnern, ob ich auf Katalepsie
und andere Erscheinungen von Folgsamkeit geprüft habe. Ich bediente
mich der Suggestion, um allen ihren Befürchtungen und den Empfin-
dungen, auf welche sich die Befürchtungen stützten, zu widersprechen.
„Haben Sie keine Angst, Sie werden eine ausgezeichnete Amme sein,
bei der das Kind prächtig gedeihen wird. Ihr Magen ist ganz ruhig,
Ihr Appetit ausgezeichnet, Sie sehnen sich nach einer Malzeit u. dgl.“
Die Kranke schlief weiter, als ich sie für einige Minuten verliess,
und zeigte sich amnestisch, nachdem ich sie erweckt hatte. Ehe ich⑱
fortging, musste ich noch einer besorgten Bemerkung des Mannes wider-
sprechen, dass die Hypnose wohl die Nerven einer Frau gründlichruiniren könne.
S.
Am nächsten Abend erfuhr ich, was mir als cin Unterpfand des
Erfolges galt, den Angehörigen und der Kranken aber merkwürdiger-
weise keinen Eindruck gemacht hatte. Die Wöchnerin hatte ohneBeschwerde zu Abend gegessen, ruhig geschlafen und auch am Vor-
mittag sich wie das Kind tadellos ernährt. Die etwas reichliche Mitta
malzeit war aber zuviel für sie gewesen. Kaum dass dieselbe aufgetragen
war, erwachte in ihr der frühere Widerwille, cs trat Erbrechen ein,
noch ehe sie etwas berührt hatte, das Kind anzulegen war unmöglich
geworden, und alle objectiven Zeichen waren bei meinem Erscheinenwieder wie am Vorabend. Mein Argument, dass jetzt alles gewonnen
, nachdem sie sich überzeugt hätte
und auch für einen halben Tag ge
war nun bei der zweiten Hypnose, die ebenso rasch zum Somnambul
mus führte, energischer und zuversichtlicher. Die Kranke werde fünf
Minuten nach meinem Fortgehen:die Ihrigen etwas unwillig anfahren:
wo denn das Essen bleibe, ob man denn die Absicht habe, sie auszu-
hungern, woher sie denn das Kind nähren solle, wenn sie nichts bekäme
u. dgl. Als ich am dritten Abend wiederkehrte, liess die Wóchnerin
keine weitere Behandlung zu. Es fehle ihr nichts mehr, sie habe aus-
gezeichneten Appetit und reichlich Milch für das Kind, das Anlegen
des Kindes mache ihr nicht die geringsten. Schwieri
Dem Manne war es etwas unheimlich er:
bald nach meinem Fortgehen so ungdass die Störung weichen könne
chen se. blieb wirkungslos. Ich
keiten u. dgl.
hienen, dass sie gestern Abendtüm nach Nahrung verlangt, und
der Mutter Vorwürfe gemacht habe, wie es niemals ihre Art gewesen.
Seither gehe aber alles gut.Ich hatte nichts mehr dabei zu thun. Die Frau náhrte das Kind
8 Monate lang, und ich hatte häufig Gelegenheit, mich freundschaftlich
von dem Wohlbefinden beider Personen zu irzeugen. Nur fand ich
es unverständlich und verdriesslich, dass von jener merkw
niemals zwischen uns die Rede war.Indess kam meine Zeit ein Jahr später, als ein drittes Kind die
selben Ansprüche an die Mutter stellte, welche sie ebenso wenig wie
die vorigen Male zu befriedigen vermochte. Ich traf die Frau in dem-
selben Zustande wie vorigesdigen Leistung
Jahr, und geradezu erbittert gegen sich,
dass sic gegen die Essabneigung und die anderen Symptome mit ihrem
Willen nichts vermôchte. Die Hypnose des ersten Abends hatte auch
nur den Erfolg, die Kranke noch hoffnungsloser zu machen. Nach der
zweiten Hypnose war der Symptomcomplex wiederum so vollständigS.
B
abgeschnitten, dass es einer dritten nicht bedurfte. Die Frau hat auch
dieses Kind, das heute 1, Jahre alt ist, ohne alle Beschwerde genåhrt
und sich des ungestörtesten Wohlbefindens erfreut.Angesichts dieser Wiederholung des Erfolges thauten nun auch
die beiden Eheleute auf und bekannten das Motiv, welches ihr Benehmen
Ich habe mich geschämt, sagte mir die Fragegen mich geleitet hatte, u,
dass so etwas wie die Hypnose nützen soll, da wo ich mit all” meiner
Willenskraft machtlos war. Ich glaube indess nicht, dass sie oder ihrMann ihre Abneigung gegen die Hypnose überwunden haben.
Ich gehe nun zu der Ertrierung über, welches wohl der psychische
hanismus “fener durch Suggestion behobenen Störung bei meine
Ich habe nicht wie in anderen Fällen, von denen cinMe
Patientin
andermal die Rede sein soll, directe Auskunft darüber, sondern bin daraufwar.
angewiesen, ihn zu errathen.
Es giebt Vorstellungen, mit denen cin Erwartungsaffeet verbunden
\ ss ich
Vorstellungen, da
ist, und zwar sind dics:lben von zweierlei Art,
. Vorsåtze und Vorstellungen, dassdies oder jenes thun werde, s
dies oder jenes mit mir :hehen wird,
Der daran gekniipfte Affect hängt von zwei Factoren ab, erstens von
der Bedeutung, den der Ausfall fir mich hat, zweitens von dem Grade
von Unsicherheit, mit welchem die Erwartung desselben behaftet ist.
Die subjective Unsicherheit, die Gegenerwartung, wird selbst durch
eine Summe von Vorstellungen dargestellt, welche wir als „peinliche
Contrastvorstellungen“ bezeichnen wollen. Für den Fall des Vorsatzeseigentliche Erwartungen.
lauten diese Contrastvorstellungen so: Es wird mir nicht gelingen, meinen
Vorsatz auszuführen, weil dies und jenes für mich zu schwer ist, ich
dafür dPersonen in ähnlicher Lage gleichfalls misslungen ist. Der andere Fall, der
es bestimmten anderen
10t bin; auch weiss ich,
der Erwartung, ist ohne Weiteres klar; «
auf der Erwägung aller anderen Möglichkeiter
bis auf die eine, die ich wünsche, Die weit
führt zu den Phobien, die in der Sym
Rolle s Wir verbleibeWas thut nun ein gesu
ielen.
cine so gros
bei den Vor
den Contrastvorstellungen gegen den Vorszen.
atz?ie Gegenerwartung beruht
1, die mir zustossen können,
re Erörterung dieses Falles
tomatologie der Neurosen
n bei der ersten Kategorie
mitndes Vorstellungsleben
Es unterdrückt und hemmt
ichkeit, wie es dem krä
dieselben nach Mög
tigen Selbstbewusssein der
S.
6
Gesundheit entspricht, schliesst sie von der Association aus, und dies
gelingt häufigcistenz der Contrastvor-
stellung gegen den Vorsatz meist nicht evident ist, sondern erst durch
die Betrachtung der Neurosen wahrscheinlich gemacht wird. Bei den
Neurosen hing
H
primär vorhanden cine Tendenz zur Ver timmung, zur Herabsetzung
des Selbstbewusstseins anzunehmen, wie wir sie als hôchstentwickeltes
und vereinzeltes Symptom bei der Melancholic kennen. Bei den Neu-
rosen fällt nun auch den Contrastvorstellungen gegen den Vorsatz eine
grosse Beachtung zu, vielleicht weil deren Inhalt zu der Stimmungs-in so hohem Grade, dass die E:
gen — und ich beziehe mich durchaus nicht allein auf die
sterie, sondern auf den Status nervosus im Allgemeinen, ist alsauf dem
farbung der Neurose passt, oder vielleicht in der Weise, d
Boden der Neurose Contrastvorstellungen entstehen, die sonst unter-
blieben wären.Diese Kräftigung der Contrastvorstellungen zeigt sich nun beim
einfachen Status nervosus auf die Erwartung bezogen, als allgemein pessi-
mistische Neisung, bei der Neurasthenie giebt sie dureh Association mit
pen zufilligsten Empfindungen Anlass zu den mannigfachen Phobien
der Neurastheniker. Auf die Vorsätze übertragen, erzeugt dieser Factor
jene Störungen, die als Folie de doute zusammengefasst werden, und
zum Inhaltdie das Misstrauen d
Individuums in dic eigene Leistung
haben. Gerade hier verhalten sich die beiden grossen Neurosen, Neu-rasthenie und Hysterie, in einer für jede charakteristischen Weise ver-
schieden. Bei der Neurasthenie wird die krankhaft gesteigerte Contrast-
vorstellung mit der Willensvorstellun,
knüpft, sie zieht sich von letzterer ab und erzeugt die auffällige Willens-
schwäche der Neurastheniker, die ihnen selbst bewusst ist. Der Vorgang
bei der Hysterie hingegen weicht in zwei Punkten ab, oder vielleicht nur in
Agen. Wie es der Neigung der Hysterie zur Dissociation deszu einem Bewusstseinsakt ver-
einem e
Bewusstseins entspricht, wird die peinliche Contrastvorstellung, die an-
scheinend gehemmt ist, ausser Asssociationmitdem Vorsatz gebracht und be-
steht, oft dem Kranken selbst unbewusst,als abgesonderte Vorstellung weiter.
Exquisit hysterisch ist es nun, dass sich diese gehemmte Contrastvor-
stellung, wenn es zur Ausführung des Vorsatzes kommen soll, mit der-
selben Leichtigkeit durch Innervation des Körpers objectivirt wie im
normalen Zustande die Willensvorstellung. Die Contrastvorstellung
gen als ,Gegenwille*, während sich der Kranke mit
Erstaunen eines entschiedenen aber machtlosen Willens bewusst ist.sagt, die beiden Momente im Grunde nur eines
etablirt sich sozu
Vielleicht sind, wie g
S.
1
etwa so, dass die Contrastvorstellung nur darum den Weg zur ( bjectivirung
findet, weil sie nicht durch die Verkniipfung mit dem Vorsatz selbst
gehemmt ist, wie sie diesen hemmt.*)In unserem Falle einer Mutter, die durch nervøse Schwierigkeit
am Säuggeschäft verhindert wird, hätte sich eine Neurasthenica etwa so
benommen: Sie hätte sich mit Bewusstsein vor der ihr gestellten Auf-
gabe gefürchtet, sich viel mit den möglichen Zwischenfållen und Gefahren
beschäftigt und nach vielem Zaudern, unter Bangen und Zweifeln doch
das Siugen ohne Schwierigkeit durchgeführt, oder wenn die Contrast-
vorstellung die Oberhand behalten hätte, es unterlassen, weil sie sich
dessen nicht getraut. Die Hysterica benimmt sich dabei anders, sie ist sich
ihrer Furcht vielleicht nicht bewusst, hat den festen Vorsatz es durch-zuführen und geht ohne Zögern daran. Dann aber benimmt sie sich
so, als ob sie den Willen hätte, das Kind auf keinen Fall zu säugen,
und dieser Wille ruft bei ihr alle jene subjectiven Symptome hervor,
welche eine Simulantin angeben wiirde, um sich dem 1ggeschäft zu
entziehen: Die Appetitlosigkeit, den Abscheu vor der Speise, die Schmerzen
beim Anlegen des Kindes und ausserdem, da der Gegenwille der be-
wussten Simulation in der Beherrschung des Körpers überlegen ist, eine
Reihe von objectiven Zeichen am Verdauungstrakt, welche die Simulation
nicht herzustellen vermag. Im Gegensatz zur Willensschwåche der
Neurasthenie besteht hier Willensperversion, und im Gegensatz zur
resignirten Unentschlossenheit dort, hier Staunen und Erbitterung iiber
den der Kranken unverständlichen Zwiespalt.Ich halte mich also fiir berechtigt, meine Kranke als eine hystérique
d'occasion zu bezeichnen, da sie unter dem Einfluss einer Gelegenheits-
ursache einen Symptomcomplex von so exquisit hysterisehem Mechanis-
mus zu produciren im Stande war. Als Gelegenheitsursache mag hier
die Erregung vor der ersten Entbindung oder die Erschöpfung nach
derselben angenommen werden, wie denn die erste Entbindung der
ten Eyschütterung entspricht, welcher der weibliche Organismus
ausgesetzt ist, in deren Gefolge auch die Frau alle neurotischen Symptome
zu produciren pflegt, zu denen die Anlage in ihr schlummert.Wahrscheinlich ist der Fall meiner Patientin vorbildlich und auf-
klärend für eine grosse Reihe anderer Fälle, in denen das Säuggeschäft) Zwischen Abfassung und Correctur dieser Zeilen ist mir eine Schrift von
11. Kaan zugekommen (Der neurasthenische Angstaffekt bei Zwangvorstellungen ete.,
Wien 1893), welche analoge Ausführungen enthält.S.
8
oder ähnliche Verrichtungen durch nervöse Einflüsse verhindert werden.
hen Mechanismus des von mir beschriebenenDa ich aber den psych
Falles blos erschlossen habe, beeile ich mich mit der Ver
zusetzen, dass es mir durch Ausforschung der Kranken in der Hypnose
wiederholt gelungen ist, einen derartigen psychischen Mechanismus für
hysterische Symptome direkt nachzuweisen.*)leh führe nur eines der auffälligsten Beispiele hier an: Vor Jahren
icherung fort-
ehandelte ich cine hysterisehe Dame, die ebenso willensstark in all
den Stüeken war, in welche sich ihre Krankheit nicht eingemengt hatte,
wie andererseits schwer belastet mit manigfaltigen und drückenden
iysterisehen Verhinderungen und Unfihigkeiten. Unter anderem fiel
sie dureh ein cigenthümliches Geräusch auf, welches sie tickartig in
tion einschob, und das ich als ein besonderes Zungen-ihre Conver.
sehnalzen mit plötzlichem Durchbruch des krampfhaften Lippenverschlusses
jesehreiben möchte. Nachdem ich cs wochenlang mitangehórt hatte,h einmal, wann und bei welcher Gelegenheit es ent-
erkundigte ich mic
standen sei. Die Antwort war: „Ich weiss nicht wann, o schon seit
x Zeit.“ Ich hielt es darum auch für einen echten Tick, bis esang
mir einmal einfiel, der Kranken in tiefer Hypnose dieselbe Frage zu
stellen. In der Hypnose verfügte diese Kranke — ohne dass man sie
dazu suggeriren musste — sofort über ihr ganzes Erinnerungsvermögen;ich möchte sagen über den ganzen, im Wachen eingeengten Umfang
ihres Bewusstseins. Sie antwortete prompt: „Wie mein kleineres Kind
so krank war, den ganzen Tag Krämpfe gehabt hatte und endlich am
Abend eingeschlafen war, und wie ich dann am Bette sass und mir
dachte: Jetzt musst Du aber recht ruhig sein, um sie nicht aufzuwecken,
da . . . . bekam ich das Schnalzen zum ersten Mal. Es verging dann
wieder; wie wir aber viele Jahre später einmal Nachts durch den Wald
bei fuhren, und cin grosses Gewitter losbrach und der Blitz gerade
in einen Baumstamm vor uns am Wege einschlug, so dass der Kutsch
kreissen musste, und ich mir dachte: Jotzt darfst Dudie Pferde zurü
nur ja nicht ‘schreien, sonst werden die Pferde scheu, da 一 kam es
wieder und ist seitdem geblieben.“ Ich konnte mich überzeugen, dass
jenes Sehnalzen kein echtes Tick war, denn es war von dieser Zurück-
führung auf seinen Grund an beseitigt und blieb so durch Jahre, so) Vgl. die gleichzeitig erscheinende vorlånfige Mittheilung von J. Breuer
und S. Freud über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene in
Mendel's Centralblatt No. 1 und 2, 1893.S.
9
ange ich die Kranke verfolgen konnte. Ich hatte aber damals zum
ersten Male Gelegenheit, die Entstehung hysterischer Symptome durch
die Objectivirung der peinlichen Contrastvorstellung, durch den Gegen-
willen zu erfassen. Die durch Angst und Krankenpflege erschôpfte
Mutter nimmt sich vor, ja keinen Laut über ihre Lippen zu bringen,
um das Kind nicht in dem so spät eingetretenen Schlaf zu stören. In
ihrer Erschöpfung erweist sich die begleitende Contrastvorstellung, sie
werde es doch thun, als die stärkere, gelangt zur Innervation der Zunge,
welche zu hemmen der Vorsatz lautlos zu bleiben, vielleicht vergessen
hatte, durchbricht den Verschluss der Lippen und erzeugt ein Geräusch,
welches sich von nun an, zumal seit einer Wiederholung desselbenVorganges, für viele Jahre fixirt.
Das Verstindniss dieses Vorganges ist kein vollommenes, so lange
nicht ein bestimmter Einwand erledigt worden ist. Man wird fragendürfen, wie es komme, dass bei einer allgemeinen Erschöpfung — die
doch die Disposition får jenen Vorgang darstellt — gerade die Contrast-
vorstellung die Oberhand gewinnt? Ich möchte darauf mit der Annahme
erwidern, dass diese Erschöpfung eine blos partielle ist. Erschôpft
sind diejenigen Elemente des Nervensystems, welche die materiellen
Grundlagen der zum primären Bewusstsein associirten Vorstellungen
sind; die von dieser Associationskette — des normalen Ich — aus-
geschlossen, die gehemmten und unterdriickten Vorstellungen sind nicht
hen Disposition.erschöpft und überwiegen daher im Momente der hyster
Jeder Kenner der Hysterie wird aber bemerken, dass der hier
hegeschilderte psychische Mechanismus nicht blos vereinzelte hysteris
Zufálle sondern grosse Stücke des Symptombildes der Hysterie sowie
einen geradezu auffälligen Charakterzug derselben aufzuklären vermag.
Halten wir fest, dass es die peinlichen Contrastvorstellungen, welche
das normale Bewusstsein hemmt und zurückweist, waren, die im Momente
der hysterischen Disposition hervortraten und den Weg zur Ki
innervation fanden, so haben wir den Schlüssel auch zum Vers
der Eigenthiimlichkeit hysterischer Anfallsdelirien in der Hand. Es
ist nicht zufillig, dass die hysterisehen Delirien der Nonnen in den
Epidemien des Mittelalters aus schweren Gotteslåsterungen und un-gerade bei wohlerzogenen und
geziigelter Erotik bestanden, oder dass
artigen Knaben, wie Charcot (Leçons du Mardi, vol. I.) hervorhebt,
hysterische Anfälle vorkommen, in denen jeder Gassenbiiberei, jeder
Bubentollheit und Unart freier Lauf gelassen wird. Die unterdrücktenS.
10
und mühsam unterdrückten Vorstellungsreihen sind es, die hier in Folge
einer Art von Gegenwillen in Aktion umgesetzt werden, wenn die
Person der hysterischen Erschöpfung verfallen ist. Ja der Zusammen.
hang ist vielleicht mitunter ein intimerer, indem gerade durch die miihe-
volle Unterdriickung jener hysterische Zustand erzeugt wird, — auf dessen
psychologische Kennzeichnung ich hier iibrigens nicht eingegangen bin.
Ich habe es hier nur mit der Erklärung zu thun, warum 一 jenen
Zustand hysterischer Disposition vorausgesetzt — die Symptome so aus-fallen, wie wir sie thatsichlich beobachten.
Im Ganzen verdankt die Hysterie diesem — Hervortreten des
Gegenwillens jenen dümonischen Zug, der ihr so häufig zukommt, der
sich darin åussert, dass die Kranken gerade dann und dort etwas nicht
kónnen, wo sie es am sehnlichsten wollen, dass sie das genaue Gegentheil von
dem thun, um was man sie gebeten hat, und dass sie, was ihnen am
theuersten ist, beschimpfen und verdächtigen müssen. Die Character-
perversion der Hysterie, der Kitzel, das schlechte zu thun, sich krank
stellen zu müssen, wo sie sehnlichst die Gesundheit wünschen — wer
hysterische Kranke kennt, weiss, dass dieser Zwang oft genug die
tadellosesten Ckaraetere betrifft, die. ihren Contrastvorstellungen für
eine Zeit hilflos preisgegeben sind.Die Frage: Was wird aus den gehemmten Vorsätzen? scheint für
das normale Vorstellungsleben sinnlos zu sein. Man möchte darauf
antworten, sie kommen eben nicht zu Stande. Das Studium der Hysteriezeigt, dass sie dennoch zu Stande kommen, d. h. dass die ihnen ent-
sprechende materielle Veränderung erhalten bleibt, und dass sie auf-
bewahrt werden, in einem Art von Schattenreich eine ungeahnte Existenz
fristen, bis sie als Spuk hervortreten und sich des Körpers bemichtigen,
der sonst dem herrschenden Ichbewusstsein gedient hat.Ich habe vorhin gesagt, dass dieser Mechanismus ein exquisit
hysterischer ist; ich muss hinzufügen, dass er nicht ausschliesslich der
Hysterie zukommt. Er findet sich in auffälliger Weise beim Tick
convulsif wieder, einer Neurose, die soviel symptomatische Aehnlichkeit
mit der Hysterie hat, dass ihr ganzes Bild als Theilerscheinung der
Hysterie auftreten kann, so dass Chareot, wenn ich seine Lehren da-
rüber nicht von Grund aus missverstanden habe, nach lingererer
Sonderung kein anderes Unterscheidungsmerkmal gelten lassen kann,
als dass der hysterische Tick sich wieder einmal lost, der echte fort-
bestehen bleibt. Das Bild eines schweren Tick convulsif setzt sichS.
11
bekanntlich zusammen aus unwillkiirlichen Bewegungen, häufig (nach
Charcot und Guinon immer) vom Character der Grimassen oder
einmal zweckmässig gewesener Verrichtungen, aus Koprolalie, Echolalalie
und Zwangsvorstellungen aus der Reihe der Folie de doute. Es ist
nun überraschend zu hören, dass Guinon, dem das Eingehen in den
psychischen Mechanismus dieser Symptome ferne |t, von einigen seiner
Kranken berichtet, sie seien zu ihren Zuckungen und Grimasen auf
dem Wege der Objectivirung der Contrastvorstellung gelangt. DieseKranken gaben an, sie hätten bei einer bestimmten Gelegenheit einen
ähnlichen Tick oder einen Komiker, der seine Mienen absichtlich so
verzerrte, gesehen und dabei die Furcht empfunden, diese hässlichen
B
wirklich mit der Nachahmung begonnen. Gewiss entsteht nur eine
kleiner Theil der unwillkürlichen Bewegungen bei den Tickern auf
diese Weise. Dagegen könnte man versucht sein, diesen Mechanismus der
Entstehung der Koprolalie unterzulegen, mit welchem Terminus bekanntlich
das unwillkiirliche, besser widerwillige Hervorstossen der unflätigsten Worte
bei den Tickern bezeichnet wird. Die Wurzel der Koprolalie wäre
die Wahrnehmung des Kranken, dass er es nicht unterlassen kann,
gewisse Laute, meist ein hm, hm, hervorzustossen. Daran würde sich die
Furcht schliessen, auch die Herrschaft über andere Laute, besonders
über jene Worte zu verlieren die der wohlerzogene Mensch auszu-
sprechen sich hütet, und diese Furcht würde zur Verwirklichung
des Gefürchteten führen. Ich finde bei Guinon keine Anamnese,
welche diese Vermuthung bestätigt und habe selbst nie Gelegenheit
gehabt, einen Kranken mit Koprolalie auszufragen. Dagegen finde
ich bei demselben Autor den Bericht über einen anderen Fall von Tick,
bei dem das unwillkürlich ausgesprochene Wort ausnahmsweise nicht dem
Sprachschatz der Koprolalie angehörte. Dieser Fall betrifft einen er-
wachsenen Mann, der mit dem Ausruf „Maria“ behaftet war. Er hatte
als Schüler eine Schwärmerei für ein Mädchen dieses Namens gehabt,
die ihn damals ganz in Anspruch nahm, wie wir annehmen wollen, zur
Neurose disponirte. Damals begann er den Namen seiner Angebetenen
mitten in den Schulstunden laut zu rufen, und dieser Name verblieb
ihm als Tick, nachdem seine Liebschaft seit einem halben Menschenleben
überwunden war. Ich denke, es kann kaum anders zugegangen sein,
als dass das ernsthafteste Bemühen, den Namen geheim zu halten in einem>wegungen nachahmen zu müssen. Von da an hätten sie auch
Moment besonderer Erregung in den Gegenwillen umschlug, und dass von
S.
12
lich wie im Falle meiner zweiten Kranken.
da ab der Tick verblieb,
t die Erklärung dieses Beispieles richtig, so liegt die Versuchung
nahe, die eigentlich koprolalischen Tick auf denselben Mechanismus
zurückzuführen, denn die unflåthigen Worte sind Geheimnisse, die wir
alle kennen, und deren Kenntniss wir stets vor einander zu verbergen
streben.*)*) Ich deute hier nur an, dass es lohnend sein dürfte, der Objektivirung des
Gegenwillens auch ausserhalb der Hysterie und des Tick nachzuspiiren, wo sie im
Rahmen der Norm so häufig vorkommt.
13.156-VS
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