Ein religiöses Erlebnis 1928-001/1928.3
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    EIN RELIGIÖSES ERLEBNIS

    Im Herbst 1927 veröffentlichte ein deutschamerikanischer Jour-
    nalist, den ich gern bei mir gesehen hatte (G. S. Viereck), eine
    Unterhaltung mit mir, in der auch mein Mangel an religiöser
    Gläubigkeit und meine Gleichgültigkeit gegen eine Fortdauer nach
    dem Tode berichtet wurde. Dies sogenannte Interview wurde viel
    gelesen und brachte mir unter anderem nachstehende Zuschrift eines
    amerikanischen Arztes ein:

    „... Am meisten Eindruck machte mir Ihre Antwort auf die Frage, ob
    Sie an eine Fortdauer der Persönlichkeit nach dem Tode glauben. Sie sollen
    geantwortet haben: Darauf mach’ ich mir gar nichts.

    Ich schreibe Ihnen heute, um Ihnen ein Erlebnis mitzuteilen, das ich in
    dem Jahr hatte, als ich meine medizinischen Studien an der Universität in X.
    vollendete. Eines Nachmittags hielt ich mich gerade im Seziersaal auf, als
    die Leiche einer alten Frau hereingetragen und auf einen Seziertisch gelegt
    wurde. Diese Frau hatte ein so liebes, entzückendes Gesicht (**this sweet
    faced woman**), daß es mir einen großen Eindruck machte. Der Gedanke
    blitzte in mir auf: Nein, es gibt keinen Gott; wenn es einen Gott gäbe,
    würde er nie gestattet haben, daß eine so liebe alte Frau (**this dear old woman**)
    in den Seziersaal kommt.

    Als ich an diesem Nachmittage nach Hause kam, hatte ich unter dem
    Eindruck des Anblicks im Seziersaal bei mir beschlossen, nicht wieder in
    eine Kirche zu gehen. Die Lehren des Christentums waren mir auch vorher
    schon ein Gegenstand des Zweifels gewesen.

    Aber während ich noch darüber nachsann, sprach eine Stimme in meiner
    Seele, ich sollte mir doch meinen Entschluß noch reiflich überlegen. Mein

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    Schriften aus den Jahren 1926–1928

    Geist antwortete dieser inneren Stimme: Wenn ich die Gewißheit bekomme,
    daß die christliche Lehre wahr und die Bibel das Wort Gottes ist, dann werde
    ich es annehmen.

    Im Verlauf der nächsten Tage machte Gott es meiner Seele klar, daß die
    Bibel Gottes Wort ist, daß alles, was über Jesus Christus gelehrt wird, wahr
    ist, und daß Jesus unsere einzige Hoffnung ist. Nach dieser so klaren Offen-
    barung nahm ich die Bibel als das Wort Gottes und Jesus Christus als den
    Erlöser meiner selbst an. Seither hat Gott sich mir noch durch viele un-
    trügliche Zeichen geoffenbart.

    Als ein wohlwollender Kollege (**brother physician**) bitte ich Sie, Ihre Ge-
    danken auf diesen wichtigen Gegenstand zu richten und versichere Ihnen,
    wenn Sie sich offenen Sinnes damit beschäftigen, wird Gott auch Ihrer Seele
    die Wahrheit offenbaren, wie mir und so vielen anderen ...“

    Ich antwortete höflich, daß ich mich freue zu hören, es sei ihm
    durch ein solches Erlebnis möglich geworden, seinen Glauben zu
    bewahren. Für mich habe Gott nicht so viel getan, er habe mich
    nie eine solche innere Stimme hören lassen und wenn er sich —
    mit Rücksicht auf mein Alter — nicht sehr beeile, werde es nicht
    meine Schuld sein, wenn ich bis zum Ende bleibe, was ich jetzt
    sei — an infidel jew.

    Die liebenswürdige Entgegnung des Kollegen enthielt die Ver-
    sicherung, daß das Judentum kein Hindernis auf dem Wege zur
    Rechtgläubigkeit sei und erwies dies an mehreren Beispielen. Sie
    gipfelte in der Mitteilung, daß eifrig für mich zu Gott gebetet
    werde, er möge mir faith to believe, den rechten Glauben, schenken.

    Der Erfolg dieser Fürbitte steht noch aus. Unterdes gibt das
    religiöse Erlebnis des Kollegen zu denken. Ich möchte sagen, es
    fordert den Versuch einer Deutung aus affektiven Motiven heraus,
    denn es ist an sich befremdend und besonders schlecht logisch be-
    gründet. Wie bekannt, läßt Gott noch ganz andere Greuel geschehen,
    als daß die Leiche einer alten Frau mit sympathischen Gesichtszügen
    auf den Seziertisch gelegt wird. Dies war zu allen Zeiten so und
    kann zur Zeit, als der amerikanische Kollege seine Studien absolvierte,
    nicht anders gewesen sein. Als angehender Arzt kann er auch nicht

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    Ein religiöses Erlebnis

    so weltfremd gewesen sein, von all dem Unheil nichts zu wissen.
    Warum mußte also seine Empörung gegen Gott gerade bei jenem
    Eindruck im Seziersaal losbrechen?

    Die Erklärung liegt für den, der gewohnt ist, die inneren Er-
    lebnisse und Handlungen der Menschen analytisch zu betrachten,
    sehr nahe, so nahe, daß sie sich in meiner Erinnerung direkt in
    den Sachverhalt einschlich. Als ich einmal in einer Diskussion den
    Brief des frommen Kollegen erwähnte, erzählte ich, er habe geschrieben,
    daß ihn das Gesicht der Frauenleiche an seine eigene Mutter erinnert
    habe. Nun, das stand nicht in dem Brief, — die nächste Erwägung
    sagt auch, das kann unmöglich darin gestanden sein, — aber das
    ist die Erklärung, die sich unter dem Eindruck der zärtlichen Worte,
    mit denen die alte Frau bedacht wird (**sweet faced dear old woman**)
    unabweisbar aufdrängt. Durch die Erinnerung an die Mutter
    geweckten Affekt darf man dann für die Urteilsschwäche des jungen
    Arztes verantwortlich machen. Kann man sich von der Unart der
    Psychoanalyse nicht frei machen, Kleinigkeiten als Beweismaterial
    heranzuziehen, die auch eine andere, weniger tiefgreifende Erklärung
    zulassen, so wird man auch daran denken, daß der Kollege mich
    später als **brother physician** anspricht, was ich in der Übersetzung
    nur unvollkommen wiedergeben konnte.

    Man darf sich also den Hergang in folgender Art vorstellen:
    Der Anblick des nackten (oder zur Entblößung bestimmten) Leibes einer
    Frau, die den Jüngling an seine Mutter erinnert, weckt in ihm die
    aus dem Ödipuskomplex stammende Mutters sehnsucht, die sich auch
    sofort durch die Empörung gegen den Vater vervollständigt. Vater
    und Gott sind bei ihm noch nicht weit auseinandergerückt, der
    Wille zur Vernichtung des Vaters kann als Zweifel an der Existenz
    Gottes bewußt werden und sich als Entrüstung über die Miß-
    handlung des Mutterobjekts vor der Vernunft legitimieren wollen.
    Dem Kind gilt doch in typischer Weise als Mißhandlung, was der
    Vater im Sexualverkehr der Mutter antut. Die neue, auf das religiöse
    Gebiet verschobene Regung ist nur eine Wiederholung der Ödipus-

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    situation und erfährt darum nach kurzer Zeit dasselbe Schicksal.
    Sie erliegt einer mächtigen Gegenströmung. Während des Konflikts
    wird das Verschiebungsniveau nicht eingehalten, von Argumenten
    zur Rechtfertigung Gottes ist nicht die Rede, es wird auch nicht
    gesagt, durch welche untrügliche Zeichen Gott dem Zweifler seine
    Existenz erwiesen hat. Der Konflikt scheint sich in der Form einer
    halluzinatorischen Psychose abgespielt zu haben, innere Stimmen
    werden laut, um vom Widerstand gegen Gott abzumahnen. Der
    Ausgang des Kampfes zeigt sich wiederum auf religiösem Gebiet:
    er ist der durch das Schicksal des Ödipuskomplexes vorherbestimmte:
    völlige Unterwerfung unter den Willen Gott-Vaters, der junge Mann
    ist gläubig geworden, er hat alles angenommen, was man ihn seit
    der Kindheit über Gott und Jesus Christus gelehrt hatte. Er hat ein
    religiöses Erlebnis gehabt, eine Bekehrung erfahren.

    Das ist alles so einfach und so durchsichtig, daß man die Frage
    nicht abweisen kann, ob durch das Verständnis dieses Falles etwas
    für die Psychologie der religiösen Bekehrung überhaupt gewonnen
    ist. Ich verweise auf ein treffliches Werk von Sante de Sanctis
    (**La conversione religiosa**, Bologna 1924), welches auch alle Funde
    der Psychoanalyse verwertet. Man findet durch diese Lektüre die
    Erwartung bestätigt, daß keineswegs alle Fälle von Bekehrung sich
    so leicht durchschauen lassen wie der hier erzählte, daß aber unser
    Fall in keinem Punkte den Meinungen widerspricht, die sich die
    moderne Forschung über diesen Gegenstand gebildet hat. Was unsere
    Beobachtung auszeichnet, ist die Anknüpfung an einen besonderen
    Anlaß, der die Ungläubigkeit noch einmal aufflackern läßt, ehe sie
    für dies Individuum endgültig überwunden wird.