Ein Fall von Muskelatrophie mit ausgebreiteten Sensibilitätsstörungen (Syringomyelie). (Schluss) 1885-002/1885.2
  • S.

    Aus der IV. med. Abtheilung des Herrn Primarius Scholz.

    Ein Fall von Muskelatrophie mit ausgebreite-
    ten Sensibilitälsstörungen (Syringomyelie).

    Von Dr. SIGM. FREUD,

    Sekundararzt im Wiener Allgemeinen Krankenhause.

    (Schluss.)

    C. Literaturnachweis.
    Die pathologische Anatomie hat uns nur eine Erkrankungsform des Rückenmarkes
    kennen gelehrt, welche den ausgesprochenen Anforderungen
    genügt: die zentrale Gliawucherung mit Höhlenbildung, oder das „zentrale
    Gliom mit Syringomyelie“1. Die Entwicklung unserer Anschauungen
    und Erfahrungen über diese Affektion des Rückenmarkes ist in Kürze
    folgende2: Zunächst ergab sich als zufälliger Befund bei Leichenöffnungen,
    dass im Rückenmarke eine Erweiterung des Zentralkanales bestehen
    könne, ohne sich durch Symptome während des Lebens der betreffenden
    Individuen zu verrathen. Dieser Zustand wurde mit dem Namen
    Hydromyelie bezeichnet und für kongenital angesehen. Späterhin machte
    man die Erfahrung, dass bei Personen, welche mannigfache schwere Erscheinungen
    während des Lebens gezeigt hatten, eine zentrale Höhlenbildung
    im Rückenmarke der anscheinend einzige abnorme Befund sei. Es
    lag nahe, diese Höhlenbildung, welche man als Erweiterung des normalen
    Zentralkanales auffasste, für eine erworbene zu halten und in Beziehung
    zu den beobachteten Krankheitssymptomen zu bringen. Dieser Schritt ist
    zuerst von H a l l o p e a u 3 gemacht worden, welcher auf derartige Befunde
    die Lehre von der Sclérose periependymaire mit sekundärer Erweiterung
    des Zentralkanales gründete. Der Gedanke, in der zentralen Höhlenbildung
    ein Produkt eines pathologischen Prozesses zu sehen, wurde
    von nun an festgehalten; aber S i m o n 4 und We s t p h a l5 widerlegten
    gleichzeitig die Auffassung dieser Höhlen und Kanäle als Erweiterungen
    des Zentralkanales, indem sie in mehreren Fällen den unveränderten Zentralkanal
    ventral von der pathologischen Kanalbildung nachwiesen. Damit
    war die Berechtigung gegeben, die erworbene Syringomyelie von dem kongenitalen
    Zustande der Hydromyelie abzutrennen. Die Aufmerksamkeit
    lenkte sich bald auf das Gewebe, welches die Wandung des neugebildeten
    Kanales darstellt, und Fr. S c h u l t z e 6 erbrachte den Beweis, dass die
    pathologische Höhlenbildung durch Zerfall innerhalb gewucherter Gliamasse
    zu Stande kommt, da die erstere immer mit letzterem Prozesse vereinigt
    gefunden wird, und an verschiedenen Stellen desselben Präparates
    bald nur Gliawucherung, bald solche mit beginnender oder vorgeschrittener
    Höhlenbildung aufzeigbar ist. Es wurde ferner als charakteristisch für
    diesen Prozess ermittelt, dass er zumeist im Hals- und oberen Brusttheile
    des Rückenmarkes beginnt und daselbst vorwiegend die hintere graue
    Substanz zerstört, aber auch gelegentlich in die Vorderhörner oder in die
    weisse Substanz übergreift. Unentschieden bleibt derzeit, ob a l l e Fälle
    von Höhlenbildung im Rückenmarke in der von S i m o n , We s t p h a l
    und Fr. S c h u l t z e entwickelten Weise aufzufassen sind, und ferner,
    ob nicht der Prozess der zentralen Gliose mit Syringomyelie etwa doch an
    kongenitale Missbildung und Entwicklungshemmung des Zentralkanales
    anknüpft. Letztere Ansicht wurde seinerzeit von L e y d e n 7 vertreten,
    durch die Untersuchungen von P i c k und K a h l e r 8 gestützt, und hat
    erst neuerdings die Zustimmung ihres früheren Gegners We s t p h a l 9
    erworben.

    Die pathologisch-anatomischen Eigenthümlichkeiten der Syringomyelie
    (Lokalisation im Hals- und oberen Brustmarke, vorzugsweise im hinteren
    Antheile der grauen Substanz) erfüllen genau die durch den Befund unseres
    Falles gestellten Anforderungen. Fragen wir nun, ob der Symptomenkomplex
    unseres Falles mit den durch die (zentrale Gliose mit) Syringomyelie
    hervorgerufenen Krankheitsbildern übereinstimmt.

    Stellen wir die in der Literatur aufgezeichneten Fälle pathologischer
    Höhlenbildung im Rückenmarke (mit Vernachlässigung der Frage nach dem
    Ursprunge der Höhlenbil-

    1 F. S c h u l t z e . „Ueber Spalt-, Höhlen- und Gliombildung im Rückenmarke
    und in der Medulla oblongata.“ Virchow’s Archiv 1882, Band 87.

    2 Vergl. L e y d e n , „Ueber zentrale Höhlenbildung im Rückenmarke“, in dessen
    Klinik der Rückenmarkskrankheiten. II. 1875.

    3 Note sur un fait de Sclérose diffuse et de la moëlle avec Lacune au centre de cet
    organ, alteration de la substance grise, atrophie musculaire. Gaz. méd. de Paris
    1870. u. a. a. o.

    4 Beiträge zur Pathologie und pathologischen Anatomie des zentralen Nervensystems.
    Arch. f. Psych. V.

    5 „Ueber einen Fall von Höhlen- und Geschwulstbildung im Rückenmarke mit
    Erkrankung des verlängerten Markes und einzelner Hirnnerven.“ Arch. f. Psych. V.

    6 Fr. S c h u l t z e l. c.

    7 „Ueber Hydromyelus und Syringomyelie.“ Virchow’s Archiv 1876, Band 68.

    8 P i c k . „Ueber die Entstehung eines mehrfachen Zentralkanales.“ Archiv f.
    Psych. VIII, 1878. – P i c k und K a h l e r . „Beiträge zur Pathologie und
    pathologischen Anatomie des Zentralnervensystems.“ Separatausgabe, 1879.

    9 A contribution to the study of Syringomyelia (Hydromyelia), Brain, vol. VI, 1883.

  • S.

    dung) zusammen, so ergibt sich, dass die Syringomyelie verlaufen kann:

    1. symptomenlos;

    2. unter dem Bilde von Parästhesien10;

    3. einer (partiellen) Sensibilitätsaufhebung mit trophischen und vasomotorischen
    Störungen11;

    4. einer Muskelatrophie oder atrophischen Lähmung (begleitet von
    Schmerzen und Parästhesien)12;

    5. einer Kombination von Muskelatrophie und Sensibilitätsstörung13;

    6. unter dem diffusen Bilde eines Rückenmarkstumors14.

    Die Mannigfaltigkeit der durch den Prozess der Syringomyelie erzeugten
    Krankheitsbilder erklärt sich befriedigend aus der wechselnden Ausdehnung
    desselben und sein Uebergreifen auf die Vorderhörner oder Theile der weissen
    Substanz, erschwert aber natürlicher Weise die sichere Diagnose der Syringomyelie.

    Fr. S c h u l t z e hat aber in seiner wiederholt hier zitirten Abhandlung
    einen klassischen Einzelfall herausgegriffen, in welchem diese Diagnose
    ermöglicht wird: w e n n n ä m l i c h e i n e At r o p h i e
    d e r o b e r e n E x t r e m i t ä t e n m i t p a r t i e l l e r
    S e n s i b i l i t ä t s s t ö r u n g u n d t r o p h i s c h e n S t ö -
    r u n g e n o h n e S y m p t o m e v o n L e i t u n g s u n t e r -
    b r e c h u n g i m R ü c k e n m a r k e v o r l i e g t . Es ist dies
    die eigenthümliche Kombination von Symptomen, welche unseren Fall
    auszeichnet.

    Auf Grund der S c h u l t z e ’schen Erörterungen haben in den
    letzten Jahren K a h l e r 1 5 , B e r n h a r d t 1 6 und R e m a k 1 7 je einen
    Fall veröffentlicht, in welchem sie die Diagnose der Syringomyelie bei Lebzeiten
    der Kranken für gestattet hielten. In diesem Vorgehen und in einer
    in B e r n h a r d t ’s Mittheilung enthaltenen Aufforderung finde ich die
    Rechtfertigung für meine eigene Mittheilung einer Krankengeschichte und
    Diagnose ohne Sektionsbefund, und kann nur bedauern, dass ich nicht Gelegenheit
    hatte, meinen Kranken eingehender zu untersuchen und durch
    längere Zeit zu beobachten. Dem S c h u l t z e ’schen Krankheitsbilde entsprechen
    von den ohne anatomische Untersuchung publizirten Fällen nur
    der R e m a k ’sche und der unserige in allen Zügen; bei B e r n h a r d t ’s
    Krankem fehlte die Muskelatrophie18, und in K a h l e r ’s Beobachtung war
    die wichtige Bedingung der mangelnden Leitungsunterbrechung nicht erfüllt,
    da Parese der unteren Extremitäten vorhanden war; an den oberen
    Extremitäten bestand anstatt Atrophie spastische Lähmung. Es ist übrigens
    klar, dass das S c h u l t z e ’sche Krankheitsbild einem Zustande entspricht,
    in welchem sich die Affektion strenge auf die graue Substanz beschränkt,
    und bei Uebergreifen des Prozesses auf die weisse Substanz eines seiner am
    schärfsten charakterisirenden Merkmale, das Fehlen der Leitungsunterbrechung
    einbüssen muss.

    Im Folgenden stelle ich die mir bekannt gewordenen drei Fälle zusammen,
    welche „das S c h u l t z e ’sche Krankheitsbild“ in grosser Reinheit
    zeigen:

    Fall von Motorische
    Störungen
    Sensible
    Störungen
    Trophische
    Störungen
    Bemerkungen
    Fr.
    S c h u l t z e
    (l. c. IV),
    37jähr. Frau.
    Atrophie und Parese
    beider Arme,
    besonders der
    linken Hand. Zu
    Anfang fibrilläre
    Zuckungen.
    Anästhesie am
    oberen Rumpfe u.
    an beid. Armen;
    Analgesie am
    ganzen Körper
    mit Ausnahme des
    Gesichtes.
    Blasenbildungen
    an der rechten
    Hand.
    Vorübergehend
    bulbäre
    Symptome. –
    Herabsetzung der
    Sehnenreflexe
    am link. Beine.
    – S y r i n -
    g o m y e l i e
    u n d G l i o -
    m a t o s e .
    E. R e -
    m a k ,
    40jähr. Mann,
    Schlosser.
    Atrophie des
    linken Vorderarmes
    und der
    Hand, fibrilläre
    Zuckungen im
    linken Oberarme
    u. Schulter.
    Mässige Störung der
    Tastempfindungen
    links, Aufhebung d.
    Temperatursinnes
    u. Herabsetzung d.
    Schmerzempfind.
    links am oberen
    Rumpfe und ganzen
    Arme.
    Blasenbildung
    (Herpes
    Zoster?) im
    Bereiche der
    Sensibilitätsstörung;
    Affektion des
    linken Schultergelenkes.
    Kein Anzeichen
    von Affektion
    der Beine. –
    Entartungsreaktion
    in kleinen
    Handmuskeln.
    – Beginn vor 11
    Jahren.

    U n s e r
    F a l l ,
    36jähr. Mann,
    Weber.
    Atrophie der
    Schulterrumpfmuskeln
    beiderseits
    und des
    linken Oberarmes.
    Anästhesie am link.
    Vorderarme u. der
    Hand, Analgesie u.
    Temperatursinnslähmung
    am ganzen
    Rumpfe bis zur 6.
    Rippe u. an beid.
    Armen.
    Abszessbildungen
    am linken
    Handgelenke.
    Neigung zu
    Hautnekrosen.
    Keine Affektion
    der Beine. Seit
    zwei Jahren.

    10 Fall von S c h u l t z e (Virch. Arch., Bd. 87) Nr. II.

    11 Fall von S c h ü p p e l (ein Fall von allgemeiner Anästhesie. Arch. f. Heilkunde
    1874, Bd. 15). – Fall von F ü r s t n e r und Z a c h e r (zur Pathologie und
    Diagnostik der spinalen Höhlenbildung. Arch. f. Psych. 1883, Band 14). – Fall
    von B e r n h a r d t (Beitrag zur Lehre von der sogenannten „partiellen“ Empfindungslähmung.
    Berl. klinische Wochenschrift 1884), ohne Sektion.

    12 Fall von S c h ü p p e l (über Hydromyelus. Archiv für Heilk. 1865, Band 6).
    Fall von G r i m m (ein Fall von progressiver Muskelatrophie. Virchow’s Arch.
    1869, Bd. 48).
    Fall von H a l l o p e a u (l. c.).
    Fall von We s t p h a l (über einen Fall von Höhlen- und Geschwulstbildung
    etc. Arch. f. Psych. V, 1875).
    Fall von K a h l e r u. P i c k (Beiträge etc., p. 110) Beobachtung III.
    Fall von S c h u l t z e (l. c. Fall V, amyotrophische Lateralsklerose, nach
    E r b ).

    13 Fall von G u l l - C l a r k e 1862 (nach L e y d e n , Klinik der Rückenmarkskrankheiten).
    Fall von Ludwig M a y e r (ein Fall von allgemeiner, progressiver Muskelatrophie.
    Virch. Arch. 1863, Bd. 27).
    Fall von Fr. S c h u l t z e (l. c.) Beobachtung IV.
    Fall von K a h l e r (Paraplegia cervicalis mit eigenthümlichen Sensibilitätsstörungen,
    Prager med. Wochenschr. 1882) ohne Sektion.
    Fall von R e m a k (ein Fall von zentraler Gliomatose (Syringomyelie) des
    Halsmarkes. Deutsche med. Wochenschr. 1884) ohne Sektion.

    14 Siehe die Zusammenstellung bei R e i s i n g e r (über das Gliom des Rückenmarkes.
    Beschreibung eines hiehergehörigen Falles mit anatomischer Untersuchung
    von Prof. M a r c h a n d . Virch. Arch. 1884, Bd. 98).
    Weder die oben gegebene Uebersicht, noch die hier stehenden Belege können
    Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Letzterer Mangel mag durch die Unsicherheit
    entschuldigt werden, welche Fälle von Höhlenbildung und von Gliose
    des Rückenmarkes hieher gerechnet werden dürfen. Bei der Unvollständigkeit
    einiger älterer Beobachtungen und den fliessenden Uebergängen (insbesondere
    zwischen Krankheitsbild 4 und 5) war es auch nicht leicht, den einzelnen Fall
    treffend zu subsumieren.

    15 Kasuistische Beiträge V, Paraplegia cervicalis mit eigenthümlichen Sensibilitätsstörungen.
    Prager med. Wochenschr. 1882.

    16 Beitrag zur Lehre von der sogenannten „partiellen“ Empfindungslähmung. Berl.
    klin. Wochenschr. 1884.

    17 Ein Fall von zentraler Gliomatose (Syringomyelie) des Halsmarkes. Deutsche
    med. Wochenschr. 1884.

    18 Weshalb auch die Diagnose von R e m a k (l. c.) angefochten wurde.

  • S.

    Wie ersichtlich, stimmen die drei Krankheitsfälle, abgesehen von jenen
    Symptomen, welche das S c h u l t z e ’sche Krankheitsbild ausmachen,
    auch in einzelnen anderen Zügen zusammen wie: das örtliche Uebergreifen
    der Sensibilitätsstörung über die Muskelaffektion und die stärkere Beeinträchtigung
    der Schmerz- und Temperaturempfindung im Vergleiche zu den
    taktilen Empfindungsqualitäten.