S.
XXIX.
EINIGE CHARAKTERTYPEN
AUS DER PSYCHOANALYTISCHEN ARBEIT."Wenn der Arzt die psychoanalytische Behandlung eines
Nervösen durchführt, so ist sein Interesse keineswegs in erster
Linie auf dessen Charakter gerichtet. Er möchte viel eher
wissen, was seine Symptome bedeuten, welche Triebregungen
sich hinter ihnen verbergen und durch sie befriedigen, und
über welche Stationen der geheimnisvolle Weg von jenen
Triebwiinschen zu diesen Symptomen geführt hat. Aber die
Technik, der er folgen muß, nötigt den Arzt bald, seine Wiß-
begierde vorerst auf andere Objekte zu richten. Er bemerkt,
daß seine Forschung durch Widerstände bedroht wird, die
ihm der Kranke entgegensetzt, und darf diese Widerstände
dem Charakter des Kranken zurechnen, Nun hat dieser Cha-
rakter den ersten Anspruch an sein Interesse,Was sich der Bemühung des Arztes widersetzt, sind
nicht immer die Charakterzüge, zu denen sich der Kranke
bekennt, und die ihm von seiner Umgebung zugesprochen
werden. Oft zeigen sich Eigenschaften des Kranken bis zu
ungeahnten Intensitäten gesteigert, von denen er nur ein be-
scheidenes Maß zu besitzen schien, oder es kommen TSinatel-
lungen bei ihm zum Vorschein, die sich in anderen Beziehun-*( Imago IV, 1915/16.
S.
599 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
⑧ įgen des Lebens nicht verraten hatten. Mit der Beschreibung
und Zuriickfihrung einiger von diesen überraschenden Charak-terziigen werden sich die nachstehenden Zeilen beschäftigen.
e
DIE AUSNAHMEN.Die psychoanalytische Arbeit sieht sich immer wieder
vor die Aufgabe gestellt, den Kranken zum Verzicht auf
vinen naheliegenden und unmittelbaren Lustgewinn zu be-
wegen. Er soll nicht auf Lust überhaupt verzichten; das
kann man vielleicht keinem Menschen zumuten, und selbst
die Religion muß ihre Forderung, irdische Lust fahren zu
Jassen, mit dem Versprechen begründen, dafür ein ungleich
höheres Maß von wertvollerer Lust in einem Jenseits zu ge-
währen. Nein, der Kranke soll bloß auf solche Befriedigungen
verzichten, denen eine Schädigung unfehlbar nachfolgt, er
soll bloß zeitweilig entbehren, nur den unmittelbaren Lust-
gewinn gegen einen besser gesicherten, wenn auch aufge-
schobenen, eintauschen lernen. Oder mit anderen Worten,
er soll unter der ärztlichen Leitung jenen Fortschritt vom
Lustprinzip zum Realitåtsprinzip machen, durchwelchen sich der reife Mann vom Kinde scheidet. Bei diesem
Erziehungswerk spiclt dic bessere Einsicht des Arztes kaum
eine entscheidende Rolle; er weiß ja in der Regel dem Kran-
ken nichts anderes zu sagen, als was diesem sein eigener Ver-
stand sagen kann. Aber es ist nicht dasselbe, etwas bei sich
zu wissen und dasselbe von anderer Seite zu horen; der Arzt
übernimmt die Rolle dieses wirksamen Anderen; er bedient
sich des Einflusses, den ein Mensch auf den anderen ausübt.
Oder: erinnern wir uns daran, daß es in der Psychoanalyse
üblich ist, das Ursprüngliche und Wurzelhafte an Stelle desS.
XXIX. CHARAKTERTYPEN AUS DER PSYCHOANALYT. ARBEIT. 523
Abgeleiteten und Gemilderten einzusetzen, und sagen wir, der
Arzt bedient sich bei seinem Erziehungwerk irgend einer Kom-
ponente der Liebe. Er wiederholt bei solcher Nacherziehung
wahrscheinlich nur den Vorgang, der überhaupt die erste Er-
zichung ermöglicht hat. Neben der Lebensnot ist die Liebe
die große Erzieherin, und der unfertige Mensch wird durch
die Liebe der ihm Nächsten dazu bewogen, auf die Gebote
der Not zu achten und sich die Strafen fiir deren Ubertretung
zu ersparen.Fordert man so von den Kranken einen vorläufigen Ver-
zicht auf irgend eine Lustbefriedigung, ein Opfer, eine Bereit-
willigkeit, zeitweilig für ein besseres Ende Leiden auf sich
zu nehmen, oder auch nur den Entschluß, sich einer für alle
geltenden Notwendigkeit zu unterwerfun, so stößt man auf
einzelne Personen, die sich mit einer besonderen Motivierung
gegen solche Zumutung sträuben. Sie sagen, sie haben genug
gelitten und entbehrt, sie haben Anspruch darauf, von wei-
teren Anforderungen verschont zu werden, sie unterwerfen
sich keiner unlichsamen Notwendigkeit mehr, denn sie seien
Ausnahmen und gedenken es auch zu bleiben. Bei einem
Kranken solcher Art war dieser Anspruch zu der Überzeugung
gesteigert, daß eine besondere Vorsehung über ihn wache, die
ihn vor derartigen schmerzlichen Opfern bewahren werde.
Gegen innere Sicherheiten, die sich mit solcher Stärke äußern,
richten die Argumente des Arztes nichts aus, aber auch sein
Einfluß versagt zunächst, und er wird darauf hingewiesen,
den Quellen nachzuspüren, aus welchen das schädliche Vor-
urteil gespeist wird,Nun ist es wohl unzweifelhaft, daß ein jeder sich für
eine „Ausnahme“ ausgeben und Vorrechte vor den anderen
beanspruchen möchte. Aber gerade darum bedarf es einer be-S.
524 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
sonderen und nicht überall vorfindlichen Begründung, wenn
er sich wirklich als Ausnahme verkündet und benimmt. Es
mag mehr als nur eine solche Begründung geben; in den
von mir untersuchten Fällen gelang es, cine gemeinsame
Bigentümlichkeit der Kranken in deren früheren Lebens-
schicksalen nachzuweisen: Ihre Neurose knüpfte an ein
Erlebnis oder an ein Leiden an, das sie in den ersten Kinder-
zeiten betroffen hatte, an dem sie sich unschuldig wuften,
und das sie als eine ungerechte Benachteiligung ihrer Person
bewerten konnten.. Die Vorrechte, die.sie aus diesem Un-
recht ableiteten, und die Unbotmäßigkeit, dic sich daraus
ergab, hatten nicht wenig dazu beigetragen, um die Kon-
flikte, die später zum Ausbruche der Neurose führten, zu
verschürfen. Dei einer dieser Patientinnen wurde die bespro-
chene Einstellung zum Leben vollzogen, als sie erfuhr, daß
ein sehmerzhaftes organisches Leiden, welches sie an der
Erreichung ihrer Lebensziele gehindert hatte, kongenitalen
Ursprungs war. Solange sie dieses Leiden für eine zufälligespitere Erwerbung hielt, ertrug sie es geduldig; von ihrer
Aufklarung an, es sel ein Stück mitgebrachter Erbschaft,
wurde sie rebellisch. Der junge Mann, der sich von einer
besonderen Vorsehung bewacht glaubte, war als Säugling das
Opfer einer zufälligen Infektion durch seine Amme geworden
und hatte sein ganzes spåteres Leben von seinen Entschädi-gungsansprüchen wie von einer Unfallsrente gezehrt, ohne
zu ahnen, worauf er seine Ansprüche gründete. In seinem
Falle wurde die Analyse, welche dieses Ergebnis aus dunklen
Erinnerungsresten und Symptomdeutungen konstruierte, durch
Mitteilungen der Familie objektiv bestätigt, .
Aus leicht verständlichen, Gründen kann ich von diesen
und anderen Krankengeschichten ein mehreres nicht mit-S.
XXIX. CHARAKTERTYPEN AUS DER PSYCHOANALYT. ARBEIT. 525
teilen. Ich will auch auf die naheliegende Analogie mit der
Charakterverbildung nach langer Krånklichkeit der Kinder-
jahre und im Benehmen ganzer Volker mit leidenschwerer
Vergangenheit nicht eingehen, Dagegen werde ich es mir
nicht versagen, auf jene von dem größten Dichter geschaffene
Gestalt hinzuweisen, in deren Charakter der Ausnahmsan-
spruch mit dem Momente der kongenitalen Benachteiligung
so innig verknüpft und durch dieses motiviert ist.
Im einleitenden Monolog zu Shakespeares Richard III.sagt Gloster, der spåtere Konig:
„Doch ich, zu Possenspielen nicht gemacht,
Noch um zu buhlen mit verliebten Spiegeln;
Ich, roh geprägt, entbló6t von Liebes-Majeståt
Vor leicht sich dreh'nden Nymphen sich zu brüsten;
Ich, um dies schöne EbenmaB verkürzt,
Von der Natur um Bildung falsch betrogen,
Entstellt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt
In diese Welt des Atmens, halb kaum fertig
Gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend,
Daß Hunde bellen, אמות ich wo vorbei;Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter
Kann kürzen diese fein beredten Tage,
Bin ich gewillt ein Bösewicht zu werden
Und Feind den eitlen Freuden dieser Tago.*
Unser erster Eindruck von dieser Programmrede wird
vielleicht die Beziehung zu unserem Thema vermissen. Richardscheint nichts anderes zu sagen als: Ich langweile mich in
dieser müfigen Zeit und ich will mich amüsieren. Weil ich
aber wegen meiner Mifgestalt mich nicht als Liebender un-
terhalten kann, werde ich den Bósewicht spielen, intrigieren,
morden, und was mir sonst gefällt. Eine so frivole Moti-
vierung müßte jede Spur von Anteilnahme beim ZuschauerS.
526 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
ersticken, wenn sich nichts Ernsteres hinter ihr verbårge.
Dann wire aber auch das Stick psychologisch unmöglich,
denn der Dichter muß bei uns einen geheimen Hintergrund
von Sympathie fiir seinen Helden zu schaffen verstehen, wenn
wir 010 Bewunderung für seine Kühnheit und Geschicklichkeit
ohne inneren Einspruch verspüren sollen, und solche Sym-
pathie kann nur im Verständnis, im Gefühle einer möglichen
inneren Gemeinschaft mit ihm, begründet sein,Ich meine darum, der Monolog Richards sagt nicht alles;
er deutet bloß an und unterläßt es uns, das Angedeutete aus-
zuführen, Wenn wir aber diese Vervollständigung vornehmen,
dann schwindet der Anschein von Frivolität, dann kommt
die Bitterkeit und Ausführlichkeit, mit der Richard seine
Mibgestalt geschildert hat, zu ihrem Rechte, und uns wird
die Gemeinsamkeit klar gemacht, die unsere Sympathie auch
für den Bösewicht erzwingt. Es heißt dann: Die Natur hat
ein schweres Unrecht an mir begangen, indem sie mir die
Wohlgestalt versagt hat, welche die Liebe der Menschen ge-
winnt. Das Leben ist mir eine Entschädigung dafür schuldig,
die ich mir holen werde. Ich habe den Anspruch darauf, eine
Ausnahme zu sein, mich über die Bedenken hinwegzusetzen,
durch die sich andere hindern lassen. Ich darf selbst Un-
recht tun, denn an mir ist Unrecht geschehen, — und nun
fühlen wir, daß wir selbst so werden könnten wie Richard,
ja daß wir es im kleinen ATaBstabe bereits sind. Richard
ist eine gigantische Vergrößerung dieser einen Seite, die wir
auch in uns finden. Wir glauben alle Grund zu haben, daß
wir mit Natur und Schicksal wegen kongenitaler und infan-
tiler Benachteiligung grollen; wir fordern alle Entschådigung
für frühzeitige Krånkungen unseres Narzifmus, unserer Eigen-
liebe. Warum hat uns die Natur nicht die goldenen LockenS.
XXIX. CHARAKTERTYPEN AUS DER PSYCHOANALYT. ARBEIT. 527
T
Balders geschenkt oder die Stürke Siegfrieds oder die hohe
Stime des Genies, den edlen Gesichtsschnitt des Aristokraten?
Warum sind wir in der Bürgerstube geboren anstatt im Kónigs-
schloß? Wir würden es ebenso gut treffen, schön und vor-
nehm zu sein, wie alle, die wir jetzt darum beneiden müssen.Es ist aber eine feine ókonomische Kunst des Dichters,
daf er seinen Helden nicht alle Geheimnisse seiner Moti-
vierung laut und restlos aussprechen läßt. Dadurch nôtigt
er uns, sie zu ergànzen, beschäftigt unsere geistige Tätigkeit,
lenkt sie vom kritischen Denken ab, und hält uns in der
Identifizierung mit dem Helden fest. Ein Stiimper an seiner
Stelle würde alles, was er uns mitteilen will, in bewuBten
Ausdruck fassen und fånde sich dann unserer kiihlen, frei
beweglichen Intelligenz gegenüber, die eine Vertiefung der
Ilusion unmöglich macht.Wir wollen aber die „Ausnahmen“ nicht verlassen, ohne
zu bedenken, daß der Anspruch der Frauen auf Vorrechte
und Befreiung von so viel Nôtigungen des Lebens auf dem
selben Grunde ruht. Wie wir aus der psychoanalytischenArbeit erfahren, betrachten sich die Frauen als infantil ge-
schädigt, ohne ihre Schuld um ein Stück verkürzt und'zu-
rückgesetzt, und die Erbitterung so mancher Tochter gegen
ihre Mutter hat zur letzten Wurzel den Vorwurf, daß sie sie
als Weib anstatt als Mann zur Welt gebracht hat.EL
DIE AM ERFOLGE SCHEITERN.
Die psychoanalytische Arbeit hat uns den Satz geschenkt:
Die Menschen erkranken neurotisch infolge der Versagung.
Die Versagung der Befriedigung für ihre libidinósen Wünsche
ist gemeint, und ein längerer Umweg ist nötig, um den SatzS.
528 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
zu verstehen. Denn zur Entstehung der Neurose bedarf es
eines Konfliftes zwischen den libidinósen Wünschen eines
Menschen und jenem Anteil seines Wesens, den wir sein Ich
heißen, der Ausdruck seiner Selbsterhaltungstriebe ist und
seine Ideale von seinem eigenen Wesen einschließt. Ein sol-
cher pathogener Konflikt kommt nur dann zu stande, wenn
Sich die Libido auf Wege und Ziele werfen will die vom
Ich längst überwunden und geächtet sind, die es also auch
für alle Zukunft verboten hat, und das tut die Libido erst
dann, wenn ihr die Móglichkeit'einer ichgerechten idealen
Befriedigung benommen ist. Somit wird die Entbehrung, die
Versagung einer realen Befriedigung die erste Dedingung für
die Entstehung der Neurose, wenn auch lange nicht die
einzige.Um so mehr muf es überraschend, ja verwirrend wirken,
wenn man als Arzt die Erfahrung macht, daB Menschen ge-
legentlich gerade dann erkranken, wenn ihnen ein tief be-gründeter und lange gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen
ist. Es sieht dann so aus, als ob sie ihr Glück nicht ver-
tragen würden, denn an dem ursáchlichen Zusammenhange
zwischen dem Erfolge und der Erkrankung kann man nicht
zweifeln. So hatte ich Gelegenheit, in das Schicksal einerFrau Einsicht zu nehmen, das ich als vorbildlich für solche
tragische Wendungen beschreiben will.Von guter Herkunft und wohlerzogen, konnte sie als ganz
junges Madchen ihre Lebenslust nicht zügeln, rib sich vom
Elternhause los und trieb sich abenteuernd in der Welt her-
um, bis sie die Bekanntschaft eines Künstlers machte, der
ihren weiblichen Reiz zu schätzen wußte, aber auch die feinere
Anlage an der Herabgewürdigten zu ahnen verstand. Er nahm
sie in sein Haus und gewann an ihr eine treue Lebensge-S.
XXIX. CHARAKTERTYPEN AUS DER PSYCHOANALYT. ARBEIT. 529
fåhrtin, der zum vollen Glück nur die bürgerliche Rehabili-
tierung zu fehlen schien, Nach jahrelangem Zusammenleben
setzte er es durch, daß seine Familie sich mit ihr befreun-
dete, und war nun bereit, sie zu seiner Frau vor dem Gesetze
zu machen. In diesem Moment begann sie zu versagen. Sie
vernachlissigte das Haus, dessen rechtmäßige Herrin sie nun
werden sollte, hielt sich fiir verfolgt von den Verwandten,
die sie in die Familie aufnehmen wollten, sperrte dem Manne
durch sinnlose Eifersucht jeden Verkehr, hinderte ihn an
seiner künstlerischen Arbeit und verfiel bald in unheilbare
seelische Erkrankung. |Eine andere Beobachtung zeigte mir einen höchst respek-
tablen Mann, der, selbst akademischer Lehrer, durch viele
Jahre den begreiflichen Wunsch genåhrt hatte, der Nach-
folger seines Meisters zu werden, der ihn selbst in die Wis--
senschaft eingeführt hatte. Als nach dem Rücktritte jenes
Alten die Kollegen ihm mitteilten, daß kein anderer als er
zu dessen Nachfolger ausersehen sei, begann er zaghaft zu
werden, verkleinerte seine Verdienste, erklärte sieh für un-
würdig, die ihm zugedachte Stellung auszufüllen, und ver.
fiel in eine Melancholie, die ihn für die nächsten Jahre von
jeder Tätigkeit ausschaltete.So verschieden diese beiden Fille sonst sind, so treffen
sie doch in dem einen zusammen, daB die Erkrankung auf
die Wunscherfüllung hin auftritt und den Genuß derselben
zunichte macht.Der Widerspruch zwischen solchen Erfahrungen und dem
Satze, der Mensch erkranke an Versagung, ist nicht unlósbar.
Dis Unterscheidung einer åuBerlichen von einer inneren
Versagung hebt ihn auf. Wenn in der Realität das Objekt
weggefallen ist, an dem die Libido ihre Befriedigung findenFreud, Neurosenlehre. IV. 34
S.
530 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.
<
kann, so ist dies cine duBerliche Versagung. Sie ist an sich
wirkungslos, noch nicht pathogen, solange sich nicht cine
innere Versagung zu ihr gesellt. .Diese mul vom lch aus-
gehen und der Libido andere Objekte streitig machen, deren
sie sich nun bemåchtigen will: Erst dann entsteht ein Kon-
flikt und die Möglichkeit einer neurotischen Erkrankung,
d. h. einer Ersatzbefriedigung auf dem Umwege über das
verdrångte Unbewufte. Die innere Versagung kommt also
in allen Fällen in Betracht, nur tritt sie nicht eher in Wir-
kung, als bis die äuBerliche reale Versagung die Situation
für sie vorbereitet hat. In den Ausnahmsfållen, wenn die
Menschen am Erfolge erkranken, bat, ie innere Versagung
fiir sich allein gewirkt, ja sie ist erst hervorgetreten, nach-
dem die åuferliche Versagung der Wunscherfüllung Platz
gemacht, hat. Daran bleibt etwas für den ersten Anschein
Auffälliges, aber bei näherer Erwägung besinnen wir uns
doch, es sei gar nicht ungewöhnlich, daß das Ich einen Wunsch
als harmlos toleriert, solange er ein Dasein als Phantasie
führt und ferne von der Erfüllung scheint, während es sich
scharf gegen ihn zur Wehr setzt, sobald er sich der Erfül-
lung nähert und Realität zu werden droht. Der Unterschied
gegen wohlbekannte Situationen der Neurosenbildung liegtnur darin, daß sonst innerliche Steigerungen der Libidobe-
setzung die bisher geringgeschiitzte und geduldete Phantasie
zum gefürchteten Gegner machen, während in unseren Fällen
das Signal zum Ausbruch des Konfliktes durch eine reale
äußere Wandlung gegeben. wird.Die analytische Arbeit zeigt uns leicht, daß es Gewis-
sensmächte sind, welche der Person verbieten, aus derglücklichen realen Veränderung den lange erhofften Gewinn
zu ziehen. Eine schwierige Aufgabe aber ist es, Wesen undS.
XXIX. CHARAKTERTYPEN AUS DER PSYCHOANALYT. ARBEIT. 531
Herkunft dieser richtenden und strafenden Tendenzen zu er-
kunden, die uns durch ihre Existenz oft dort überraschen,
wo wir sie zu finden nicht erwarteten. Was wir dariiber wissen
oder vermuten, will ich aus den bekannten Gründen nicht
an Fallen der ärztlichen Beobachtung, sondern an Gestalten
erörtern, die große Dichter aus der Fille ihrer Seelenkenntnis
erschaffen haben.Eine Person, die nach erreichtem Erfolge zusammen-
bricht, nachdem sie mit unbeirrter Energie um ihn gerun-
gen hat, ist Shakespeares Lady Macbeth. Es ist vor-
her kein Schwanken und kein Anzeichen eines inneren Kamp-
fes in ihr, kein anderes Streben, als die Bedenken ihres ehr-
geizigen und doch mildfühlenden Mannes zu besiegen. DemMordvorsatz will sie selbst ihre Weiblichkeit opfern, ohne
zu erwägen, welch entscheidende Rolle dieser Weiblichkeit
zufallen muß, wenn es dann gelten soll, das durch. Verbrechen
erreichte Ziel ihres Ehrgcizes zu behaupten,(Akt I, Szene 5):
„Kommt, ihr Geister,
ihr auf Mordgedanken lauscht, entweibt mich.*— — — An meine Brüste,
Mordshelfer! Saugt mir Milch zu Galle"Akt I, Szene 7):
„Ich gab die Brust und. weiß,
Wie zärtlich man das Kind liebt, das man tränkt.
Und doch, dioweil és mir ins Antlitz lächelt,
Wollt' reißen ich von meinem Mutterbusen
Sein zahnlos Miindlein, und sein Hirn ausschmettern,Hått ich's geschworen, wie du jenes schwurst!“
Eine einzige leise Regung des Widerstrebens ergreift sie
vor der Tat:84%
S.
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
(Akt IT, ‚Szene 2):
»Hått er geglichen meinem Vater nicht
Als er so schlief, ich hätts getan.“Nun, da sie Königin geworden durch den Mord an Dun-
can, meldet sich flüchtig etwas wie eine Enttäuschung, wie
cin Uberdrub. Wir wissen nicht, woher.(Akt III, Szene 2):
„Nichts hat man, alles Lüge,
Gelingt der Wunsch, und fehlt doch die Geniige,
"s ist sichrer ‘das zu sein, was wir zerstören,Als durch Zerstörung ew'ger Angst zu schwören.“
Doch hält sie aus. In der nach diesen Worten folgenden
Szene des Banketis bewahrt sie allein die Besinnung, deckt
die Verwirrung ihres Mannes, findet einen Vorwand, um die
Gäste zu entlassen. Und dann entschwindet sie uns. Wir
sehen sie (in der ersten Szene des fünften Aktes) als Som-
„nambule wieder, an die Eindrücke jener Mordnacht fixiert.
Sie spricht ihrem Manne wieder Mut zu wie damals:»Pfui, mein Gemahl, pfui, ein Soldat und furchtsam? — Was
haben wir zu fürchten, wer es weiß? Niemand zicht unsere Machtzur Rechenschaft.“ ー 一 一
Sie hört das Klopfen ans Tor, das ihren Mann nach
der Tat erschreckte. Daneben aber bemüht sie sich, „die
Tat ungeschehen zu machen, dic nicht mehr ungeschehen
werden kann, Sie wäscht ihre Hände, die mit Blut befleckt
sind und nach Blut riechen, und wird der Vergeblichkeit
dieser Bemühung bewußt. Die Reue scheint sie niedergewor-
fen zu haben, die so reuelos schien. Als sie stirbt, findet
Macbeth, der unterdes so unerbittlich geworden ist, wie sie
sich anfänglich zeigte, nur die eine kurze Nachrede für sie:S.
XXIX. CHARAKTERTYPEN AUS DER PSYCHOANALYT. ARBEIT. 533
(Akt V, Szene 5):
„Sie konnte später sterben.
Es war noch Zeit genug für solch ein Wort.“Und nun fragt man sich, was hat diesen Charakter zer-
brochen, der aus dem härtesten Metall geschmiedet schien?
Ist's nur die Enttäuschung, das andere Gesicht, das die voll-
zogene Tat zeigt, sollen wir rickschlicBen, daß auch in der
Lady Macbeth ein ursprünglich weiches und weiblich. mildes
Seelenleben sich zu einer Konzentration und Hochspannung
emporgearbeitet hatte, der keine Andauer beschieden sein
konnte, oder dürfen wir nach Anzeichen forschen, die uns
diesen Zusammenbruch durch eine tiefere Motivierung mensch-
lich näher bringen?Ich halte es für unmöglich, hier eine Entscheidung zu
treffen. Shakespeares Macbeth ist ein Gelegenheits-
stück, zur Thronbesteigung des bisherigen Schottenkönigs
James gedichtet. Der Stoff war gegeben und gleichzeitig
von anderen Autoren behandelt worden, deren Arbeit Shake-
speare wahrscheinlich in gewohnter Weise genützt hat.
Er bot ‚merkwürdige Anspielungen an die gegenwärtige
Situation, Die „jungfräuliche“ Elisabeth, von der ein Gerede
wissen wollte, daß sic nie im stande gewesen wäre, ein Kind
zu gebären, die sich, einst bei der Nachricht von James’
Geburt im schmerzlichen Aufschrei als „einen dürren Stamm“
bezeichnet hatte*), war eben durch ihre Kinderlosigkeit ge-
nötigt worden, den Schottenkönig zu ihrem Nachfolger wer-*) Vgl. Macbeth (Akt II, Szene 1):
„Auf mein Haupt setzten sie unfruchtbar Gold,
Fin dürres Zepter reichten sie der Faust,
Daß es entgleite dann in fremde Hand,
Da nicht mein Sohn mir nachfolgt. — — —S.
534 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.
den zu lassen. Der war aber der Sohn jener Maria, deren
Hinrichtung sie, wenn auch widerwillig, angeordnet hatte,
und die trotz aller Trübung der Bezichungen durch politische
Rücksichten doch ihre Blutsverwandte und ihr Gast genannt
werden konnte.Die Thronbesteigung Jakobs I. war wie eine Demonstra-
tion des Fluches der Unfruchtbarkeit und der Segnungen der
fortlaufenden Generation. Und auf diesen namlichen Gegen-
satz ist die Entwicklung in Shakespeares Macbeth eingestellt.
Die Schicksalsschwestern haben ihm verheiben, daß er selbst
Konig werden, dem Banquo aber, daß seine Kinder die Krone
überkommen sollen, Macbeth empört sich gegen diesen Schick-
salsspruch, er begniigt sich nicht mit der Befriedigung des
eigenen Ehrgeizes, er will Gründer einer Dynastie sein und
nicht zum Vorteile Fremder gemordet haben. Man übersieht
diesen Punkt, wenn man in Shakespeares Stiick nur die Tra-
gôdie des Ehrgeizes erblicken will. Es ist klar, da Macbeth
selbst nicht ewig leben kann, so gibt es fiir ihn nur einen
Weg, den Teil der Prophezeiung, der ihm widerstrebt, zu
entkråften, wenn er nämlich selbst Kinder hat, die ihm nach-
folgen-konnen. Er scheint sie auch von seinem starken Weibezu erwarten:
(Akt I, Szene 7):„Du, gebier nur Söhne,
Nur Månner sollte dein unschreckbar Mark
Zusammensetzen.“Und ebenso klar ist, wenn er im dieser Erwartung ge-
täuscht wird, dann muß er sich dem Schicksal unterwerfen,
oder sein Handeln verliert Ziel und Zweck und verwandeit
sich in das blinde Wiiten eines zum Untergange Verurteilten,
der vorher noch, was ihm crreichbar ist, vernichten. will. WirS.
XXIX..CHARAKTERTYPEN AUS DER PSYCHOANALYT. ARBEIT. 535
schen, daß Macbeth diese Entwicklung durchmacht, und auf
der Hohe der Tragödie finden wir jenen erschütternden, so
oft schon als vieldeutig erkannten Ausruf, der den Schlüssel
für seine Wandlung, enthalten könnte, den Ausruf Mac-
duffs:(Akt IV, Szene 3):
„Er hat keine Kinder.“
Das heißt gewiß: Nur weil er selbst kinderlos ist, konnte
er meine Kinder morden, aber es kann auch mehr in sich .
fassen und vor allem könnte er das tiefste Motiv bloBlegen,
welches sowohl Macbeth weit über seine Natur hinausdrångt,
als auch den Charakter der harten Frau an seiner einzigen
schwachen Stelle trifft. Hält man aber Umschau von dem
Gipfelpunkt, den diese Worte Macduffs bezeichnen, so sicht
man das ganze Stück von Bezichungen auf das Vater-Kinder-
verhältnis durchset%t. Der Mord des gütigen Duncan ist
wenig anders als cin Vatermord; im Falle /Banquos hat Mac-
beth den Vater getötet, während ihm der Sohn entgeht; bei
Macduff tötet er die Kinder, weil ihm der Vater entflohen
ist. Ein blutiges und gekrôntes Kind lassen ihm die Schick-
salsschwestern in der Beschwórungszene erscheinen; das be-
waffnete Haupt vorher ist wohl Macbeth selbst. Im Hinter-
grunde aber erhebt sich die diistere Gestalt des Råchers Mac-
duff, der selbst eine Ausnahme von den Gesetzen der Ge-
neration ist, da er nicht von seiner Mutter geboren, sondern
aus ihrem Leib geschnitten wurde.Es wire nun durchaus im Sinne der auf Talion auf-
gebauten poetischen Gerechtigkeit, wenn die Kinderlosigkeit
Macbeths und die Unfruchtbarkeit seiner Lady die Strafewären fiir ihre Verbrechen gegen die Heiligkeit der Genera-
tion, wenn Macbeth nicht Vater werden kónnte, weil er den
S.
536 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
Kindern den Vater und dem Vater die Kinder geraubt, und
wenn sich so an der Lady Macbeth die Entweibung voll-
zogen hätte, zu der sie die Geister des Mordes aufgerufen
hat. Ich glaube, man verstünde ohneweiters die Erkrankung
der Lady, die Verwandlung ihres Frevelmutes in Reue, als
Reaktion auf ihre Kinderlosigkeit, durch die sie von ihrer
Ohnmacht gegen die Satzungen der Natur iiberzeugt und
gleichzeitig daran gemahnt wird, daß ihr Verbrechen durch
ihr cigenes Verschulden um den besseren Teil seines Ertrages
gebracht worden ist. 3In der Chronik von Holinshed (1577), aus weleher
Shakespeare den Stoff des Macbeth schópfte, findet
die Lady nur eine einzige Erwähnung als Ehrgeizige, die
ihren Mann zum Morde aufstachelt, um selbst Kónigin zu
werden, Von ihren weiteren Schicksalen und von einer Ent-
wicklung ihres Charakters ist nicht'die Rede. Dagegen
scheint es, als ob dort die Wandlung im Charakter Mac-
beths zum blutigen Wüterich ähnlich motiviert werden
sollte, wie wir es eben versucht haben. Denn bei Holinshed
liegen zwischen dem Morde an Duncan, durch den Macbeth
Kónig wird, und seinen weiteren Missetaten zehn Jahre,in denen er sich als strenger, aber gerechter Herrscher er-
weist. Erst nach diesem Zeitraume tritt. bei ihm die Ån-derung ein, unter dem Einflusse der quålenden Befürchtung,
daß die Banquo erteilte Prophezeiung sich ebenso erfüllen
könne, wie die seines eigenen Schicksals, Nun erst läßt er
Banquo tóten und wird wie bei Shakespeare von einem Ver-
brechen zum anderen fortgerissen. Es wird auch bei Holin-
- shed nicht ausdrücklich gesagt, daß es seine Kinderlosigkeit
ist, welche ihn auf diesen Weg treibt, aber es bleibt Zeit
und Raum für diese naheliegende Motivierung. Anders beiS.
XXIX. CHARAKTERTYPEN AUS DER PSYCHOANALYT. ARBEIT. 537
Shakespeare. In atemraubender Hast jagen in der Tragödie
die Ereignisse an uns vorüber, so daß sich aus den Angaben
der Personen im Stücke etwa eine Woche als die Zeitdauer
ihres Ablaufes berechnen läBt.*) Durch diese Beschleuni-
gung wird all unseren Konstruktionen über die Motivierung E
des Umschwungs im Charakter Macbeths und seiner Lady
der Boden entzogen. Es fehlt die Zeit, innerhalb welcher die
fortgesetzte Enttáuschung der Kinderhoffnung das Weib zer-
mürben und den Mann in trotzige Raserei treiben könnte,
und es bleibt der Widerspruch bestehen, daß so viel feine
Zusammenhänge innerhalb des Stückes und zwischen ihm
und seinem Anlaf ein Zusammentreffen im Motiv der Kinder-
losigkeit anstreben, während die zeitliche Ökonomie der Tra-
gödie eine Charakterentwicklung aus anderen als den inner-
lichsten Motiven ausdrücklich ablehnt.Welches aber diese Motive sein können, die in so kurzer
Zeit aus dem zaghaften Ehrgeizigen einen hemmungslosen
Wüterich und aus der stahlharten Anstifterin eine von Reue
zerknirschte Kranke machen, das läßt sich meines Erachtens
nicht erraten. Ich meine, wir müßten darauf verzichten, das
dreifach geschichtete Dunkel zu durchdringen, zu dem sich
die schlechte Erhaltung des Textes, die unbekannte Inten-
tion des Dichters und der geheime Sinn der Sage hier ver-
dichtet haben. Ich möchte es auch nicht gelten lassen, daß
jemand einwende, solche Untersuchungen seien müßig ange- ⑥
sichts der großartigen Wirkung, die die Tragödie auf den
Zuschauer ausübt. Der Dichter kann uns zwar durch seine
Kunst während der Darstellung überwältigen und unser Den-
ken dabei lihmen, aber er kann uns nicht daran hindern,う J. Darmstetter, Macbeth, Edition classique, p. LXXV, Paris
1887. AS.
588 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
daB wir uns nachträglich bemühen, diese Wirkung aus ihrem
psychologischen :Mechanismus zu begreifen. Auch die Be-
merkung, es stehe dem Dichter frei, die natirliche Zeitfolge
der von ihm vorgefiihrten Begebenheiten in beliebiger Weiso
zu verkiirzen, wenn er durch das Opfer der gemeinen Wahr-
scheinlichkeit cine Steigerung des dramatischen Effekts er-
zielen kann, scheint mir hier nicht an ihrem Platze, Denn
ein solches Opfer ist doch nur zu rechtfertigen, wo es bloß
die Wahrscheinlichkeit stórt*), aber nicht, wo es die kausale
Verknipfung aufhebt, und der dramatischen” Wirkung wäre
kaum Abbruch geschehen, wenn der Zeitablauf unbestimmt
gelassen wäre, anstatt durch ausdrückliche Äußerungen auf
wenige Tage eingeengt zu werden.Es fällt so schwer, ein Problem wie das des Macbeth
als unlösbar zu verlassen, daß ich noch den Versuch wage,
eine Bemerkung anzufügen, die nach cinem neuen Ausweg
weist. Ludwig Jekels hat kürzlich in einer Shakespeare-
Studie ein Stück der Technik des Dichters zu erraten ge-
glaubt, welches auch fiir Macbeth in Betracht kommen könnte,
Er meint, daß Shakespeare häufig einen Charakter in zwei
Personen zerlegt, von denen dann jede unvollständig begreif-
lich erscheint, solange man sie nicht mit der anderen wie-
derum zur Einheit zusammensetzt. So könnte es auch mit
Macbeth und der Lady sein, und dann würde es natürlich
zu nichts führen, wollte man sie als selbständige Person
fassen und nach der Motivierung ihrer Umwandlung for-
schen, ohne auf den sie ergänzenden Macbeth Rücksicht zu
nehmen. Ich folge dieser Spur nicht weiter, aber ich will
doch anführen, was in so auffälliger Weise diese Auffassung*) Wie in der Werbung Richards 111. um Anna, an der Bahre
des von'ihm ermordeten Königs. |S.
XXIX. CHARAKTERTYPEN AUS DER PSYCHOANALYT. ARBEIT. 539
stützt, daß die Angstkeime, die in der Mordnacht bei Mac-
beth hervorbrechen, nicht bei ihm, sondern bei der Lady zur
Entwicklung gelangen. や ) Er ist cs, der vor der Tat die Hal-
luzination des Dolches gehabt hat, aber sie, die später der
geistigen Erkrankung verfällt; er hat nach dem Morde im
Hause schreien gehört: Schlaft nicht mehr, Macbeth mordet
den Schlaf und also soll Macbeth nicht mehr schlafen, aber
wir vernchmen nichts davon, daß König Macbeth nicht mehr
schläft, während wir sehen, daß die Königin aus ihrem Schlafe
aufsteht und nachtwandelnd ihre Schuld verrät; er stand
hilflos da mit blutigen Händen und klagte, daß all des Meer-
gottes Flut nicht reinwasche seine Hand; sie tröstete da-
mals: Ein wenig Wasser spült uns ab die Tat, aber damn
ist sic es, die cine Viertelstunde lang ihre Hände wäscht
und die Befleckung des Blutes nicht beseitigen kann. , Alle
Wohlgeriiche Arabiens machen nicht süßduftend diese kleine
Hand.“ (Akt V, Szene 1.) So erfüllt sich an ihr, was er in
seiner Gewissensangst gefürchtet; sie wird die Reue nach
der Tat, er wird der Trotz, sie erschopfen miteinander die
Möglichkeiten der Reaktion auf das Verbrechen, wie zwei
uneinige Anteile einer einzigen psychischen Individualität und
vielleicht Nachbilder eines einzigen Vorbildes.Haben wir an der Gestalt der Lady Macbeth dic Frage
nicht beantworten können, warum sic nach dem Erfolge als
Kranke zusammenbricht, so winkt uns vielleicht eine bessere
Aussicht bei der Schöpfung eines anderen großen Dramatikers,
der die Aufgabe der psychologischen Rechenschaft ‚mit. un-
nachsichtiger Strenge zu verfolgen. liebt.Rebekka Gamvik, die "Tochter einer Hebamme, ist von
ihrem Adoptivvater Doktor West zur Freidenkerin und Ver-ー の Vgl. Darmstetterl с.
S.
540 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
åchterin jener Fesseln erzogen worden, welche eine auf reli-
giôsem Glauben gegründete Sittlichkeit den Lebenswünschen
anlegen möchte. Nach dem Tode des Doktors verschafft sie
sich Aufnahme in Rosmersholm, dem Stammsitze eines
alten Geschlechtes, dessen Mitglieder das Lachen nicht ken-
nen und die Freude einer starren Pflichterfillung geopfert
haben. Auf Rosmersholm hausen der Pastor Johannes Rosmer
und seine krånkliche, kinderlose Gattin Beate. ,,Von wildem,
unbezwinglichem Gelüst“ nach der Liebe des adeligen Mannes
ergriffen, beschließt Rebekka, dic Frau, die ihr im Wege
steht, wegzuråumen, und bedient sich dabei ihres „mutigen,
freigeborenen“, durch keine Riicksichten gehemmten Willens.
Sie spielt ihr ein årztliches Buch in die Hand, in dem die
Kinderzougung als der Zweck der Ehe hingestellt wird, so
daf die Arme an der Berechtigung ihrer Ehe irre wird, ‘sie
laBt sie erraten, daß Rosmer, dessen Lektüre und Gedanken-
gänge sie teilt, im Begriffe ist, sich vom alten Glauben los-
zumachen und die Partei der Aufklärung zu nehmen, und
nachdem sie so das Vertrauen der Frau in die sittliche Ver-
laBlichkeit ihres Mannes erschüttert hat, gibt sic ihr end-
lich zu verstehen, daß sie selbst, Rebekka, bald das Haus
verlassen. wird, um die Folgen eines unerlaubten Verkehrs
mit Rosmer zu verheimlichen. Der verbrecherische Plan ge-
Jingt. Die arme Frau, die für schwermütig und unzurech-
nungsfåhig gegolten hat, -stürzt sich vom Mühlensteg herab
ins Wasser, im Gefühle des eigenen Unwertes und um dem
Glücke des geliebten Mannes nicht im Wege zu sein.Seit Jahr und Tag leben nun Rebekka und Rosmer allein
auf Rosmersholm in einem Verhältnis, welches er für eine
rein geistige und ideelle Freundschaft halten will. Als aber
von aufen her die ersten Schatten der Nachrede auf diesesS.
XXIX. CHARAKTERTYPEN AUS DER PSYCHOANALYT. ARBEIT. 541
Verhältnis fallen, und gleichzeitig quålende Zweifel in Ros-
mer rege gemacht werden, aus welchen Motiven seine Frau
in den Tod gegangen ist, bittet er Rebekka seine zweite Frau
zu werden, um der traurigen Vergangenheit eine neue leben-
dige Wirklichkeit entgegenstellen zu können. (Akt ТГ) Bre
jubelt bei diesem Antrage einen Augenblick lang auf, aber
schon im nächsten erklärt sie, es sei unmöglich, und wenn
er weiter in sie dringe, werde sie „den Weg gehen, den Beategegangen ist“. Verstindnislos nimmt Rosmer diese Abweisung
entgegen; noch unverståndlicher ist sie aber für uns,
die wir mehr von Rebekkas Tun und Absichten wissen.
Wir dürfen bloß nicht daran zweifeln, daß ihr Nein ernst
gemeint. ist.Wie konnte es kommen, daß die Abenteurerin mit dem
mutigen, freigeborenen Willen, die sich ohne jede Rücksicht
den Weg zur Verwirklichung ihrer Wünsche ‘gebahnt, nun
nicht zugreifen will, da ihr angeboten wird, die Frucht des
Erfolges zu pflicken? Sie gibt uns selbst die Aufklärung
im vierten Akt: „Das ist. doch eben das Furchtbare, jetzt,
da alles Glick der Welt mir mit vollen Händen geboten
wird, — jetzt bin ich eine solche geworden, daß meine eigene
Vergangenheit mir den Weg zum Glick versperrt.“ Sie ist
also eine andere geworden unterdes, ihr Gewissen ist er-
wacht, sie hat ein Schuldbewuftsein bekommen, welches ihr
den Genuß versagt.Und wodurch wurde ihr Gewissen geweckt? Hören wir
sie. selbst und überlegen wir dann, ob wir ihr voll Glauben
Schenken dürfen: „Es ist die Lebensanschauung des Hauses
Rosmer — oder wenigstens deine Lebensanschauung, — die
meinen Willen angesteckt hat. ... Und ihn krank gemacht
hat, Ihn geknechtet hat mit Gesetzen, die früher für mich `S.
542 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
nicht gegolten haben. Das Zusammenleben mit dir, — du,
das hat meinen Sinn geadelt.“
Dieser Einfluß, ist hinzuzunehmen, hat sich ‚erst geltend
gemacht, als sie mit Rosmer allein zusammenleben durfte;
ョ ー in Stille, — in Einsamkeit, — als du mir deine Ge
danken alle ohne Vorbehalt gabst, — eine jegliche Stim-
mung, so weich und so fein wie du sie fühltest, — da trat
die großes Umwandlung ein.“Kurz vorher hatte sie die andere Seite dieser Wandlung
beklagt: „Weil Rosmersholm mir die Kraft genommen hat,
hier ist mein mutiger Wille gelähmt worden. Und verschan-
delt! Für mich ist die Zeit vorbei, da ich alles und jedes
wagen durfte. Ich habe die Energie zum Handeln verloren,
Rosmer.*Diese Erklärung gibt Rebekka, nachdem sie sich durch
ein freiwilliges Geständnis vor Rosmer und dem Rektor Kroll,
dem Bruder der von ihr beseitigten Frau, als Verbrecherin
bloBgestellt hat. Ibsen hat durch kleine Ziige von meister-
hafter Feinheit festgelegt, daß diese Rebekka nicht ligt,
aber auch nie ganz aufrichtig ist. Wie sie trotz aller Freiheit
von Vorurteilen ihr Alter um ein Jahr herabgesetzt hat, so
ist auch ihr Geständnis vor den beiden Männern unvollstån-
dig und wird durch das Drängen Krolls in einigen wesent-
lichen Punkten ‚ergänzt. Auch uns bleibt die Freiheit anzu-
nehmen, daß die Aufklärung ihres Verzichts das eine nur
preisgibt, um ein anderes zu verschweigen.Gewiß, wir haben keinen Grund, ihrer Aussage zu miß-
trauen, daß die Luft auf Rosmersholm, ihr Umgang mit dem
edlen Rosmer, veredelnd und — låhmend auf sie gewirkt hat.
Sie sagt damit, was sie weiß und empfunden hat. Aber es
brauchte nicht alles zu sein, was in ihr vorgegangen ist;S.
XXIX. CHARAKTERTYPEN AUS DER PSYCHOANALYT. ARBEIT. 548
auch ist es nicht notwendig, daß sie sich über alles Rechen-
schaft geben konnte. Der Einfluß Rosmers konnte auch nur
ein Deckmantel scin, hinter dem sich eine andere Wirkung
verbirgt, und nach dieser anderen Richtung weist ein be-
merkenswerter Zug.Noch nach ihrem Geståndnis, in der letzten Unterredung;
die das Stiick beendet, bittet sie Rosmer nochmals, seine
Frau zu werden. Er verzeiht ihr, was sic aus Licbe zu ihm
verbrochen hat. Und nun antwortet sie nicht, was sie sollte,
daß keine Verzeihung ihr das Schuldgefühl nehmen könne,
das sie durch den tückischen Betrug an der armen Beate
erworben, sondern sie belastet sich mit einem anderen Vor-
wurf, der uns bei der Freidenkerin fremdartig berühren muß,
keinesfalls die Stelle verdient, an die er von Rebekka gesetzt
wird: ,Ach, mein Freund, — komm nie wieder darauf! Es
ist ein Ding der Unméglichkeit —! Denn du muBt wissen,
Rosmer, ich habe eine Vergangenheit.“ Sie will natiirlich an-
deuten, daß sie sexuelle Beziehungen zu einem anderen Manne
gehabt hat, und wir wollen uns merken, daß ihr diese Bezie-
hungen zu einer Zeit, da sie frei und niemandem verantwort-
lich war, ein stårkeres Hindernis der Vereinigung mit Ros-
mer diinken als ihr wirklich verbrecherisches Benehmen gegen
seine Frau.Rosmer lehnt es ab, von dieser Vergangenheit zu hören,
Wir können sie erraten, obwohl alles; was dahin weist, im
Stücke sozusagen unterirdisch bleibt und aus Andeutungen
erschlossen werden muß. Aus Andeutungen freilich, die mit
solcher Kunst eingefügt sind, daß ein Mißverständnis der-
selben unmöglich wird.Zwischen Rebekkas erster Ablehnung und ihrem Gestånd-
nis geht etwas vor, was von entscheidender Bedeutung für
S.
544 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
ihr weiteres Schicksal ist. Der Rektor Kroll besucht sie,
um sie durch die Mitteilung zu demütigen, er wisse, daß sie
ein illegitimes Kind sei, die Tochter eben jenes Doktors West,
der sie nach dem Tode ihrer Mutter adoptiert hat. Der Haß
hat seinen Spürsinn geschärft, aber er meint nicht, ihr damit
etwas Neues zu sagen. „In der Tat, ich meinte, Sie wüßten
ganz genau Bescheid, Es wäre doch sonst recht merkwürdig
gewesen, daß Sie sich von Doktor West adoptieren ließen —-.“
„Und da nimmt er Sie zu sich — gleich nach dem Tode
Ihrer Mutter. Er behandelt Sie hart. Und doch bleiben Sie
bei ihm. Sie wissen, daß er Ihnen nicht einen Pfennig hin-
terlassen wird. Sie haben ja auch nur eine Kiste Bücher
bekommen. Und doch halten Sie bei ihm aus. Ertragen seine
Launen. Pflegen ihn bis zum letzten Augenblick.“ — „Was
Sie für ihn getan haben, das leite ich aus dem natürlichen
Instinkt der Tochter her. Ihr ganzes übriges Auftreten halte
ich für ein natürliches Ergebnis Ihrer Herkunft.“Aber Kroll war im Irrtum. Rebekka hatte nichts da-
von gewußt, daß sie die Tochter des Doktors West sein sollte.
Als Kroll mit dunklen Anspielungen auf ihre Vergangenheit
begann, mußte sie annehmen, er meine etwas anderes, Nach-
dem sie begriffen hat, worauf er sich bezieht, kann sie noch
eine Weile ihre Fassung bewahren, denn sie darf glauben,
daß ihr Feind seiner Berechnung jenes Alter zugrunde gelegt
hat, das sie ihm bei einem früheren Besuche fälschlich an-
gegeben. Aber nachdem Kroll diese Einwendung siegreich
zurückgewiesen: „Mag sein. Aber die Rechnung mag den-
noch richtig sein, denn ein Jahr, ehe er angestellt wurde,
ist West dort oben vorübergehend zu Besuch gewesen“, nach
dieser neuen Mitteilung verliert sie jeden Halt. „Das ist
nicht wahr.“ — Sie geht umher und ringt die Hände: „EsS.
XXIX. CHARAKTERTYPEN AUS DER PSYCHOANALYT. ARBEIT. 545
ist unmöglich. Sie wollen mir das bloß einreden. Das kann
ja nun und nimmermehr wahr sein. Kann nicht wahr sein!
Nun und nimmermehr —!“ Ihre Ergriffenheit ist so arg,
daß Kroll sie nicht auf seine Mitteilung zurückzuführen
vermag.Kroll: „Aber, meine Liebe, — warum um Gottes
willen, werden Sie denn so heftig? Sie machen mir ge-
radezu Angst? Was soll ich glauben und denken —!“Rebekka: „Nichts. Sie sollen weder etwas glau-
ben noch etwas denken.“Kroll: „Dann müßten Sie mir aber wirklich er-
klären, warum Sie sich diese Sache — diese Möglichkeit
so zu Herzen nehmen.“Rebekka (faßt sich wieder): „Das ist doch sehr
einfach, Herr Rektor. Ich habe doch keine Lust, fir
ein uneheliches Kind zu gelten.“Das Rätsel im Benehmen Rebekkas läßt nur eine Lösung
zu. Die Mitteilung, daß Doktor West ihr Vater sein kann,
ist der schwerste Schlag, der sie betreffen konnte, denn sie
war nicht nur die Adoptivtochter, sondern auch die Geliebte
dieses Mannes. Als Kroll seine Reden begann, meinte sie,
er wolle auf diese Beziehungen anspielen, die sie wahrschein-
lich unter Berufung auf ihre Freiheit einbekannt hätte. Aber
das lag dem Rektor ferne; er wußte nichts von dem Liebes-
verhältnis mit Doktor West, wie sie nichts von dessen Vater-
schaft. Nichts anderes als dieses Licbesverhältnis kann sie
im Sinne haben, wenn sie bei der letzten Weigerung gegen
Rosmer vorschützt, sie habe eine Vergangenheit, die sie un-
würdig mache, seine Frau zu werden. Wahrscheinlich hatte
sie Rosmer, wenn er gewollt hätte, auch nur die eine HälfteFreud, Neurosenlehre. IV. 35
S.
546 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.
ihres Geheimnisses mitgeteilt und den schwereren Anteil des-
selben verschwiegen,
Aber nun verstehen wir freilich, daß diese Vergangen-
heit ihr als das schwerere Hindernis der Eheschließung er-
scheint, als das schwerere — Verbrechen.Nachdem sie erfahren hat, daß sie die Geliebte ihres
cigenen Vaters gewesen ist, unterwirft sie sich ihrem jetzt
übermächtig hervorbrechenden SchuldgefiihI. Sie legt vor
Rosmer und Kroll das Geständnis ab, durch das sie sich
zur Môrderin stempelt, verzichtet endgültig auf das Glück,
zu dem sie sich durch Verbrechen den Weg gebahnt hatte,
und riistet zur Abreise. Aber das eigentliche Motiv ihres
SchuldbewuBtseins, welches sie am Erfolg scheitern läßt, bleibt
geheim. Wir haben gesehen, es ist noch etwas ganz anderes
als die Atmosphäre von Hosmersholm und der sittigende Ein-
fluB Rosmers.Wer uns soweit gefolgt ist, wird jetzt nicht versäumen,
einen Einwand vorzubringen, der dann manchen Zweifel recht-
fertigon kann. Die erste Abweisung Rosmers durch Rebekka
erfolgt ja vor dem zweiten Besuch Krolls, also vor seiner
Aufdeckung ihrer unehelichen Geburt, und zu einer Zeit, da
sie um ihren Inzest noch nichts weil, — wenn wir denDichter richtig verstanden haben. Doch ist diese Abweisung
energisch und ernst gemeint. Das Schuldbewuftsein, das sie
auf den Gewinn aus ihren Taten verzichten heißt, ist also
schon vor ihrer Kenntnis um ihr Kapitalverbrechen wirksam,
und wenn wir soviel zugeben, dann ist der Inzest als Quelle des
SchuldbewuDtseins vielleicht überhaupt zu streichen.Wir haben bisher Rebekka West behandelt, als wáre sie
eine lebende Person und nicht eine Schopfung der von dem
kritischesten Verstand geleiteten Phantasie des DichtersS.
XXIX, CHARAKTERTYPEN AUS DER PSYCHOANALYT. ARBEIT. 547
Ibsen. Wir dürfen versuchen, bei der Erledigung dieses Ein-
wands denselben Standpunkt festzuhalten. Der Einwand ist
gut, ein Stiick Gewissen war auch vor der Kenntnis des Inzests
bei Rebekka erwacht. Es steht nichts im Wege, fir diese
Wandlung den Einfluß verantwortlich zu machen, den Re-
bekka selbst anerkennt und anklagt. Aber damit kommen
wir von der Anerkennung des zweiten Motivs nicht frei, Das
Benehmen Rebekkas bei der Mitteilung des Rektors, ihre un-
mittelbar darauffolgende Reaktion durch das Geståndnis lassen
keinen Zweifel daran, daB erst jetzt das stårkere und das
entscheidende Motiv des Verzichts in Wirkung tritt, Es liegt
eben ein Fall von mehrfacher Motivierung vor, bei dem hinter
dem oberflächlicheren Motiv ein tieferes zum Vorschein kommt,
Gebote der poetischen Okonomie hieBen den Fall so gestalten,
denn dies tiefere Motiv sollte nicht laut erörtert werden,
es mufite gedeckt bleiben, der bequemen Wahrnehmung des
Zuhórers im Theater oder des Lesers entzogen, sonst hätten sichbei diesem schwere Widerstånde erhoben, auf die peinlich-
sten Gefühle begründet, welche die Wirkung des Schauspielsin Frage stellen kénnen.
Mit Recht dürfen wir aber verlangen, daß das vorge-
schobene Motiv nicht ohne inneren Zusammenhang mit dem
von ihm gedeckten sei, sondern sich als eine Milderung und
Ableitung aus dem letzteren erwcise. Und wenn wir dem
Dichter zutrauen dürfen, daß seine bewuBte poetische Kom-
bination folgerichtig aus unbewuBten Voraussetzungen hervor-
gegangen ist, so konnen wir auch den Versuch machen zu
zeigen, daß er diese Forderung erfüllt hat. Rebekkas Schuld-
bewubtsein entspringt aus der Quelle des Inzestvorwurfs, noch
ehe der Rektor ihr diesen mit analytischer Schärfe zum Be-
wuBtsein gebracht hat, Wenn wir ausführend und ergänzend35%
S.
548 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
ihre vom Dichter angedeutete Vergangenheit rekonstruieren,
so werden wir sagen, sic kann nicht ohne Ahnung der in-
timen Beziehung zwischen ihrer Mutter und dem Doktor
West gewesen sein. Es muß ihr einen großen Eindruck ge-
macht haben, als sie die Nachfolgerin der Mutter bei diesem
Manne “wurde, und sie stand unter der Herrschaft des
Odipuskomplexes, auch wenn sie nicht wußte, daß diese all-
gemeine Phantasie in ihrem Falle zur Wirklichkeit geworden
war. Als sie nach Rosmersholm kam, trieb sie die innere
Gewalt jenes ersten Erlebnisses dazu an, durch tatkråftiges
Handeln dieselbe Situation herbeizufiihren, die sich das erste-
mal ohne ihr Dazutun - verwirklicht hatte, die Frau und
Mutter zu beseitigen, um beim Manne und Vater ihre Stelle
einzunehmen. Sie schildert mit iiberzeugender JRindringlich-
keit, wie sie gegen ihren Willen genötigt wurde, Schritt umSchritt zur Beseitigung Beatens zu tun.
„Aber glaubt Ihr denn, ich ging und handelte mit
kühler Überlegung! Damals war ich doch nicht, was ich
heute bin, wo ich vor Euch stehe und erzähle. Und dann
gibt es doch auch, sollte ich meinen, zwei Arten Wil-
len in einem Menschen. Ich wollte Beate weg haben!
Auf irgend eine Art. Aber ich glaubte doch nicht, es
würde jemals dahin kommen. Bei jedem Schritt, den es
mich reizte, vorwärts zu wagen, war es mir, als schrie
etwas in mir: Nun nicht weiter! Keinen, Schritt mehr!
— Und doch konnte ich es nicht lassen. Ich mußte noch
ein winziges Spürchen weiter. Und noch ein einziges
Spürchen. Und dann noch eins — und immer noch eins
—. Und so ist es geschehen. — Auf diese Weise gehtso etwas vor sich.“
S.
XXIX. CHARAKTERTYPEN AUS DER PSYCHOANALYT. ARBEIT. 549
Das ist nicht Beschônigung, sondern wahrhafte Rechen-
schaft. Alles, was auf Rosmersholm mit ihr vorging, die Ver-
liebtheit in Rosmer und die Feindseligkeit gegen seine Frau,
war bereits Erfolg des Odipuskomplexes, erzwungene Nach-
bildung ihres Verhältnisses zu ihrer Mutter und zu Dok-
tor West.Und darum ist das Schuldgefiihl, das sie zuerst die
Werbung Rosmers abweisen läßt, im Grunde nicht ver-
schieden. von jenem größeren, das sie nach der Mitteilung
Krolls zum Geständnis zwingt. Wie sie aber unter dem Ein-
fluß des Doktors West zur Freidenkerin und Verächterin derreligiösen Moral geworden war, so wandelte sie sich durch
die neue Liebe zu Rosmer zum Gewissens- und Adelsmenschen.
Soviel verstand 810 selbst von ihren inneren Vorgängen, und
darum durfte sie mit Recht den Einfluß Rosmers als das
ihr zugänglich gewordene Motiv ihrer Änderung bezeichnen.Der psychoanalytisch arbeitende Arzt weiß, wie häufig
oder wie regelmäßig das Mädchen, welches als Dienerin, Ge-
, sellschafterin, Erzieherin in ein Haus eintritt, dort bewußt
oder unbewußt am Tagtraum spinnt, dessen Inhalt dem Ödipus-
komplex entnommen ist, daß die Frau des Hauses irgendwie
wegfallen und der Herr an deren Stelle sie zur Frau nehmen
wird. „Rosmersholm* ‘ist das höchste Kunstwerk der Gat-
tung, welche diese alltägliche Phantasie der Mädchen be-
handelt. Es wird eine tragische Dichtung durch den Zusatz,
daß dem Tagtraum der Heldin die ganz entsprechende Wirk-s. .
lichkeit in ihrer Vorgeschichte vorausgegangen ist.*)*) Der Nachweis des Inzestthemas in „Rosmershölm“ ist bereits mit
denselben Mitteln wie lier, in dem überaus reichhaltigen Werke von
0. Rank, Das Inzost-Motiv in Dichtung und Sage, 1912, erbracht worden.S.
550 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.
Nach langem Aufenthalte bei der Dichtung kehren wir
nun zur ärztlichen Erfahrung zurück. Aber nur, um mit we-
nigen Worten die volle Ubereinstimmung beider festzustellen.
Die psychoanalytische Arbeit lehrt, daß die Gewissenskråfte,
welche am Erfolg erkranken lassen anstatt wie sonst an der
Versagung, in intimer Weise mit dem Odipuskomplex zu-
sammenhången, mit dem Verhältnis zu Vater und Mutter,
wie vielleicht unser SchuldbewuBtsein überhaupt. ⑧III.
DIE VERBRECHER AUS SCHULDBEWUSSTSEIN.In den Mitteilungen über ihre Jugend, besonders über
die Jahre der Vorpubertät, haben mir oft später sehr an-
ständige Personen von unerlaubten Handlungen berichtet, die
sie sich damals hatten zu Schulden kommen lassen, von Dich-
stählen, Betrügereien und selbst Brandstiftungen, Ich pflegte
über diese Angaben mit der Auskunft hinwegzugehen, daß
die Schwäche der moralischen Hemmungen in dieser Lebens-
zeit‘ bekannt sei, und versuchte nicht,. sie in einen bedeut-
sameren Zusammenhang einzureihen. Aber endlich wurde ich
durch grelle und günstigere Fälle, bei denen solche Vergehen
begangen wurden, während die Kranken sich in meiner Be-
handlung befanden, und wo es sich um Personen jenseits
jener jungen Jahre handelte, zum gründlicheren Studium sol-~ cher Vorfälle aufgefordert. Die analytische Arbeit brachte
dann das überraschende Ergebnis, daß solche Taten vor allem
darum vollzogen wurden, weil sie verboten und weil mit ihrer
Ausführung eine seelische Erleichterung für den Täter ver-
bunden war. Er litt an einem driickenden Schuldbewußtsein
unbekannter Herkunft, und nachdem er ein Vergehen began-S.
XXIX. CHARAKTERTYPEN AUS DER PSYCHOANALYT. ARBEIT. 551
gen hatte, war der Druck gemildert. Das SchuldbewuBbtsein
war wenigstens irgendwie untergebracht.So paradox es klingen mag, ich muß behaupten, daf das
SchuldbewuBtsein früher da war als das Vergehen, daß es
nicht aus diesem hervorging, sondern umgekehrt, das Ver-
gehen aus dem SchuldbewuBtsein. Diese Personen durfte man
mit gutem Recht als Verbrecher aus Schuldbewultsein be-
zeichnen, Die Práexistenz des Schuldgefühls hatte sich natür-
lich durch eine ganze Reihe von anderen Äußerungen und Wir-
kungen nachweisen lassen.Die Feststellung eines Kuriosums setzt der wissenschaft-
lichen Arbeit aber kein Ziel. Es sind zwei weitere Fragen zu
beantworten, woher das dunkle Schuldgefühl vor der Tat
stammt, und ob es wahrscheinlich ist, daß eine solche Arc
der Verursachung an den Verbrechen der Menschen einen
größeren Anteil hat.Die Verfolgung der ersten Frage versprach eine Aus-
kunft über die Quelle des menschlichen Schuldgefühls über-
haupt. Das regelmäßige Ergebnis der analytischen Arbeit lau-
tete, daB dieses dunkle Schuldgefühl aus dem Odipuskomplex
stamme, eine Reaktion sei auf die beiden großen verbreche-
rischen Absichten, den Vater zu töten und mit der Mutter“sexuell zu verkehren, Im Vergleich mit diesen beiden waren
allerdings die zur Fixierung des Schuldgefühls begangenen
Verbrechen Erleichterungen für den Gequålten. Man muß sichhier daran erinnern, daß Vatermord und Mutterinzest die bei-
den grofen Verbrechen der Menschen sind, die einzigen, die
in primitiven Gesellschaften als solche verfolgt und verab-
scheut werden. Auch daran, wie nahe wir durch andere Unter-
suchungen der Annahme gekommen sind, daB die MenschheitS.
552 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
ihr Gewissen, das nun als vererbte Seelenmacht auftritt, am
Odipuskomplex erworben hat. :Die Beantwortung der zweiten Frage geht über die
psychoanalytische Arbeit hinaus, Bei Kindern kann man ohne-
weiters beobachten, daß sie „schlimm“ werden, um Strafe
zu provozieren, und nach der Bestrafung beruhigt und zu-
frieden sind. Eine spätere analytische Untersuchung führt
oft auf die Spur des Schuldgefühls, welches sie die Strafe
suchen hieß, Von den erwachsenen Verbrechern muß man wohl
alle die abzichen, die ohne Schuldgefühl Verbrechen begehen,
die entweder keine moralischen Hemmungen entwickelt haben
oder sich im Kampf mit der Gesellschaft zu ihrem Tun be-
rechtigt glauben. Aber bei der Mehrzahl der anderen Ver-
brecher, bei denen, für die die Strafsatzungen eigentlich ge-
macht sind, könnte eine solche Motivierung des Verbrechens
sehr wohl in Betracht kommen, manche dunkle Punkte in der
Psychologie des Verbrechers erhellen, und der Strafe cine
neue psychologische Fundierung geben, |Ein Freund hat mich dann darauf aufmerksam gemacht,
daß der „Verbrecher aus Schuldgefiihl“ auch Nietzsche be-
kannt war. Dic Priexistenz des Schuldgefiihls und die Ver-
wendung der Tat zur Rationalisierung desselben schimmern
uns aus den dunklen Reden Zarathustras „Über den blei-
chen Verbrecher“ entgegen. Überlassen wir es zukünftiger For-
schung zu entscheiden, wie viele von den Verbrechern zu diesen
„bleichen“ zu rechnen sind,
sksn42
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