Ein religiöses Erlebnis 1928-001/1928.2
  • S.

    Ein religiöses Erlebnis

    Von

    Sigm. Freud

    Aus dem im Juni 1928 erschie-
    nen:» XI. Band der „Gesam-
    meltzn Schriften" van Sum.
    Freud.

    Im Herbst 1917 veröffentlid'ne ein deutschamerikanisd'ner
    journalise, den idn gern bei mir gesehen hatte (G. S. Viereds),
    eine Unterhaltung mit mit, in der auch mein Mangel an
    religiöser Gläubigkeit und meine Gleichgültigkeit gegen eine
    Fortdauer nad! dem Tode beriditet wurde. Dies sogenannte
    Interview wurde viel gelesen und brachte mir unter anderem
    nadistehende Zuschrife eines amerikanischen Arztes ein:

    ,....Am meisten Eindruck machte mir Ihre Antwort auf die
    Frage, ob Sie an eine Fortdauer der Persönlid1keit nach dem Tode
    glauben Sie sollen geantwortet haben: Daraus mads’ idi mir gar
    nichts.

    Ich schreibe Ihnen heute, um Ihnen ein Erlebnis mitzuteilen, das
    ich in dem Jahr hatte, als ich meine medizinischen Studien an der
    Universität in X. vollendete. Eines Nachmittags hielt ich midi
    gerade im Seziersazl auf, als die Leidie einer alten Frau herein-
    getragen und auf einen Seziertisd'i gelegt wurde. Diese Frau hatte
    ein so liebes, entzüdiendes Gesicht (Ibis ;weet [need woman), daß
    es mir einen großen Eindruck machte. Der Gedanke blitzte in mir
    auf: Nein, es gibt keinen Gott; wenn es einen Con: gäbe, würde
    er nie gestattet haben, daß eine so liebe alte Frau (tbi: dear old
    woman) in den Seziersaal kommt.

    Als ich an diesem Nad1mittage nach Hause kam, hatte ich unter
    dem Eindrudi des Anblid<s im 5eziersaal bei mir beschlossen, nid):
    wieder in eine Kirdle zu gehen. Die Lehren des Christentums waren
    mir auch vorher schon ein Gegenstand des Zweifels gewesen.

    Aber während id! nnd-1 darüber nadßann‚ sprad1 eine Stimme in
    meiner Seele, ich sollte mir dodz meinen Entsd11uß noch reiflich
    überlegen. Mein Geist antwortete dieser inneren Stimme: Wenn ich
    die Gewißh€it bekomme, daß die christliche Lehre wahr und die
    Bibel das Wort Gottes ist, dann werde id: & annehmen.

  • S.

    Im Verlauf der nächsten Tage machte Gott es meiner Seele klar,
    daß die Bibel Gottes Wort ist, daß alles, was übu']esus Christus
    gelehrt wird, wahr ist, und daß Jesus unsere einzige Hoffnung ist.
    Nach dieser so klaren Offenbarung nahm ich die Bibel als das Wort

    Gottes und Jesus Christus als den Erlöser meiner selbst an. Seither
    hat Gott sich mir nod1 durdi viele untrügliche Zeichen geoffenbart.

    Als ein wohlwollender Kollege (brother phy;irian) bitte idi Sie.
    Ihre Gedanken auf diesen wichtigen Gegenstand zu richten und
    versidnere Ihnen, wenn Sie sich offenen Sinnes damit beschäftigem

    wird Gott auch Ihrer Seele die Wahrheit offenbaren, wie mir
    und so vielen anderen . . .“

    Ich antwortete höflidi, daß ich midi freue zu hören, es sei
    ihm durdr ein solches Erlebnis möglidi geworden, seinen
    Glauben zu bewahren. Für mich habe Gott nicht so viel
    getan, er habe mich nie eine solche Stimme hören lassen und
    wenn er sich — mit Rüdcsicht auf mein Alter — nicht sehr
    beeile, werde es nid1t meine Sd1uld sein, wenn ich bis zum
    Ende bleibe, was ich jetzt sei — an infidel jew.

    Die liebenswiirdige Entgegnung des Kollegen enthielt die
    Versicherung, daß das Judentum kein Hindernis auf dem
    Wege zur Redugläubigkeit sei und erwies dies an mehreren
    Beispielen. Sie gipfelte in der Mitteilung, daß eifrig für mid1
    zu Gott gebetet werde, er möge mir faith to believe, den
    rechten Glauben, schenken.

    Der Erfolg dieser Fiirbitte steht noch aus. Unterdes gibt
    das religiöse Erlebnis des Kollegen zu denken. Idi möchte
    sagen, es fordert den Versuch einer Deutung aus affektiven
    Motiven heraus, denn es ist an sich befremdend und besonders
    schlecht logisch begründet. Wie bekannt, läßt Gott noch ganz
    andere Greuel geschehen, als daß die Leiche einer alten Frau
    mit sympathischen Gesichtszügen auf den Seziertisch gelegt
    wird. Dies war zu allen Zeiten so und kann zur Zeit, als der
    amerikanische Kollege seine Studien absolvierte, nid1t anders
    gewesen sein. Als angehendcr Arzt kann er auch nicht so Tvclt-
    fremd gewesen sein, von all dem Unheil nichts zu Wissen

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  • S.

    Warum mußte also seine Empörung gegen Gott gerade bei
    jenem Eindruck im Seziersaal losbreduen?

    Die Erklärung liegt für den, der gewohnt ist, die inneren
    Erlebnisse und Handlungen der Menschen analytisch zu
    betrad1ten, sehr nahe, so nahe, daß sie sich in meiner
    Erinnerung direkt in den Sachverhalt einschlich. Als ich einmal
    in einer Diskussion den Brief des fromn1en Kollegen erwähnte,
    erzählte ich, er habe geschrieben, daß ihn das Gesicht der
    Frauenleiche an seine eigene Mutter erinnert habe. Nun, das
    stand nicht in dem Brief, — die nächste Erwägung sagt Midi,
    das kann unmöglich darin gestanden sein, — aber das ist die
    Erklärung, die sich unter dem Eindruck der zärtlid1en Worte,
    mit denen die alte Frau bedacht wird (sweet faced dear old
    woman) unabweisbar aufdrängt. Den durch die Erinnerung
    an die Mutter geweckten Affekt darf man dann für die
    Urteilssd1wädme des jungen Arztes verantwortlich machen.
    Kann man sich von der Unart der Psychoanalyse nicht frei
    machen, Kleinigkeiten als Beweisrnaterial heranzuziehen, die
    auch eine andere, weniger tiefgreifende Erklärung zulassen,
    so wird man auch daran denken, daß der Kollege mich später
    als brother pbysician anspricht, was ich in der Übersetzung
    nur unvollkommen wiedergeben konnte.

    Man darf sich also den Hergang in folgender Art vor-
    stellen: Der Anblick des nackten (oder zur Entblößung
    bestimmten) Lcibes einer Frau, die den Jüngling an seine
    Mutter erinnert, weckt in ihm die aus dem Ödipuskomplex
    stammende Muttersehnsucht, die sich auch sofort durch die
    EmPörung gegen den Vater vervollständigt. Vater und Gott
    sind bei ihm noch nicht weit auseinandergcriickt, der Wille
    zur Vernichtung des Vaters kann als Zweifel an der Existenz
    Gottes bewußt werden und sich als Entrüstung über die Miß-
    handlung des Muttembjcktes vor der Vernunft legitimieren
    wollen. Dem Kind gilt doch in typischer Weise als Miß—

    II

  • S.

    handlung, was der Vater im Sexualverkehr der Mutter antut.
    Die neue, auf das religiöse Gebiet verschobene Regung iS!
    nur eine Wiederholung der Udipussituation und erfährt darum
    nach kurzer Zeit dasselbe Schicksal. Sie erliegt einer mäd1tig€fl
    Gegenströmung. Während des Konflikts wird das VE!"
    schiebungsniveau nicht eingehalten, von Argumenten zur
    Rechtfertigung Gottes ist nicht die Rede, es wird audi nid":
    gesagt, durch welche untrügliche Zeidien Gott dem Zweifler
    seine Existenz erwiesen hat. Der Konflikt sd1eint sich in der
    Form einer halluzinatorisdxen Psychose abgespielt zu haben,
    innere Stimmen werden laut, um vom Widerstand gegen Gott
    abzumahnen. Der Ausgang des Kampfes zeigt sich wiederum
    auf rcligiösem Gebiet; er ist der durch das Schicksal des
    Ödipuskomplcxes vorherbestimmte: völlige Unterwerfung
    unter den Willen Gott—Vaters, der junge Mann ist gläubig
    geworden, er hat: alles angenommen, was man ihn seit der
    Kindheit‚über Gott und ]esus Christus gelehrt hatte. Er hat
    ein religiöses Erlebnis gehabt, eine Bekehrung erfahren.

    Das ist alles so einfadi und so durd1$id1tig, daß man die
    Frage nicht abweisen kann, ob durch das Verständnis dieses
    Falles etwas für die Psychologie der religiösen Bekehrung
    überhaupt gewonnen ist. Ich verweise auf ein treffliches Werk
    von Santc de Sanctis (La conversione religiosa,
    Bologna 1914), welches auch alle Funde der Psydmoanalyse
    verwertet. Man findet durch diese Lektüre die Erwartung
    bestätigt, daß keineswegs alle Fälle von Bekehrung sidz so
    leicht durdisdiauen lassen wie der hier erzählte, daß aber
    unser Fall in keinem Punkte den Meinungen widerspricht,
    die sich die moderne Forschung über diesen Gegenstand
    gebildet hat. Was unsere Beobachtung auszeidmet, ist. die
    Anknüpfung an einen besonderen Anlaß, der die Ungläubig-
    keit noch einmal aufflackern läßt, ehe sie für dies Individuum
    endgültig überwunden wird.

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