Ein Traum als Beweismittel 1913-004/1925
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    EIN TRAUM ALS BEWEISMITTEL

    Erschim zuerst in da- „l'ntemazianalm Zeit—
    schrift fiir Psychoanalyse“, Bd. I (1913), dann
    in der Vierten Felge der „Sammlung kleiner
    Schn_'flm zur Neurosenlehrc“. (Englische Üben-
    .ntzung in „Collacted Papers“, Vol. II.)

    Eine Dame, die an Zweifelsucht und Zwangszeremoniell leidet,
    stellt an ihre Pflegerinnen die Anforderung, von ihnen keinen
    Moment aus den Augen gelassen zu werden, weil sie sonst zu
    grübeln beginnen würde, was sie in dem unbewachten Zeitraum
    Unerlaubtes getan haben mag. Wie sie nun eines Abends auf dem
    Diwan ausruht, glaubt sie zu bemerken, daß die diensthabende
    Pflegerin eingeschlafen ist. Sie fragt: Haben Sie mich gesehen?;
    die Pflegerin fährt auf und antwortet: Ja, gewiß. Die Kranke hat
    nun Grund zu einem neuen Zweifel und wiederholt nach einer
    Weile dieselbe Frage. Die Pflegerin beteuert es von neuem; in
    diesem Augenblicke bringt eine andere Dienerin das Abendessen.

    Dies ereignete sich eines Freitag abends. Am nächsten Morgen
    erzählt die Pflegerin einen Traum, der die Zweifel der Patientin
    zerstreut.

    Traum: Man hat ihr ein Kind gegeben, die Mutter ist abge—
    reist, und sie hat das Kind verloren. Sie fragt unterwegs die
    Leute auf der Straße, ab sie das Kind gesehen haben. Dann
    kommt sie an ein großes Wasser, geht über einen schmalen Steg;
    (Dazu später ein Nachtrag: Auf diesem Steg ist plötzlich die
    Person einer anderen Pflegerin wie eine Fata Morgana vor ihr

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    268 Beiträge zur Traumlehre

    aufgetaucht.) Dann ist sie in einer ihr bekannten Gegend und
    triflt dort eine Frau, die sie als Mädchen gekannt hat, die damals
    Verkäuferin in einem Eßwarengeschizft war, später aber geheiratet
    hat. Sie fragt die vor ihrer Tür stehende Frau: Haben Sie das
    Kind gesehen? Die Frau interessiert sich aber nicht für diese
    Frage, sondern erzählt ihr, daß sie jetzt von ihrem Manne
    geschieden ist, wobei sie hinzzJügt, daß es auch in der Ehe nicht
    immer glücklich geht. Dann wacht sie beruhigt auf und denkt
    sich, das Kind wird sich schon bei einer Nachbarin finden.

    Analyse: Von diesem Traum nahm die Patientin an, daß er
    sich auf das von der Pflegerin abgeleugnete Einschlafen beziehe.
    Was ihr die Pflegerin, ohne ausgefragt zu werden, im Anschluß
    an den Traum erzählte, setzte sie in den Stand, eine praktisch
    zureichende, wenn auch an manchen Stellen unvollständige Deutung
    des Traumes vorzunehmen. Ich selbst habe nur den Bericht der
    Dame gehört, nicht die Pflegerin gesprochen; ich werde, nach-
    dem die Patientin ihre Deutung vorgetragen hat, hinzufügen, was
    sich aus unserer allgemeinen Einsichtnahme in die Gesetze der
    Traumbildung ergänzen läßt.

    „Die Pflegerin sagt, bei dem Kind im Traume denke sie an
    eine Pflege, von welcher sie sich außerordentlich befriedigt gefühlt
    habe. Es handelte sich um ein an blennorrhoischer Augen—
    entzündung erkranktes Kind, das nicht sehen konnte. Aber die
    Mutter dieses Kindes reiste nicht ab, sie nahm an der Pflege teil.
    Dagegen weiß ich, daß mein Mann, der viel auf diese Pflegerin
    hält, mich ihr beim Abschied zur Behütung übergeben hat, und
    daß sie ihm damals versprach, auf mich achtzugeben — wie auf
    ein Kind!“ '

    Wir erraten anderseits aus der Analyse der Patientin, daß sie
    sich mit ihrer Forderung, nicht aus den Augen gelassen zu werden,
    selbst in die Kindheit zurückversetzt hat.

    „Sie hat das Kind verloren,“ fährt die Patientin fort, „heißt,
    sie hat mich nicht gesehen, hat mich aus den Augen verloren.

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    Ein Traum als Baueümittel 969

    Das ist ihr Geständnis, daß sie wirklich eine Weile geschlafen
    und mir dann nicht die Wahrheit gesagt hat.“

    Das Stückchen des Traumes, in dem die Pflegerin bei den
    Leuten auf der Straße nach dem Rinde fragt, blieb der Dame
    dunkel, dagegen weiß sie über die weiteren Elemente des mani—
    festen Traumes gute Auskunft zu geben.

    „Bei dem großen Wasser denkt sie an den Rhein, aber sie setzt
    hinzu, es war doch weit größer als der Rhein. Sie erinnert sich
    dann, daß ich ihr am Abend vorher die Geschichte von Jonas
    und dem Walfisch vorgelesen und erzählt habe, daß ich selbst
    einmal im Ärmelkanal einen Walfisch gesehen. Ich meine, das
    große Wasser ist das Meer, also eine Anspielung auf die Geschichte
    von Jonas.“

    „Ich glaube auch, daß der schmale Steg aus der nämlichen, in
    Mundart geschriebenen lustigen Geschichte herrührt. In ihr wird
    erzählt, daß der Religionslehrer den Schulkindern das wunder-
    bare Abenteuer des Jonas verträgt, worauf ein Knabe den Ein—
    wand macht, das könne doch nicht sein, denn der Herr Lehrer
    habe ein anderes Mal gesagt, der Walfiéch habe einen so engen
    Schlund, daß er nur ganz kleine Tiere schlucken könne. Der
    Lehrer hilft sich mit der Erklärung, Jonas sei eben ein Jude
    gewesen, und der drücke sich überall durch. Meine Pflegerin ist
    sehr religiös, aber zu religiösen Zweifeln geneigt, und ich habe
    mir darum Vorwürfe gemacht, daß ich durch meine Vorlesung
    vielleicht ihre Zweifel angeregt habe.“

    „Auf diesem schmalen Steg sah sie nun die Erscheinung einer
    anderen ihr bekannten Pflegerin. Sie hat mir deren Geschichte
    erzählt, diese ist in den Rhein gegangen, weil man sie aus der
    Pflege, in der sie sich etwas hatte zu Schulden kommen lassen,
    weggeschickt hatte.‘ Sie fürchtet also auch wegen jenes Ein—

    1) Ich habe mir an dieser Stelle eine Verdichtung des Materials zu Schulden
    kommen lassen, die ich bei einer Revision der Niederschrift vor der referierenden
    Dame korrigieren konnte. Die als Erscheinung auf dem Steg auftretende Pflegerin

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    970 Beiträge zur Traumlehrz

    schlafen; weggeschickt zu werden. Übrigens hat sie am Tage nach
    dem Vorfall und der Traumerzählung heftig geweint und mir,
    auf meine Frage nach ihren Gründen, recht barsch geantwortet:
    ‚Das wissen Sie so gut wie ich, und jetzt werden Sie kein Ver-
    trauen mehr zu mir haben.”

    Da die Erscheinung der ertränkten Pflege:-in ein Nachtrag, und
    zwar von besonderer Deutlichkeit war, hätten wir der Dame raten
    müssen, die Traumdeutung an diesem Punkte zu beginnen. Diese
    erste Hälfte des Traumes war nach dem Berichte der Träumerin
    auch von heftigster Angst erfüllt, im zweiten Teil bereitet sich
    die Beruhigung vor, mit welcher sie erwacht.

    „Im nächsten Stück des Traumes,“ setzt die analysierende Dame
    fort, „finde ich wieder einen sicheren Beweis für meine Auf-
    fassung, daß es sich darin um den Vorfall am Freitag abends
    handelt7 denn mit der Frau, die früher Verkäuferin in einem
    Eßwarengeschäfte war, kann nur das Mädchen gemeint sein,
    welches damals das Nachtmahl brachte. Ich bemerke, daß die
    Pflegerin den ganzen Tag über Üblichkeiten geklagt hatte. Die
    Frage, die sie an die Frau richtet: ‚Haben Sie das Kind gesehen?“,
    ist ja offenbar abgeleitet von meiner Frage: ‚Haben Sie mich
    gesehen?‘, wie meine Formel lautet, die ich eben zum zweitenmal
    stellte, als das Mädchen mit den Schüsseln eintrat.“

    Auch im Traume wird in zwei Stellen nach dem Kinde
    gefragt. —— Daß die Frau keine Antwort gibt, sich nicht inter-
    essiert, möchten wir als eine Herabsetzung der anderen Dienerin

    hatte sich in der Pflege nichts zu Schulden kommen lassen. Sie wurde weggeschickt,
    weil die Mutter des Kindes, die zur Abreise genötigt war, erklärte, sie wolle in ihrer
    Abwesenheit eine ältere — also doch verlüßl.ichere — Warteperson bei dem Kinds
    haben. Darm reihte sich eine zweite Erzählung von einer anderen Pfleger-in, die
    wirklich wegen einer Nschliissigkeit entlassen werden war, lich darum aber nicht
    ertränkt hatte. Das für die Deutung des 'l'rsumelements nötige Material ist hier, wie
    sonst nicht selten, auf zwei Quellen verteilt. Mein Gedächtnis vollzog die zur Deutung
    fiihrende Synthese. — Übrigens findet sich in der Geschichte der erträ.ukten Pflegerin
    das Moment des Ahreisens der Mutter, welches von der Dame auf die Abreise ihres
    Mannes hezogen wird. Wie man sieht, eine Überdeterminiernng, welche die Eleganz
    der Deutung beeinträchtigt. —

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    Ein Traum als Beweismittel 971

    zugunsten der Träumerin deuten, die sich im Traume über die
    andere erhebt, gerade weil sie gegen Vorwürfe wegen ihrer
    Unachtsamkeit anzukämpfen hat.

    „Die im Traume erscheinende Frau ist nicht wirklich von
    ihrem Manne geschieden. Die ganze Stelle stammt aus der Lebens-
    geschichte des anderen Mädchens, welches durch das Machtwort
    ihrer Eltern von einem Marine fern gehalten —— geschieden ——
    wird, der sie heiraten will. Der Satz, daß es in der Ehe auch
    nicht immer gut abgeht, ist wahrscheinlich ein Trost, der in
    Gesprächen der beiden zur Verwendung kam. Dieser Trost wird
    ihr zum Vorbild für einen anderen, mit dem der Traum schließt:
    Das Kind wird sich schon finden.“

    „Ich habe aber aus diesem Traume entnommen, daß die
    Pflegerin an jenem Abend Wirklich eingeschlafen war und darum
    weggeschickt zu werden fürchtet. Ich habe darum den Zweifel
    an meiner eigenen Wahrnehmung aufgegeben. Übrigens hat sie
    nach der Erzählung des Traumes hinzugefügt, sie bedauere es
    sehr, daß sie kein Traumbuch mitgebracht habe. Als ich bemerkte,
    in solchen Büchern stehe doch nur der schlimmste Aberglaube,
    entgegnete sie, sie sei gar nicht abergläubisch, aber das müsse sie
    sagen: alle Unannehmlichkeiten ihres Lebens seien ihr immer an
    Freitagen passiert. Außerdem behandelt sie mich jetzt schlecht,
    zeigt sich empfindlich, reizbar und macht mir Szenen.“

    Ich glaube, wir werden der Dame zugestehen müssen, daß sie
    den Traum ihrer Pflegerin richtig gedeutet und verwertet hat.
    Wie so oft bei der Traumdeutung in der Psychoanalyse, kommen
    für die Übersetzung des Traumes nicht allein die Ergebnisse der
    Assoziation in Betracht, sondern auch die Begleitumstände der
    Traumerzählung, das Benehmen des Träumers vor und nach der
    Traumanalyse sowie alles, was er ungefähr gleichzeitig mit dem
    Traume —— in derselben Stunde der Behandlung —— äußert und
    verrät. Nehmen wir die Reizbarkeit der Pflegerin, ihre Beziehung
    auf den unglückbringenden Freitag 11. a. hinzu, so werden wir

  • S.

    272 Beiträge zur Traumlehre

    das Urteil bestätigen, der Traum enthalte das Geständnis, daß
    sie damals, als sie es ableugnete, wirklich eingenickt sei und
    darum fürchte, von ihrem Pflegekind weggeschickt zu werden.‘

    Aber der Traum, welcher für die Dame eine praktische
    Bedeutung hatte, regt bei uns das theoretische Interesse nach
    zwei Richtungen an. Der Traum läuft zwar in eine Tröstung
    aus, aber im wesentlichen bringt er ein für die Beziehung zu
    ihrer Dame wichtiges Geständnis. Wie kommt der Traum,
    der doch der Wunscherfüllung dienen soll, dazu, ein Geständnis
    zu ersetzen, welches der Träumerin nicht einmal vorteilhaft wird?
    Sollen wir uns wirklich veranlaßt finden, außer den Wunsch—
    (und Angst—) Träumen auch Geständnisträume zuzugeben sowie
    Warnungsträume, Reflexionsträume, Anpassungsträume u. dgl.?

    Ich bekenne nun, daß ich noch nicht ganz verstehe, warum
    der Standpunkt, den meine Traumdeutung gegen solche Ver-
    suchungen einnimmt7 bei so vielen und darunter namhaften
    Psychoanaly'tikern Bedenken findet. Die Unterscheidung von
    Wunsch-, Geständnis-, Warnungs— und Anpassungsträumen u. dgl.
    scheint mir nicht viel sinnreicher, als die notgedrungen zugelassene
    Differenzierung ärztlicher Spezialisten in Frauen-, Kinder— und
    Zahnärzte. Ich nehme mir die Freiheit, die Erörterungen der
    Traumdeutung über diesen Punkt hier in äußerster Kürze zu
    wiederholen.2

    Als Schlafstörer und Traumbildner können die sogenannten
    „Tagesreste“ fungieren, affektbesetzte Denkvorgänge des Traum—
    tages, welche der allgemeinen Schlaferniedrigung einigermaßen
    widerstanden haben. Diese Tagesreste deckt man auf, indem man
    den manifesten Traum auf die latenten Traumgedanken zurück—
    führt; sie sind Stücke dieser letzteren, gehören also den ——- bewußt
    oder unbewußt gebliebenen —— Tätigkeiten des Wachens an, die

    ]) Die Pflegerin gesund übrigens einige Tage später einer dritten Person ihr
    Einschlafen an jenem Abend zu und rechtfertigte so die Deutung der Dame.
    :) Ges. Schriften, Bd.. II, S. 474 E.

  • S.

    Ein Traum als Beweismitiel 275

    sich in die Zeit des Schlafens fortsetzen mögen. Entsprechend der
    Mannigfaltigkeit der Denkvorgänge im Bewußten und Vorbewußten
    haben diese Tagesreste die vielfachsten und verschiedenartigsten
    Bedeutungen, es können unerledigte Wünsche oder Befürchtungen
    sein, ebenso Vorsätze, Überlegungen, Warnungen, Anpassunge-
    versuche an bevorstehende Aufgaben usw. Insofern muß ja die
    in Rede stehende Charakteristik der Träume nach ihrem durch
    Deutung erkannten Inhalt gerechtfertigt erscheinen. Aber diese
    Tagesreste sind noch nicht der Traum, vielmehr fehlt ihnen das
    Wesentliche, was den Traum ausmacht. Sie sind für sich allein
    nicht imstande, einen Traum zu bilden. Streng genommen sind
    sie nur psychisches Material für die Traumarbeit, wie die zufällig
    vorhandenen Sinnes- und Leibreize oder eingeführte experimentelle
    Bedingungen deren somatisches Material bilden. Ihnen die Haupt-
    rolle bei der Traumbildung zuschreiben, heißt nichts anderes als
    den voranalytischen Irrtum an neuer Stelle wiederholen, Träume
    erklärten sich durch den Nachweis eines verdorbenen Magens
    oder einer gedrückten Hautstelle. So zählebig sind wissenschaftliche
    Irrtümer und so gern bereit, sich, wenn abgewiesen, unter neuen
    Masken wieder einzuschleichen.

    Soweit wir den Sachverhalt durchschaut haben, müssen wir
    sagen, der wesentliche Faktor der Traumbildung ist ein unbe-
    wußter Wunsch, in der Regel ein infantiler, jetzt verdrängter,
    welcher sich in jenem somatischen oder psychischen Material
    (also auch in den Tagesresten) zum Ausdruck bringen kann und.
    ihnen darum eine Kraft leiht, so daß sie auch während der
    nächtlichen Denkpause zum Bewußtsein durchdringen können.
    Dieses unbewußten Wunsches Erfüllung ist jedesmal der. Traum,
    mag er sonst was immer enthalten, Warnung, Überlegung,
    Geständnis und was sonst aus dem reichen Inhalt des vorbewußten
    Wachlebens unerledigt in die Nacht hineinragt. Dieser unbe-
    wußte Wunsch ist es, welcher der Traumarbeit ihren eigen—
    tümlichen Charakter gibt als einer unbewußten Bearbeitung eines

    Freud, In. 13

  • S.

    274 Beiträge zur Traumlehre

    vorbewußten Materials. Der Psychoanalytiker kann den Traum
    nur charakterisieren als Ergebnis der Traumarbeit; die latenten
    Traumgeda'nken kann er nicht dem Traume zurechnen, sondern
    dem vorbewiißten Nachdenken, wenngleich er diese Gedanken
    erst aus“ der Deutung des Traumes erfahren hat. (Die sekundäre
    Bearbeitung durch die bewußte Instanz ist hiebei der Traumarbeit
    zugezählt; es wird an dieser Auffassung nichts geändert, wenn
    man sie absenden. Man müßte dann sagen: der Traum im
    psychoanalytischen Sinne umfaßt die eigentliche Traumarbeit und
    die sekundäre Bearbeitung ihres Ergebnisses.) Der Schluß aus
    diesen Erwägungen lautet, daß man den Wunscherfüllungs—
    Charakter des Traumes nicht in einen Rang mit dessen Charakter
    als Warnung, Geständnis, Lösungsversuch usw. versetzen darf,
    ohne den Gesichtspunkt der psychischen Tiefendimension, also
    den Standpunkt der Psychoanalyse, zu verleugnen.

    Kehren wir nun zum Traume der Pflegerin zurück, um an
    ihm den Tiefencharakter der Wunscherfüllung nachzuweisen. Wir
    sind darauf vorbereitet, daß seine Deutung durch die Dame keine
    vollständige ist. Es erübrigen die Partien des Trauminhaltes, denen
    sie nicht gerecht werden konnte. Sie leidet überdies an einer
    Zwangsneurose, welche nach meinen Eindrücken das Verständnis
    der Tranmsymbole erheblich erschwert, ähnlich wie die Dementia
    praecox es erleichtert.

    Unsere Kenntnis der Traumsymbolik gestattet uns aber, unge—
    deutete Stellen dieses Traumes zu verstehen und hinter den bereits
    gedeuteten einen tieferen Sinn zu erraten. Es muß uns auffallen,
    daß einiges Material, welches die Pflegerin verwendet, aus dem
    Komplex des Gebärens, Kinderhabens kommt. Das große Wasser
    (der Rhein, der Kanal, in dem der Walfisch gesehen wurde) ist
    wohl das Wasser, aus dem die Kinder kommen. Sie kommt ja
    auch dahin „auf der Suche nach dem Kinde“. Die Jonasmythe
    hinter der Determinierung dieses Wassers, die Frage, wie Jonas
    (das Kind) durch die enge Spalte kommt, gehören demselben

  • S.

    Ein Traum aß Beweismittel 275

    Zusammenhang an. Die Pflegerin, die sich aus Kränkung in den
    Rhein gestürzt hat, ins Wasser gegangen ist, hat ja auch in ihrer
    Verzweiflung am Leben eine sexualsymbolische Tröstung an der
    Todesart gefunden. Der enge Steg, auf dem ihr die Erscheinung
    entgegentritt, ist sehr wahrscheinlich gleichfalls als ein Genital-
    symbol zu deuten, wenngleich ich gestehen muß, daß dessen
    genauere Erkenntnis noch aussteht.

    Der Wunsch: ich will ein Kind haben, scheint also der Traum—
    bildner aus dem Unbewußten zu sein, und kein anderer scheint
    besser geeignet, die Pflegerin über die peinliche Situation der
    Realität zu trösten. „Man wird mich wegschicken, ich werde
    mein Pflegekind verlieren. Was liegt daran? Ich werde mir dafür
    ein eigenes, leibliches verschaffen.“ Vielleicht gehört die unge—
    deutete Stelle, daß sie alle Leute auf der Straße nach dem Kinde
    fragt, in diesen Zusammenhang; sie wäre dann zu übersetzen:
    und müßte ich mich auf der Straße ausbieten, ich werde mir
    das Kind zu schaffen wissen. Ein bisher verdeckter Trotz der
    Träumerin wird hier plötzlich laut, und zu diesem paßt erst das
    Geständnis: „Also gut, ich habe die Augen zugemacht und meine
    Verläßlichkeit als Pflegerin kompromittiert, ich werde jetzt die
    Stelle verlieren. Werde ich so dumm sein, ins Wasser zu gehen
    wie die X? Nein, ich bleibe überhaupt nicht Pflegerin, ich will
    heiraten, Weib sein, ein leibliches Kind haben, daran lasse ich
    mich nicht hindern.“ Diese Übersetzung rechtfertigt sich durch die
    Erwägung, daß „Kinderhaben“ wohl der infantile Ausdruck des
    Wunsches nach dem Sexualverkehr ist, wie es auch vor dem
    Bewußtsein zum euphemistischen Ausdruck dieses anstößigen
    Wunsches gewählt werden kann.

    Das für die Träumerin nachteilige Geständnis, zu dem wohl
    im Wachleben eine gewisse Neigung vorhanden war, ist also im
    Traume ermöglicht werden, indem ein latenter Charakterzug der
    Pflegerin sich desselben zur Herstellung einer infan:tilen Wunsch—
    erfüllung bediente. Wir dürfen vermuten, daß dieser Charakter

    iB‘

  • S.

    276 Beiträge zur Traumlehre

    in innigem Zusammenhang — zeitlichem wie inhaltlichem —
    mit dem Wunsche nach Kind und Sexualgeuuß steht.

    Eine weitere Erkundigung bei der Dame, der ich das erste
    Stück dieser Traumdeutung danke, förderte folgende unerwartete
    Aufschlüsse über die Lebensschicksale der Pflegerin zutage. Sie
    wollte, ehe sie Pflegerin wurde, einen Mann heiraten, der sich
    eifrig um sie bemühte, verzichtete aber darauf infolge des Ein-
    spruches einer Tante, zu welcher sie in einem merkwürdigen,
    aus Abhängigkeit und Trotz gemischten Verhältnis steht. Diese
    Tante, die ihr das Heiraten versagte, ist selbst Oberin eines
    Krankenpflegerordens; die Träumerin sah in ihr immer ihr Vor-
    bild, sie ist durch Erbrücksichten an sie gebunden, widersetzte
    sich ihr aber, indem sie nicht in den Orden eintrat, den ihr die
    Tante bestimmt hatte. Der Trotz, der sich im Traume verraten,
    gilt also der Tante. Wir haben diesem Charakterzug analerotische
    Herkunft zugesprochen und nehmen hinzu, daß es Geldinteressen
    sind, welche sie von der Tante abhängig machen, denken auch
    daran, daß das Kind die anale Geburtstheorie bevorzugt.

    Das Moment dieses Kindertrotzes wird uns vielleicht einen
    innigeren Zusammenhang zwischen den ersten und der letzten
    Szene des Traumes annehmen lassen. Die ehemalige Verkäuferin
    von Eßwaren im Traume ist zunächst die andere Dienerin der
    Dame, die im Moment der Frage: „Haben Sie mich gesehen?“ mit.
    dem Nachtmahl ins Zimmer trat. Aber es scheint, daß sie über-
    haupt die Stelle der feindlichen Konkurrentin zu übernehmen
    bestimmt ist. Sie wird als Pflegeperson herabgesetzt, indem sie
    sich für das verlorene Kind gar nicht interessiert, sondern von
    ihren eigenen Angelegenheiten Antwort gibt. Auf sie wird also
    die Gleichgültigkeit gegen das Pflegekind verschoben, zu der sich
    die Träumerin gewendet hat. Ihr wird die unglückliche Ehe und
    Scheidung angedichtet, welche die Trämnerin in ihren geheimsten
    Wünschen selbst fürchten müßte. Wir Wissen aber, daß es die
    Tante ist, welche die Träumerin von ihrem Verlobten geschieden

  • S.

    Ein Traun als Beweismittel 277

    hat. So mag die „Verkäuferin von Eßwaren“ (was einer infantilen
    symbolischen Bedeutung nicht zu entbehren braucht) zur Reprä-
    sentantin der, übrigens nicht viel älteren, Tante-Oberin werden,
    welche bei unserer Träumerin die hergebrachte Rolle der Mutter-
    Konkurrentin eingenommen hat. Eine gute Bestätigung dieser
    Deutung liegt in dem Umstand, daß der im Traume „bekannte“
    Ort, an dem sie die in Rede stehende Person vor ihrer Tür
    findet, der Ort ist, wo eben diese Tante als Oberi.n lebt.

    Infolge der Distanz, welche den Arialysierenden vom Objekt der
    Analyse trennt, muß es ratsam werden, nicht weiter in das
    Gewebe dieses Traumes einzudringen. Man darf vielleicht sagen,
    auch soweit er der Deutung zugänglich wurde, zeigte er sich
    reich an Bestätigungen wie an neuen Problemen.