Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds 1925-004/1925.2
  • S.

    3126-VS
     

    Proud-Ha
     

    Niblischak
     

    Separatabdruck aus: „INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHO-
    ANALYSE" (berausgegeben von Prof. Dr. SIGM. FREUD, redigiert von Dr.
    Max Eitingon, Dr. S. Ferenczi und Dr. Sándor Radó), Bd. XI (1925), Heft 4
     

    Alle Rechte vorbehalten
     

    PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
    Wien VII. Andreasgasse 3
     

    INTERNATIONALER
     

    Einige psychische Folgen des anatomischen
    Geschlechtsunterschieds
     

    Von
     

    Sigm. Freud
     

    Meine und meiner Schüler Arbeiten vertreten mit stetig wachsender
    Entschiedenheit die Forderung, daß die Analyse der Neurotiker auch die
    erste Kindheitsperiode, die Zeit der Frühblüte des Sexuallebens durch-
    dringen müsse. Nur wenn man die ersten Äußerungen der mitgebrachten
    Triebkonstitution und die Wirkungen der frühesten Lebenseindrücke
    erforscht, kann man die Triebkräfte der späteren Neurose richtig erkennen
    und ist gesichert gegen die Irrtümer, zu denen man durch die Umbil-
    dungen und Überlagerungen der Reifezeit verlockt würde. Diese Forderung
    ist nicht nur theoretisch bedeutsam, sie hat auch praktische Wichtigkeit,
    denn sie scheidet unsere Bemühungen von der Arbeit solcher Ärzte, die,
    nur therapeutisch orientiert, sich eine Strecke weit analytischer Methoden
    bedienen. Solch eine Frühzeitanalyse ist langwierig, mühselig und stellt
    Ansprüche an Arzt und Patient, deren Erfüllung die Praxis nicht immer
    entgegenkommt. Sie führt ferner in Dunkelheiten, durch welche uns noch
    immer die Wegweiser fehlen. Ja, ich meine, man darf den Analytikern
    die Versicherung geben, daß ihrer wissenschaftlichen Arbeit die Gefahr,
    mechanisiert und damit uninteressant zu werden, auch für die nächsten
    Jahrzehnte nicht droht.
     

    Im folgenden teile ich ein Ergebnis der analytischen Forschung mit,
    das sehr wichtig wäre, wenn es sich als allgemein gültig erweisen ließe.
    Warum schiebe ich die Veröffentlichung desselben nicht auf, bis mir eine
    reichere Erfahrung diesen Nachweis, wenn er zu erbringen ist, geliefert
    hat? Weil in meinen Arbeitsbedingungen eine Veränderung eingetreten
    ist, deren Folgen ich nicht verleugnen kann. Früher einmal gehörte ich
    Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, X1/4-
     

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    Sigm. Freud.
     

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    nicht zu denen, die eine vermeintliche Neuheit nicht eine Weile bei sich
    behalten können, bis sie Bekräftigung oder Berichtigung gefunden hat. Die
    Traumdeutung und das „Bruchstück einer Hysterieanalyse" (der Fall
    Dora) sind, wenn nicht durch neun Jahre nach dem Horazischen Rezept,
    so doch durch vier bis fünf Jahre von mir unterdrückt worden, ehe ich
    sie der Öffentlichkeit preisgab. Aber damals dehnte sich die Zeit unab-
    sehbar vor mir aus oceans of time, wie ein liebenswürdiger Dichter
    sagt und das Material strömte mir so reichlich zu, daß ich mich der
    Erfahrungen kaum erwehren konnte. Auch war ich der einzige Arbeiter
    auf einem neuen Gebiet, meine Zurückhaltung brachte mir keine Gefahr.
    und anderen keinen möglichen Schaden.
     

    Das ist nun alles anders geworden. Die Zeit vor mir ist begrenzt, sie
    wird nicht mehr vollständig von der Arbeit ausgenützt, die Gelegenheiten,
    neue Erfahrungen zu machen, kommen also nicht so reichlich. Wenn ich
    etwas Neues zu sehen glaube, bleibt es mir unsicher, ob ich die Bestätigung
    abwarten kann. Auch ist alles bereits abgeschöpft, was an der Oberfläche
    dahintrieb; das übrige muß in langsamer Bemühung aus der Tiefe geholt
    werden. Endlich bin ich nicht mehr allein, eine Schar von eifrigen Mit-
    arbeitern ist bereit, sich auch das Unfertige, unsicher Erkannte, zunutze
    zu machen, ich darf ihnen den Anteil der Arbeit überlassen, den ich sonst
    selbst besorgt hätte. So fühle ich mich gerechtfertigt, diesmal etwas mit-
    zuteilen, was dringend der Nachprüfung bedarf, ehe es in seinem Wert
    oder Unwert erkannt werden kann.
     

    Wenn wir die ersten psychischen Gestaltungen des Sexuallebens beim
    Kinde untersuchten, nahmen wir regelmäßig das männliche Kind, den
    kleinen Knaben, zum Objekt. Beim kleinen Mädchen, meinten wir, müsse
    es ähnlich zugehen, aber doch in irgendeiner Weise anders. An welcher
    Stelle des Entwicklungsganges diese Verschiedenheit zu finden ist, das
    wollte sich nicht klar ergeben.
     

    Die Situation des Ödipuskomplexes ist die erste Station, die wir beim
    Knaben mit Sicherheit erkennen. Sie ist uns leicht verständlich, weil in
    ihr das Kind an demselben Objekt festhält, das es bereits in der vorher-
    gehenden Säuglings- und Pflegeperiode mit seiner noch nicht genitalen
    Libido besetzt hatte. Auch daß es dabei den Vater als störenden Rivalen
    empfindet, den es beseitigen und ersetzen möchte, leitet sich glatt aus den
    realen Verhältnissen ab. Daß die Ödipuseinstellung des Knaben der phal-
    lischen Phase angehört und an der Kastrationsangst, also am narziẞtischen
    Interesse für das Genitale, zugrunde geht, habe ich an anderer Stelle aus-
     

    1) Der Untergang des Ödipuskomplexes. (Ges. Schriften, Bd. V.).
     

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    geführt. Eine Erschwerung des Verständnisses ergibt sich aus der Kom-
    plikation, daß der Ödipuskomplex selbst beim Knaben doppelsinnig ange-
    legt ist, aktiv und passiv, der bisexuellen Anlage entsprechend. Der Knabe
    will auch als Liebesobjekt des Vaters die Mutter ersetzen, was wir als
    feminine Einstellung bezeichnen.
     

    An der Vorgeschichte des Ödipuskomplexes beim Knaben ist uns noch
    lange nicht alles klar. Wir kennen aus ihr eine Identifizierung mit dem
    Vater zärtlicher Natur, welcher der Sinn der Rivalität bei der Mutter
    noch abgeht. Ein anderes Element dieser Vorzeit ist die, wie ich meine,
    nie ausbleibende masturbatorische Betätigung am Genitale, die frühkind-
    liche Onanie, deren mehr oder minder gewalttätige Unterdrückung von
    seiten der Pflegepersonen den Kastrationskomplex aktiviert. Wir nehmen
    an, daß diese Onanie am Ödipuskomplex hängt und die Abfuhr seiner
    Sexualerregung bedeutet. Ob sie von Anfang an diese Beziehung hat oder
    nicht vielmehr spontan als Organbetätigung auftritt und erst später den
    Anschluß an den Ödipuskomplex gewinnt, ist unsicher; die letztere Mög
    lichkeit ist die weitaus wahrscheinlichere. Fraglich ist auch noch die Rolle
    des Bettnässens und seiner Abgewöhnung durch die Eingriffe der Erziehung.
    Wir bevorzugen die einfache Synthese, das fortgesetzte Bettnässen sei der
    Erfolg der Onanie, seine Unterdrückung werde vom Knaben wie eine
    Hemmung der Genitaltätigkeit, also im Sinne einer Kastrationsdrohung,
    gewertet, aber ob wir damit jedesmal recht haben, steht dahin. Endlich läßt
    uns die Analyse schattenhaft erkennen, wie eine Belauschung des elterlichen
    Koitus in sehr früher Kinderzeit die erste sexuelle Erregung setzen und
    durch ihre nachträglichen Wirkungen der Ausgangspunkt für die ganze
    Sexualentwicklung werden kann. Die Onanie, sowie die beiden Einstellungen
    des Ödipuskomplexes knüpfen späterhin an den in der Folge gedeuteten
    Eindruck an. Allein wir können nicht annehmen, daß solche Koitus-
    beobachtungen ein regelmäßiges Vorkommnis sind, und stoßen hier mit
    dem Problem der „Urphantasien" zusammen. So vieles ist also auch in
    der Vorgeschichte des Ödipuskomplexes beim Knaben noch ungeklärt, harrt
    der Sichtung und der Entscheidung, ob immer der nämliche Hergang
    anzunehmen ist, oder ob nicht sehr verschiedenartige Vorstadien zum
    Treffpunkt der gleichen Endsituation führen.
     

    Der Ödipuskomplex des kleinen Mädchens birgt ein Problem mehr
    als der des Knaben. Die Mutter war anfänglich beiden das erste Objekt,
    wir haben uns nicht zu verwundern, wenn der Knabe es für den
    Ödipuskomplex beibehält. Aber wie kommt das Mädchen dazu, es auf-
    zugeben und dafür den Vater zum Objekt zu nehmen? In der Ver
    folgung dieser Frage habe ich einige Feststellungen machen können, die
     

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    Sigm, Freud
     

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    gerade auf die Vorgeschichte der Ödipusrelation beim Mädchen Licht
    werfen können.
     

    Jeder Analytiker hat die Frauen kennen gelernt, die mit besonderer
    Intensität und Zähigkeit an ihrer Vaterbindung festhalten und an dem
    Wunsch, vom Vater ein Kind zu bekommen, in dem diese gipfelt. Man
    hat guten Grund, anzunehmen, daß diese Wunschphantasie auch die Trieb-
    kraft ihrer infantilen Onanie war, und gewinnt leicht den Eindruck, hier
    vor einer elementaren, nicht weiter auflösbaren Tatsache des kindlichen
    Sexuallebens zu stehen. Eingehende Analyse gerade dieser Fälle zeigt aber
    etwas anderes, nämlich daß der Ödipuskomplex hier eine lange Vor-
    geschichte hat und eine gewissermaßen sekundäre Bildung ist.
     

    Nach einer Bemerkung des alten Kinderarztes Lindner entdeckt das
    Kind die lustspendende Genitalzone Penis oder Klitoris während
    des Wonnesaugens (Lutschens). Ich will es dahingestellt sein lassen, ob das
    Kind diese neugewonnene Lustquelle wirklich zum Ersatz für die kürzlich
    verlorene Brustwarze der Mutter nimmt, worauf spätere Phantasien (Fellatio)
    deuten mögen. Kurz, die Genitalzone wird irgend einmal entdeckt und es
    scheint unberechtigt, den ersten Betätigungen an ihr einen psychischen
    Inhalt unterzulegen. Der nächste Schritt in der so beginnenden phallischen
    Phase ist aber nicht die Verknüpfung dieser Onanie mit den Objekt-
    besetzungen des Ödipuskomplexes, sondern eine folgenschwere Entdeckung,
    die dem kleinen Mädchen beschieden ist. Es bemerkt den auffällig sicht-
    baren, groß angelegten Penis eines Bruders oder Gespielen, erkennt ihn
    sofort als überlegenes Gegenstück seines eigenen kleinen und versteckten
    Organs und ist von da an dem Penisneid verfallen.
     

    Ein interessanter Gegensatz im Verhalten der beiden Geschlechter: Im
    analogen Falle, wenn der kleine Knabe die Genitalgegend des Mädchens
    zuerst erblickt, benimmt er sich unschlüssig, zunächst wenig interessiert;
    er sieht nichts, oder er verleugnet seine Wahrnehmung, schwächt sie ab,
    sucht nach Auskünften, um sie mit seiner Erwartung in Einklang zu
    bringen. Erst später, wenn eine Kastrationsdrohung auf ihn Einfluß
    gewonnen hat, wird diese Beobachtung für ihn bedeutungsvoll werden;
    ihre Erinnerung oder Erneuerung regt einen fürchterlichen Affektsturm.
    in ihm an und unterwirft ihn dem Glauben an die Wirklichkeit der bis-
    her verlachten Androhung. Zwei Reaktionen werden aus diesem Zusammen-
    treffen hervorgehen, die sich fixieren können und dann jede einzeln oder
    beide vereint oder zusammen mit anderen Momenten sein Verhältnis zum
    Weib dauernd bestimmen werden: Abscheu vor dem verstümmelten
     

    1) S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. (Ges. Schriften, Bd. V.)
     

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    Geschöpf oder triumphierende Geringschätzung desselben. Aber diese Ent-
    wicklungen gehören einer, wenn auch nicht weit entfernten, Zukunft an.
    Anders das kleine Mädchen. Sie ist im Nu fertig mit ihrem Urteil und
    ihrem Entschluß. Sie hat es gesehen, weiß, daß sie es nicht hat, und will
    es haben."
     

    An dieser Stelle zweigt der sogenannte Männlichkeitskomplex des Weibes
    ab, welcher der vorgezeichneten Entwicklung zur Weiblichkeit eventuell
    große Schwierigkeiten bereiten wird, wenn es nicht gelingt, ihn bald zu
    überwinden. Die Hoffnung, doch noch einmal einen Penis zu bekommen
    und dadurch dem Manne gleich zu werden, kann sich bis in unwahr-
    scheinlich späte Zeiten erhalten und zum Motiv für sonderbare, sonst
    unverständliche Handlungen werden. Oder es tritt der Vorgang ein, den
    ich als Verleugnung bezeichnen möchte, der im kindlichen Seelen-
    leben weder selten noch sehr gefährlich zu sein scheint, der aber beim
    Erwachsenen eine Psychose einleiten würde. Das Mädchen verweigert es,
    die Tatsache ihrer Kastration anzunehmen, versteift sich in der Über-
    zeugung, daß sie doch einen Penis besitzt, und ist gezwungen, sich in der
    Folge so zu benehmen, als ob sie ein Mann wäre.
     

    Die psychischen Folgen des Penisneides, so weit er nicht in der Reak-
    tionsbildung des Männlichkeitskomplexes aufgeht, sind vielfältige und
    weittragende. Mit der Anerkennung seiner narziẞtischen Wunde stellt
    sich gleichsam als Narbe ein Minderwertigkeitsgefühl beim Weibe
    her. Nachdem es den ersten Versuch, seinen Penismangel als persönliche
    Strafe zu erklären, überwunden und die Allgemeinheit dieses Geschlechts-
    charakters erfaẞt hat, beginnt es, die Geringschätzung des Mannes für das
    in einem entscheidenden Punkt verkürzte Geschlecht zu teilen und hält
     

    wenigstens in diesem Urteil an der eigenen Gleichstellung mit dem Manne
     

    fest.2
     

    Auch wenn der Penisneid auf sein eigentliches Objekt verzichtet hat,
     

    1) Hier ist der Anlaß, eine Behauptung zu berichtigen, die ich vor Jahren auf-
    gestellt habe. Ich meinte, das Sexualinteresse der Kinder werde nicht wie das der
    Heranreifenden durch den Geschlechtsunterschied geweckt, sondern entzünde sich an
    dem Problem, woher die Kinder kommen. Das trifft also wenigstens für das Mädchen
    gewiß nicht zu. Beim Knaben wird es wohl das eine Mal so, das andere Mal anders
    zugehen können, oder bei beiden Geschlechtern werden die zufälligen Anlässe des
    Lebens darüber entscheiden.
     

    2) Ich habe schon in meiner ersten kritischen Äußerung „Zur Geschichte der
    psychoanalytischen Bewegung", 1915, erkannt, daß dies der Wahrheitskern der
    Adler schen Lehre ist, die kein Bedenken trägt, die ganze Welt aus diesem einen
    Punkte (Organminderwertigkeit männlicher Protest Abrücken von der weib-
    lichen Linie) zu erklären und sich dabei rühmt, die Sexualität zugunsten des Macht-
    strebens ihrer Bedeutung beraubt zu haben! Das einzige minderwertige" Organ,
     

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    Sigm. Freud
     

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    hört er nicht auf zu existieren, er lebt in der Charaktereigenschaft der
    Eifersucht mit leichter Verschiebung fort. Gewiß ist die Eifersucht
    nicht allein einem Geschlecht eigen und begründet sich auf einer breiteren
    Basis, aber ich meine, daß sie doch im Seelenleben des Weibes eine weit-
    aus größere Rolle spielt, weil sie aus der Quelle des abgelenkten Penis-
    neides eine ungeheure Verstärkung bezieht. Ehe ich noch diese Ableitung
    der Eifersucht kannte, hatte ich für die bei Mädchen so häufige Onanie-
    phantasie „Ein Kind wird geschlagen" eine erste Phase konstruiert, in der
    sie die Bedeutung hat, ein anderes Kind, auf das man als Rivalen eifer-
    süchtig ist, soll geschlagen werden. Diese Phantasie scheint ein Relikt
    aus der phallischen Periode der Mädchen; die eigentümliche Starrheit,
    die mir an der monotonen Formel: Ein Kind wird geschlagen, auffiel,
    läßt wahrscheinlich noch eine besondere Deutung zu. Das Kind, das da
    geschlagen geliebkost wird, mag im Grunde nichts anderes sein als die
    Klitoris selbst, so daß die Aussage zu allertiefst das Eingeständnis der
    Masturbation enthält, die sich vom Anfang in der phallischen Phase bis
    in späte Zeiten an den Inhalt der Formel knüpft.
     

    Eine dritte Abfolge des Penisneides scheint die Lockerung des zärtlichen
    Verhältnisses zum Mutterobjekt. Man versteht den Zusammenhang nicht
    sehr gut, überzeugt sich aber, daß am Ende fast immer die Mutter für
    den Penismangel verantwortlich gemacht wird, die das Kind mit
    ungenügender Ausrüstung in die Welt geschickt hat. Der historische
    Hergang ist oft der, daß bald nach der Entdeckung der Benachteiligung
    am Genitale Eifersucht gegen ein anderes Kind auftritt, das von der
    Mutter angeblich mehr geliebt wird, wodurch eine Motivierung für die
    Lösung von der Mutterbindung gewonnen ist. Dazu stimmt es dann, wenn
    dies von der Mutter bevorzugte Kind das erste Objekt der in Masturbation
    auslaufenden Schlagephantasie wird.
     

    So
     

    Eine andere überraschende Wirkung des Penisneides oder der Ent-
    deckung der Minderwertigkeit der Klitoris ist gewiß die wichtigste von
    allen. Ich hatte oftmals vorher den Eindruck gewonnen, daß das Weib im
    allgemeinen die Masturbation schlechter verträgt als der Mann, sich öfter
    gegen sie sträubt und außerstande ist, sich ihrer zu bedienen, wo der
     

    das ohne Zweideutigkeit diesen Namen verdient, wäre also die Klitoris. Anderseits
    hört man, daß Analytiker sich rühmen, trotz jahrzehntelanger Bemühung nichts von
    der Existenz eines Kastrationskomplexes wahrgenommen zu haben. Man muß sich
    vor der Größe dieser Leistung in Bewunderung beugen, wenn es auch nur eine
    negative Leistung, ein Kunststück im Übersehen und Verkennen ist. Die beiden
    Lehren ergeben ein interessantes Gegensatzpaar: Hier keine Spur von einem Kastra-
    tionskomplex, dort nichts anderes als Folgen desselben.
     

    1) „Ein Kind wird geschlagen." (Ges. Schriften, Bd. V.)
     

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    Mann unter gleichen Verhältnissen unbedenklich zu diesem Auskunfts-
    mittel gegriffen hätte. Es ist begreiflich, daß die Erfahrung ungezählte
    Ausnahmen von diesem Satz aufweisen würde, wenn man ihn als Regel
    aufstellen wollte. Die Reaktionen der menschlichen Individuen beiderlei
    Geschlechts sind ja aus männlichen und weiblichen Zügen gemengt.
    Aber es blieb doch der Anschein übrig, daß der Natur des Weibes die
    Masturbation ferner liege, und man konnte zur Lösung des angenommenen
    Problems die Erwägung heranziehen, daß wenigstens die Masturbation an
    der Klitoris eine männliche Betätigung sei, und daß die Entfaltung der
    Weiblichkeit die Wegschaffung der Klitorissexualität zur Bedingung habe.
    Die Analysen der phallischen Vorzeit haben mich nun gelehrt, daß beim
    Mädchen bald nach den Anzeichen des Penisneides eine intensive Gegen-
    strömung gegen die Onanie auftritt, die nicht allein auf den Einfluß der
    erziehenden Pflegepersonen zurückgeführt werden kann. Diese Regung ist
    offenbar ein Vorbote jenes Verdrängungsschubes, der zur Zeit der Pubertät
    ein großes Stück der männlichen Sexualität beseitigen wird, um Raum für
    die Entwicklung der Weiblichkeit zu schaffen. Es mag sein, daß diese
    erste Opposition gegen die autoerotische Betätigung ihr Ziel nicht erreicht.
    So war es auch in den von mir analysierten Fällen. Der Konflikt setzte
    sich dann fort und das Mädchen tat damals wie später alles, um sich
    vom Zwang zur Onanie zu befreien. Manche spätere Äußerungen des
    Sexuallebens beim Weibe bleiben unverständlich, wenn man dies starke
    Motiv nicht erkennt.
     

    Ich kann mir diese Auflehnung des kleinen Mädchens gegen die
    phallische Onanie nicht anders als durch die Annahme erklären, daß ihm
    diese lustbringende Betätigung durch ein nebenher gehendes Moment arg
    verleidet wird. Dieses Moment brauchte man dann nicht weit weg zu
    suchen; es müßte die mit dem Penisneid verknüpfte narziẞtische Kränkung
    sein, die Mahnung, daß man es in diesem Punkte doch nicht mit dem
    Knaben aufnehmen kann und darum die Konkurrenz mit ihm am besten
    unterläßt. In solcher Weise drängt die Erkenntnis des anatomischen
    Geschlechtsunterschieds das kleine Mädchen von der Männlichkeit und
    von der männlichen Onanie weg in neue Bahnen, die zur Entfaltung der
    Weiblichkeit führen.
     

    Vom Ödipuskomplex war bisher nicht die Rede, er hatte auch soweit
    keine Rolle gespielt. Nun aber gleitet die Libido des Mädchens man
    kann nur sagen: längs der vorgezeichneten symbolischen Gleichung Penis ==
    Kind in eine neue Position. Es gibt den Wunsch nach dem Penis auf,
    um den Wunsch nach einem Kinde an die Stelle zu setzen, und nimmt
    in dieser Absicht den Vater zum Liebesobjekt. Die Mutter wird zum
     

  • S.

    Sigm. Freud
     

    408
     

    Objekt der Eifersucht, aus dem Mädchen ist ein kleines Weib geworden.
    Wenn ich einer vereinzelten analytischen Erhebung glauben darf, kann es
    in dieser neuen Situation zu köperlichen Sensationen kommen, die als
    vorzeitiges Erwachen des weiblichen Genitalapparats zu beurteilen sind.
    Wenn diese Vaterbindung später als verunglückt aufgegeben werden muß,
    kann sie einer Vateridentifizierung weichen, mit der das Mädchen zum
    Männlichkeitskomplex zurückkehrt und sich eventuell an ihm fixiert.
    Ich habe nun das Wesentliche gesagt, das ich zu sagen hatte, und
    mache Halt, um das Ergebnis zu überblicken. Wir haben Einsicht in die
    Vorgeschichte des Ödipuskomplexes beim Mädchen bekommen. Das Ent-
    sprechende beim Knaben ist ziemlich unbekannt. Beim Mädchen ist der
    Ödipuskomplex eine sekundäre Bildung. Die Auswirkungen des Kastrations-
    komplexes gehen ihm vorher und bereiten ihn vor. Für das Verhältnis
    zwischen Ödipus- und Kastrationskomplex stellt sich ein fundamentaler
    Gegensatz der beiden Geschlechter her. Während der Ödipus-
    komplex des Knaben am Kastrations komplex zugrunde
    geht, wird der des Mädchens durch den Kastrations-
    komplex ermöglicht und eingeleitet. Dieser Widerspruch
    erhält seine Aufklärung, wenn man erwägt, daß der Kastrationskomplex
    dabei immer im Sinne seines Inhaltes wirkt, hemmend und einschränkend
    für die Männlichkeit, befördernd auf die Weiblichkeit. Die Differenz in
    diesem Stück der Sexualentwicklung bei Mann und Weib ist eine begreif-
    liche Folge der anatomischen Verschiedenheit der Genitalien und der
    damit verknüpften psychischen Situation, sie entspricht dem Unterschied
    von vollzogener und bloß angedrohter Kastration. Unser Ergebnis ist also
    im Grunde eine Selbstverständlichkeit, die man hätte vorhersehen
     

    können.
     

    Indes der Ödipuskomplex ist etwas so Bedeutsames, daß es auch nicht
    folgenlos bleiben kann, auf welche Weise man in ihn hineingeraten und
    von ihm losgekommen ist. Beim Knaben so habe ich in der letzt-
     

    erwähnten Publikation ausgeführt, an die ich hier überhaupt anknüpfe -
    wird der Komplex nicht einfach verdrängt, er zerschellt förmlich unter
    dem Schock der Kastrationsdrohung. Seine libidinösen Besetzungen werden
    aufgegeben, desexualisiert und zum Teil sublimiert, seine Objekte dem Ich
    einverleibt, wo sie den Kern des Über-Ichs bilden und dieser Neuformation.
    charakteristische Eigenschaften verleihen. Im normalen, besser gesagt: im
    idealen Falle besteht dann auch im Unbewußten kein Ödipuskomplex
    mehr, das Über-Ich ist sein Erbe geworden. Da der Penis im Sinne
     

    1) S. Der Untergang des Ödipuskomplexes.
     

  • S.

    Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds
     

    400
     

    Ferenczis seine außerordentlich hohe narzißtische Besetzung seiner
    organischen Bedeutung für die Fortsetzung der Art verdankt, kann man
    die Katastrophe des Ödipuskomplexes die Abwendung vom Inzest, die
    Einsetzung von Gewissen und Moral als einen Sieg der Generation
    über das Individuum auffassen. Ein interessanter Gesichtspunkt, wenn
    man erwägt, daß die Neurose auf einem Sträuben des Ichs gegen den
    Anspruch der Sexualfunktion beruht. Aber das Verlassen des Standpunktes
    der individuellen Psychologie führt zunächst nicht zur Klärung der ver-
    schlungenen Beziehungen.
     

    Beim Mädchen entfällt das Motiv für die Zertrümmerung des Ödipus-
    komplexes. Die Kastration hat ihre Wirkung bereits früher getan und diese
    bestand darin, das Kind in die Situation des Ödipuskomplexes zu drängen.
    Dieser entgeht darum dem Schicksal, das ihm beim Knaben bereitet wird,
    er kann langsam verlassen, durch Verdrängung erledigt werden, seine
    Wirkungen weit in das für das Weib normale Seelenleben verschieben.
    Man zögert es auszusprechen, kann sich aber doch der Idee nicht erwehren,
    daß das Niveau des sittlich Normalen für das Weib ein anderes wird.
    Das Über-Ich wird niemals so unerbittlich, so unpersönlich, so unab-
    hängig von seinen affektiven Ursprüngen, wie wir es vom Manne fordern.
    Charakterzüge, die die Kritik seit jeher dem Weibe vorgehalten hat, daß
    es weniger Rechtsgefühl zeigt als der Mann, weniger Neigung zur Unter-
    werfung unter die großen Notwendigkeiten des Lebens, sich öfter in
    seinen Entscheidungen von zärtlichen und feindseligen Gefühlen leiten
    läßt, fänden in der oben abgeleiteten Modifikation der Über-Ichbildung
    eine ausreichende Begründung. Durch den Widerspruch der Feministen,
    die uns eine völlige Gleichstellung und Gleichschätzung der Geschlechter
    aufdrängen wollen, wird man sich in solchen Urteilen. nicht beirren
    lassen, wohl aber bereitwillig zugestehen, daß auch die Mehrzahl der
    Männer weit hinter dem männlichen Ideal zurückbleibt, und daß alle
    menschlichen Individuen infolge ihrer bisexuellen Anlage und der
    gekreuzten Vererbung männliche und weibliche Charaktere in sich ver-
    einigen, so daß die reine Männlichkeit und Weiblichkeit theoretische
    Konstruktionen bleiben mit ungesichertem Inhalt.
     

    Ich bin geneigt, den hier vorgebrachten Ausführungen über die psy-
    chischen Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds Wert bei-
    zulegen, aber ich weiß, daß diese Schätzung nur aufrechtzuhalten ist,
    wenn sich die an einer Handvoll Fällen gemachten Funde allgemein
    bestätigen und als typisch herausstellen. Sonst bliebe es eben ein Beitrag
    zur Kenntnis der mannigfaltigen Wege in der Entwicklung des Sexual-
    lebens.
     

  • S.

    Sigm. Freud
     

    410
     

    In den schätzenswerten und inhaltreichen Arbeiten über den Männlich-
    keits- und Kastrationskomplex des Weibes von Abraham (Äußerungs-
    formen des weiblichen Kastrationskomplexes, Int. Zschr. f. PsA., Bd. VII),
    Horney (Zur Genese des weiblichen Kastrationskomplexes, ebendort,
    Bd. IX), Helene Deutsch (Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen,
    Neue Arb. z. ärztl. PsA., Nr. V) findet sich vieles, was nahe an meine
    Darstellung rührt, nichts, was sich ganz mit ihr deckt, so daß ich diese
    Veröffentlichung auch in dieser Hinsicht rechtfertigen möchte.
     

  • S.

    Internationale Psychoanalytische Bibliothek
     

    Band XV
     

    Versuch einer
     

    Genitaltheorie
     

    von
     

    Dr. S. Ferenczi
     

    Geheftet M. 4.50, Halbleinen M. 5.50, Halbleder M. 8.-
     

    Inhalt:
     

    Die Amphimixis der Erotismen im Ejakulationsakt. Der Begattungsakt als amphimiktischer
    Vorgang. Entwicklungsstufen des erotischen Realitätssinnes. Deutung einzelner Vorgänge beim
    Geschlechtsakte. Die individuelle Genitalfunktion. Phylogenetische Parallele. Zum „thalassalen
    Regressionszug". Begattung und Befruchtung. Koitus und Schlaf. Bioanalytische Konsequenzen.
     

    Wie immer man die Hypothesen Ferenczis betrachten mag, selbst wenn man sie nur
    als phantastische Exzentrizitäten eines einseitig eingestellten Psychoanalytikers würdigt, sie
    verdienen das Interesse des Lesers schon durch das Streben, die rein biologische Auffassung
    der Genitalität durch Vermischung mit psychoanalytischem Denken auszudeuten.
     

    (Placzek im Archiv für Frauenkunde)
     

    Im Mittelpunkt steht die ehemals so übel beleumundete Mutterleibsregression", heute
    hineingestellt in eine Menge sinnvoll erfaßter Tatsachen, Phantasien und Ausnahmen...
    Ferenczi verfolgt den thalassalen Regressionszug hinein in vielerlei biologische und
    beschreibend-zoologische Fakta, diesen neue Deutung gebend; andererseits hinein in das
    nur introspektiv erfaßbare psychische Gebiet. Überall ein intensives Streben nach Voll-
    ständigkeit und weitesten Grenzen, gepaart mit subtilster Erfassung von Einzelheiten.
     

    (Schultz-Hencke in der Zeitschrift f. Sexualwissenschaft)
     

    Dr. Ferenczis bold and adventurous mind has produced a work full of ingenious
    suggestion and speculation, and much of it may be of considerable heuristic value.
     

    (Prof. A. G. Tansley in The Brit. Journ. of Med. Psychology)
     

    (The Psychoanalytic Review)
     

    A most fascinating and stimulating monograph.
     

    Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien VII.
     

  • S.

    Über die Fortschritte der psychoanalytischen Theorie und Praxis
    unterrichten fortlaufend unsere beiden von
     

    Prof. Sigm. Freud
     

    herausgegebenen Zeitschriften
    Internationale Zeitschrift
    für Psychoanalyse
     

    Redigiert von Dr. Max Eitingon, Dr. S. Ferenczi und Dr. Sándor Radó
     

    (Abonnement 1926, Bd. XII, Mark 24'-)
     

    Der Band XI (1925) enthält u. a. folgende Beiträge:
     

    Abraham: Ein Beispiel koinzidierender Phantasien
     

    Happel: Ein Fall von Päderastie
     

    bei Mutter und Kind
     

    Jones: Theorie und Praxis in der Psychoanalyse
    Kempner: Beitrag zur Oralerotik
    Klein: Zur Genese des Tics
     

    Alexander: Traumpaare und Traumreihen
    Metapsychologische Darstellung des Heilungsvor
     

    gauges
     

    Kovács: Ein Fall von „tic convulsiv"
    Lampl: Entlehntes Schuldgefühl
     

    Benedek: Ein Fall
     

    von Erythrophobie
     

    Bychowski: Psychoanalytisches aus der psychia
    trischen Abteilung
     

    Landauer: Realwert und Lustgewinn der psychi-
    schen Krankheitsmechanismen
     

    Deutsch Helene: Psychologie des Weibes in den
    Funktionen der Fortpflanzung
     

    -Gedanken bei der Analyse ciner,,folie du doute"
    Müller: Früher Atheismus und Charakterfehl-
     

    Zur Psychologie des Sportes
     

    Chadwick: Über die Wurzel der Wißbegierde
    Fenichel: Kastrationskomplex und Introjektion
    Zur Klinik des Strafbedürfnisses
     

    entwicklung
     

    Nunberg: Über den Genesungswunsch
     

    Rank: Zur Genese der Genitalität
     

    Ferenczi: Psychoanalyse von Sexualgewohnheiten
    -Charcot
     

    Reich: Die therapeutische Bedeutung der Genital-
    libido
     

    Freud: Notiz über den Wunderblock
     

    Sachs: Metapsychologische Gesichtspunkte
    Weiss: Über eine noch nicht beschriebene Phase
    der Entwicklung zur heterosexuellen Liebe
     

    Josef Breuer
     

    Einige psychische Folgen des anatomischen
    Geschlechtsunterschieds
     

    Imago
     

    Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse
    auf die Geisteswissenschaften
     

    Redigiert von Dr. Otto Rank, Dr. Hanns Sachs und A. J. Storfer
     

    (Abonnement 1926, Bd. XII, Mark 20-)
     

    Der Band XI (1925) enthalt u. a folgende Beiträge:
     

    Abraham: Geschichte eines Hochstaplers
     

    Kolnal: Max Schelers Kritik und Würdigung der
    Freudschen Libidolchre
     

    Eder: Zur Psychologie des Snobismus
     

    Müller-Braunschweig: Das Verhältnis der
    Psychoanalyse zur Philosophie
     

    Freud: Die Verneinung
     

    Die Widerstände gegen die Psychoanalyse
    Die okkulte Bedeutung des Traumes
     

    Newton: Anwendung der Psychoanalyse auf die
    soziale Fürsorge
     

    Furrer: Bedeutung der „B“ im Rohrschachschen
    Versuch
     

    Robitsek: Der Kotillon
     

    Sperber: Über die seelischen Ursachen des Alterns,
    der Jugendlichkeit und der Schönheit
     

    Graber: Die schwarze Spinne
     

    Hárnik: Die triebhaft-affektiven Momente im Zeit-
    gefühl
     

    Teller: Libidotheorie und Artumwandlung
    Weiss: Psychologische Ergebnisse der Psycho-
    analyse
     

    Hermann: Zwei Überlieferungen aus Pascals
    Kinderjahren
     

    Wulff: Die Koketterie in psychoanalytischer
    Betrachtung
     

    -Gustav Theodor Fechner
     

    Internationaler Psychoanalytischer Verlag
     

    Wien VII. Andreasgasse 3
     

    Elbemühl Papierfabriken und Graphische Industrie A. G., Wien, III., Rüdengasse 11