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EINIGE PSYCHISCHE FOLGEN DES
ANATOMISCHEN GESCHLECHTS-
UNTERSCHIEDS
Zuerst erschienen in der „Internationalen
Zeitschrift für Psychoanalyse", XI. Bd., 1925.
Meine und meiner Schüler Arbeiten vertreten mit stetig wachsender
Entschiedenheit die Forderung, daß die Analyse der Neurotiker auch
die erste Kindheitsperiode, die Zeit der Frühblüte des Sexuallebens,
durchdringen müsse. Nur wenn man die ersten Äußerungen der
mitgebrachten Triebkonstitution und die Wirkungen der frühesten
Lebenseindrücke erforscht, kann man die Triebkräfte der späteren
Neurose richtig erkennen und ist gesichert gegen die Irrtümer,
zu denen man durch die Umbildungen und Überlagerungen der
Reifezeit verlockt würde. Diese Forderung ist nicht nur theoretisch
bedeutsam, sie hat auch praktische Wichtigkeit, denn sie scheidet
unsere Bemühungen von der Arbeit solcher Ärzte, die, nur thera-
peutisch orientiert, sich eine Strecke weit analytischer Methoden
bedienen. Solch eine Frühzeitanalyse ist langwierig, mühselig und
stellt Ansprüche an Arzt und Patient, deren Erfüllung die Praxis
nicht immer entgegenkommt. Sie führt ferner in Dunkelheiten,
durch welche uns noch immer die Wegweiser fehlen. Ja, ich meine,
man darf den Analytikern die Versicherung geben, daß ihrer wissen-
schaftlichen Arbeit die Gefahr, mechanisiert und damit uninteressant
zu werden, auch für die nächsten Jahrzehnte nicht droht.
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Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds
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Im folgenden teile ich ein Ergebnis der analytischen Forschung
mit, das sehr wichtig wäre, wenn es sich als allgemein gültig
erweisen ließe. Warum schiebe ich die Veröffentlichung nicht auf,
bis mir eine reichere Erfahrung diesen Nachweis, wenn er zu er-
bringen ist, geliefert hat? Weil in meinen Arbeitsbedingungen eine
Veränderung eingetreten ist, deren Folgen ich nicht verleugnen
kann. Früher einmal gehörte ich nicht zu denen, die eine ver-
meintliche Neuheit nicht eine Weile bei sich behalten können, bis
sie Bekräftigung oder Berichtigung gefunden hat. Die „Traum-
deutung und das „Bruchstück einer Hysterieanalyse" (der Fall
Dora) sind, wenn nicht durch neun Jahre nach dem Horazischen
Rezept, so doch durch vier bis fünf Jahre von mir unterdrückt
worden, ehe ich sie der Öffentlichkeit preisgab. Aber damals dehnte
sich die Zeit unabsehbar vor mir aus oceans of time, wie ein
liebenswürdiger Dichter sagt und das Material strömte mir so
reichlich zu, daß ich mich der Erfahrungen kaum erwehren konnte.
Auch war ich der einzige Arbeiter auf einem neuen Gebiet, meine
Zurückhaltung brachte mir keine Gefahr und anderen keinen
Schaden.
Das ist nun alles anders geworden. Die Zeit vor mir ist begrenzt,
sie wird nicht mehr vollständig von der Arbeit ausgenützt; die
Gelegenheiten, neue Erfahrungen zu machen, kommen also nicht
so reichlich. Wenn ich etwas Neues zu sehen glaube, bleibt es
mir unsicher, ob ich die Bestätigung abwarten kann. Auch ist
alles bereits abgeschöpft, was an der Oberfläche dahintrieb; das
übrige muß in langsamer Bemühung aus der Tiefe geholt werden.
Endlich bin ich nicht mehr allein, eine Schar von eifrigen Mit-
arbeitern ist bereit, sich auch das Unfertige, unsicher Erkannte
zunutze zu machen, ich darf ihnen den Anteil der Arbeit über-
lassen, den ich sonst selbst besorgt hätte. So fühle ich mich ge-
rechtfertigt, diesmal etwas mitzuteilen, was dringend der Nach-
prüfung bedarf, che es in seinem Wert oder Unwert erkannt werden
kann.
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Wenn wir die ersten psychischen Gestaltungen des Sexuallebens
beim Kinde untersuchten, nahmen wir regelmäßig das männliche
Kind, den kleinen Knaben, zum Objekt. Beim kleinen Mädchen,
meinten wir, müsse es ähnlich zugehen, aber doch in irgendeiner
Weise anders. An welcher Stelle des Entwicklungsganges diese
Verschiedenheit zu finden ist, das wollte sich nicht klar ergeben.
Die Situation des Ödipus-Komplexes ist die erste Station, die
wir beim Knaben mit Sicherheit erkennen. Sie ist uns leicht ver-
ständlich, weil in ihr das Kind an demselben Objekt festhält, das
es bereits in der vorhergehenden Säuglings- und Pflegeperiode mit
seiner noch nicht genitalen Libido besetzt hatte. Auch daß es dabei
den Vater als störenden Rivalen empfindet, den es beseitigen und
ersetzen möchte, leitet sich glatt aus den realen Verhältnissen ab.
Daß die Ödipus-Einstellung des Knaben der phallischen Phase an-
gehört und an der Kastrationsangst, also am narziẞtischen Interesse
für das Genitale, zugrunde geht, habe ich an anderer Stelle' aus-
geführt. Eine Erschwerung des Verständnisses ergibt sich aus der
Komplikation, daß der Ödipus-Komplex selbst beim Knaben doppel-
sinnig angelegt ist, aktiv und passiv, der bisexuellen Anlage ent-
sprechend. Der Knabe will auch als Liebesobjekt des Vaters die
Mutter ersetzen, was wir als feminine Einstellung bezeichnen.
An der Vorgeschichte des Ödipus-Komplexes beim Knaben ist
uns noch lange nicht alles klar. Wir kennen aus ihr eine Identi-
fizierung mit dem Vater zärtlicher Natur, welcher der Sinn der
Rivalität bei der Mutter noch abgeht. Ein anderes Element dieser
Vorzeit ist die, wie ich meine, nie ausbleibende masturbatorische
Betätigung am Genitale, die frühkindliche Onanie, deren mehr
oder minder gewalttätige Unterdrückung von seiten der Pflege-
personen den Kastrationskomplex aktiviert. Wir nehmen an, daß
diese Onanie am Ödipus-Komplex hängt und die Abfuhr seiner
Sexualerregung bedeutet. Ob sie von Anfang an diese Beziehung
1) Der Untergang des Ödipuskomplexes. [Bd. V dieser Gesamtausgabe.]
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hat oder nicht vielmehr spontan als Organbetätigung auftritt und
erst später den Anschluß an den Ödipuskomplex gewinnt, ist un-
sicher; die letztere Möglichkeit ist die weitaus wahrscheinlichere.
Fraglich ist auch noch die Rolle des Bettnässens und seiner Ab-
gewöhnung durch die Eingriffe der Erziehung. Wir bevorzugen die
einfache Synthese, das fortgesetzte Bettnässen sei der Erfolg der
Onanie, seine Unterdrückung werde vom Knaben wie eine Hemmung
der Genitaltätigkeit, also im Sinne einer Kastrationsdrohung ge-
wertet, aber ob wir damit jedesmal recht haben, steht dahin. End-
lich läßt uns die Analyse schattenhaft erkennen, wie eine Belau-
schung des elterlichen Koitus in sehr früher Kinderzeit die erste
sexuelle Erregung setzen und durch ihre nachträglichen Wirkungen
der Ausgangspunkt für die ganze Sexualentwicklung werden kann.
Die Onanie sowie die beiden Einstellungen des Ödipus-Komplexes
knüpfen späterhin an den in der Folge gedeuteten Eindruck an.
Allein wir können nicht annehmen, daß solche Koitusbeobachtungen
ein regelmäßiges Vorkommnis sind, und stoßen hier mit dem Problem
der,,Urphantasien" zusammen. So vieles ist also auch in der Vor-
geschichte des Ödipus-Komplexes beim Knaben noch ungeklärt, harrt
der Sichtung und der Entscheidung, ob immer der nämliche Her-
gang anzunehmen ist, oder ob nicht sehr verschiedenartige Vor-
stadien zum Treffpunkt der gleichen Endsituation führen.
Der Ödipus-Komplex des kleinen Mädchens birgt ein Problem
mehr als der des Knaben. Die Mutter war anfänglich beiden das
erste Objekt, wir haben uns nicht zu verwundern, wenn der Knabe
es für den Ödipus-Komplex beibehält. Aber wie kommt das Mädchen
dazu, es aufzugeben und dafür den Vater zum Objekt zu nehmen?
In der Verfolgung dieser Frage habe ich einige Feststellungen
machen können, die gerade auf die Vorgeschichte der Ödipus-
Relation beim Mädchen Licht werfen können.
Jeder Analytiker hat die Frauen kennengelernt, die mit be-
sonderer Intensität und Zähigkeit an ihrer Vaterbindung festhalten
und an dem Wunsch, vom Vater ein Kind zu bekommen, in dem
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diese gipfelt. Man hat guten Grund anzunehmen, daß diese Wunsch-
phantasie auch die Triebkraft ihrer infantilen Onanie war, und
gewinnt leicht den Eindruck, hier vor einer elementaren, nicht
weiter auflösbaren Tatsache des kindlichen Sexuallebens zu stehen.
Eingehende Analyse gerade dieser Fälle zeigt aber etwas anderes,
nämlich daß der Ödipus-Komplex hier eine lange Vorgeschichte
hat und eine gewissermaßen sekundäre Bildung ist.
Nach einer Bemerkung des alten Kinderarztes Lindner¹ ent-
deckt das Kind die lustspendende Genitalzone-Penis oder Klitoris -
während des Wonnesaugens (Lutschens). Ich will es dahingestellt
sein lassen, ob das Kind diese neugewonnene Lustquelle wirklich
zum Ersatz für die kürzlich verlorene Brustwarze der Mutter
nimmt, worauf spätere Phantasien (Fellatio) deuten mögen. Kurz,
die Genitalzone wird irgendeinmal entdeckt und es scheint un-
berechtigt, den ersten Betätigungen an ihr einen psychischen Inhalt
unterzulegen. Der nächste Schritt in der so beginnenden phallischen
Phase ist aber nicht die Verknüpfung dieser Onanie mit den Objekt-
besetzungen des Ödipus-Komplexes, sondern eine folgenschwere Ent-
deckung, die dem kleinen Mädchen beschieden ist. Es bemerkt
den auffällig sichtbaren, groß angelegten Penis eines Bruders oder
Gespielen, erkennt ihn sofort als überlegenes Gegenstück seines
eigenen, kleinen und versteckten Organs und ist von da an dem
Penisneid verfallen.
Ein interessanter Gegensatz im Verhalten der beiden Geschlechter:
Im analogen Falle, wenn der kleine Knabe die Genitalgegend des
Mädchens zuerst erblickt, benimmt er sich unschlüssig, zunächst
wenig interessiert; er sieht nichts, oder er verleugnet seine Wahr-
nehmung, schwächt sie ab, sucht nach Auskünften, um sie mit
seiner Erwartung in Einklang zu bringen. Erst später, wenn eine
Kastrationsdrohung auf ihn Einfluß gewonnen hat, wird diese Be-
obachtung für ihn bedeutungsvoll werden; ihre Erinnerung oder
1) Siehe: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. (Bd. V dieser Gesamtausgabe.)
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Erneuerung regt einen fürchterlichen Affektsturm in ihm an und
unterwirft ihn dem Glauben an die Wirklichkeit der bisher ver-
lachten Androhung. Zwei Reaktionen werden aus diesem Zusammen-
treffen hervorgehen, die sich fixieren können und dann jede einzeln
oder beide vereint oder zusammen mit anderen Momenten sein
Verhältnis zum Weib dauernd bestimmen werden: Abscheu vor
dem verstümmelten Geschöpf oder triumphierende Geringschätzung
desselben. Aber diese Entwicklungen gehören einer, wenn auch
nicht weit entfernten Zukunft an.
Anders das kleine Mädchen. Sie ist im Nu fertig mit ihrem
Urteil und ihrem Entschluß. Sie hat es gesehen, weiß, daß sie
es nicht hat, und will es haben.'
An dieser Stelle zweigt der sogenannte Männlichkeitskomplex
des Weibes ab, welcher der vorgezeichneten Entwicklung zur
Weiblichkeit eventuell große Schwierigkeiten bereiten wird, wenn
es nicht gelingt, ihn bald zu überwinden. Die Hoffnung, doch
noch einmal einen Penis zu bekommen und dadurch dem Manne
gleich zu werden, kann sich bis in unwahrscheinlich späte Zeiten
erhalten und zum Motiv für sonderbare, sonst unverständliche
Handlungen werden. Oder es tritt der Vorgang ein, den ich als
Verleugnung bezeichnen möchte, der im kindlichen Seelenleben
weder selten noch sehr gefährlich zu sein scheint, der aber beim
Erwachsenen eine Psychose einleiten würde. Das Mädchen ver-
weigert es, die Tatsache ihrer Kastration anzunehmen, versteift
sich in der Überzeugung, daß sie doch einen Penis besitzt, und
ist gezwungen, sich in der Folge so zu benehmen, als ob sie ein
Mann wäre.
1) Hier ist der Anlaß, eine Behauptung zu berichtigen, die ich vor Jahren auf-
gestellt habe. Ich meinte, das Sexualinteresse der Kinder werde nicht wie das der
Heranreifenden durch den Geschlechtsunterschied geweckt, sondern entzünde sich an
dem Problem, woher die Kinder kommen. Das trifft also wenigstens für das Mädchen
gewiß nicht zu. Beim Knaben wird es wohl das eine Mal so, das andere Mal anders
zugehen können, oder bei beiden Geschlechtern werden die zufälligen Anlässe des
Lebens darüber entscheiden.
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Die psychischen Folgen des Penisneides, so weit er nicht in
der Reaktionsbildung des Männlichkeitskomplexes aufgeht, sind
vielfältige und weittragende. Mit der Anerkennung seiner nar-
ziẞtischen Wunde stellt sich gleichsam als Narbe ein Minder-
wertigkeitsgefühl beim Weibe her. Nachdem es den ersten Versuch,
seinen Penismangel als persönliche Strafe zu erklären, überwunden
und die Allgemeinheit dieses Geschlechtscharakters erfaßt hat, be-
ginnt es, die Geringschätzung des Mannes für das in einem ent-
scheidenden Punkt verkürzte Geschlecht zu teilen und hält wenigstens
in diesem Urteil an der eigenen Gleichstellung mit dem Manne fest."
Auch wenn der Penisneid auf sein eigentliches Objekt verzichtet
hat, hört er nicht auf zu existieren, er lebt in der Charakter-
eigenschaft der Eifersucht mit leichter Verschiebung fort. Gewiß
ist die Eifersucht nicht allein einem Geschlecht eigen und be-
gründet sich auf einer breiteren Basis, aber ich meine, daß sie
doch im Seelenleben des Weibes eine weitaus größere Rolle spielt,
weil sie aus der Quelle des abgelenkten Penisneides eine ungeheure
Verstärkung bezieht. Ehe ich noch diese Ableitung der Eifersucht
kannte, hatte ich für die bei Mädchen so häufige Onaniephantasie
„Ein Kind wird geschlagen" eine erste Phase konstruiert, in der
sie die Bedeutung hat, ein anderes Kind, auf das man als Rivalen
eifersüchtig ist, soll geschlagen werden. Diese Phantasie scheint
ein Relikt aus der phallischen Periode der Mädchen; die eigen-
1) Ich habe schon in meiner ersten kritischen Äußerung „Zur Geschichte der
psychoanalytischen Bewegung" (1913) erkannt, daß dies der Wahrheitskern der Adler-
schen Lehre ist, die kein Bedenken trägt, die ganze Welt aus diesem einen Punkte
(Organminderwertigkeit männlicher Protest Abrücken von der weiblichen Linie)
zu erklären und sich dabei rühmt, die Sexualität zugunsten des Machtstrebens ihrer
Bedeutung beraubt zu haben! Das einzige „minderwertige" Organ, das ohne Zwei-
deutigkeit diesen Namen verdient, wäre also die Klitoris. Anderseits hört man, daß
Analytiker sich rühmen, trotz jahrzehntelanger Bemühung nichts von der Existenz
eines Kastrationskomplexes wahrgenommen zu haben. Man muß sich vor der Größe
dieser Leistung in Bewunderung beugen, wenn es auch nur eine negative Leistung,
ein Kunststück im Übersehen und Verkennen ist. Die beiden Lehren ergeben ein
interessantes Gegensatzpaar: Hier keine Spur von einem Kastrationskomplex, dort
nichts anderes als Folgen desselben.
2) Ein Kind wird geschlagen." (Bd. V dieser Gesamtausgabe.)
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tümliche Starrheit, die mir an der monotonen Formel: Ein Kind
wird geschlagen, auffiel, läßt wahrscheinlich noch eine besondere
Deutung zu. Das Kind, das da geschlagen geliebkost wird,
mag im Grunde nichts anderes sein, als die Klitoris selbst, so
daß die Aussage zu allertiefst das Eingeständnis der Masturbation
enthält, die sich vom Anfang in der phallischen Phase bis in späte
Zeiten an den Inhalt der Formel knüpft.
Eine dritte Abfolge des Penisneides scheint die Lockerung des
zärtlichen Verhältnisses zum Mutterobjekt. Man versteht den Zu-
sammenhang nicht sehr gut, überzeugt sich aber, daß am Ende
fast immer die Mutter für den Penismangel verantwortlich ge-
macht wird, die das Kind mit so ungenügender Ausrüstung in
die Welt geschickt hat. Der historische Hergang ist oft der, daß
bald nach der Entdeckung der Benachteiligung am Genitale Eifer-
sucht gegen ein anderes Kind auftritt, das von der Mutter an-
geblich mehr geliebt wird, wodurch eine Motivierung für die
Lösung von der Mutterbindung gewonnen ist. Dazu stimmt es
dann, wenn dies von der Mutter bevorzugte Kind das erste Objekt
der in Masturbation auslaufenden Schlagephantasie wird.
Eine andere überraschende Wirkung des Penisneides oder
der Entdeckung der Minderwertigkeit der Klitoris - ist gewiß
die wichtigste von allen. Ich hatte oftmals vorher den Eindruck
gewonnen, daß das Weib im allgemeinen die Masturbation schlechter
verträgt als der Mann, sich öfter gegen sie sträubt und außer-
stande ist, sich ihrer zu bedienen, wo der Mann unter gleichen
Verhältnissen unbedenklich zu diesem Auskunftsmittel gegriffen
hätte. Es ist begreiflich, daß die Erfahrung ungezählte Ausnahmen
von diesem Satz aufweisen würde, wenn man ihn als Regel auf-
stellen wollte. Die Reaktionen der menschlichen Individuen beiderlei
Geschlechts sind ja aus männlichen und weiblichen Zügen gemengt.
Aber es blieb doch der Anschein übrig, daß der Natur des Weibes
die Masturbation ferner liege, und man konnte zur Lösung des
angenommenen Problems die Erwägung heranziehen, daß wenigstens
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die Masturbation an der Klitoris eine männliche Betätigung sei,
und daß die Entfaltung der Weiblichkeit die Wegschaffung der
Klitorissexualität zur Bedingung habe. Die Analysen der phallischen
Vorzeit haben mich nun gelehrt, daß beim Mädchen bald nach
den Anzeichen des Penisneides eine intensive Gegenströmung gegen
die Onanie auftritt, die nicht allein auf den Einfluß der erziehenden
Pflegeperson zurückgeführt werden kann. Diese Regung ist offenbar
ein Vorbote jenes Verdrängungsschubes, der zur Zeit der Pubertät
ein großes Stück der männlichen Sexualität beseitigen wird, um
Raum für die Entwicklung der Weiblichkeit zu schaffen. Es mag
sein, daß diese erste Opposition gegen die autoerotische Betätigung
ihr Ziel nicht erreicht. So war es auch in den von mir analysierten
Fällen. Der Konflikt setzte sich dann fort und das Mädchen tat
damals wie später alles, um sich vom Zwang zur Onanie zu be-
freien. Manche späteren Äußerungen des Sexuallebens beim Weibe
bleiben unverständlich, wenn man dies starke Motiv nicht erkennt.
Ich kann mir diese Auflehnung des kleinen Mädchens gegen
die phallische Onanie nicht anders als durch die Annahme erklären,
daß ihm diese lustbringende Betätigung durch ein nebenher gehendes
Moment arg verleidet wird. Dieses Moment brauchte man dann
nicht weit weg zu suchen; es müßte die mit dem Penisneid ver-
knüpfte narziẞtische Kränkung sein, die Mahnung, daß man es in
diesem Punkte doch nicht mit dem Knaben aufnehmen kann und
darum die Konkurrenz mit ihm am besten unterläßt. In solcher
Weise drängt die Erkenntnis des anatomischen Geschlechtsunter-
schieds das kleine Mädchen von der Männlichkeit und von der
männlichen Onanie weg in neue Bahnen, die zur Entfaltung der
Weiblichkeit führen.
Vom Ödipus-Komplex war bisher nicht die Rede, er hatte auch
soweit keine Rolle gespielt. Nun aber gleitet die Libido des Mäd-
chens man kann nur sagen: längs der vorgezeichneten sym-
bolischen Gleichung Penis Kind in eine neue Position. Es
gibt den Wunsch nach dem Penis auf, um den Wunsch nach
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einem Kinde an die Stelle zu setzen, und nimmt in dieser Ab-
sicht den Vater zum Liebesobjekt. Die Mutter wird zum Objekt
der Eifersucht, aus dem Mädchen ist ein kleines Weib geworden.
Wenn ich einer vereinzelten analytischen Erhebung glauben darf,
kann es in dieser neuen Situation zu körperlichen Sensationen
kommen, die als vorzeitiges Erwachen des weiblichen Genital-
apparates zu beurteilen sind. Wenn diese Vaterbindung später als
verunglückt aufgegeben werden muß, kann sie einer Vateridenti-
fizierung weichen, mit der das Mädchen zum Männlichkeitskomplex
zurückkehrt und sich eventuell an ihm fixiert.
Ich habe nun das Wesentliche gesagt, das ich zu sagen hatte,
und mache halt, um das Ergebnis zu überblicken. Wir haben Ein-
sicht in die Vorgeschichte des Ödipus-Komplexes beim Mädchen
bekommen. Das Entsprechende beim Knaben ist ziemlich unbekannt.
Beim Mädchen ist der Ödipus-Komplex eine sekundäre Bildung. Die
Auswirkungen des Kastrationskomplexes gehen ihm vorher und
bereiten ihn vor. Für das Verhältnis zwischen Ödipus- und Kastrations-
komplex stellt sich ein fundamentaler Gegensatz der beiden Ge-
schlechter her. Während der Ödipus-Komplex des Knaben
am Kastrationskomplex zugrunde geht,' wird der des Mäd-
chens durch den Kastrationskomplex ermöglicht und ein-
geleitet. Dieser Widerspruch erhält seine Aufklärung, wenn man
erwägt, daß der Kastrationskomplex dabei immer im Sinne seines
Inhaltes wirkt, hemmend und einschränkend für die Männlichkeit,
befördernd auf die Weiblichkeit. Die Differenz in diesem Stück
der Sexualentwicklung beim Mann und Weib ist eine begreifliche
Folge der anatomischen Verschiedenheit der Genitalien und der
damit verknüpften psychischen Situation, sie entspricht dem Unter-
schied von vollzogener und bloß angedrohter Kastration. Unser
Ergebnis ist also im Grunde eine Selbstverständlichkeit, die man
hätte vorhersehen können.
1) Siehe: Der Untergang des Ödipus-Komplexes.
Freud XI.
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Indes der Ödipus-Komplex ist etwas so Bedeutsames, daß es auch
nicht folgenlos bleiben kann, auf welche Weise man in ihn hinein-
geraten und von ihm losgekommen ist. Beim Knaben so habe ich
in der letzterwähnten Publikation ausgeführt, an die ich hier über-
haupt anknüpfe wird der Komplex nicht einfach verdrängt, er
zerschellt förmlich unter dem Schock der Kastrationsdrohung. Seine
libidinösen Besetzungen werden aufgegeben, desexualisiert und zum
Teil sublimiert, seine Objekte dem Ich einverleibt, wo sie den Kern
des Über-Ichs bilden und dieser Neuformation charakteristische
Eigenschaften verleihen. Im normalen, besser gesagt: im idealen
Falle besteht dann auch im Unbewußten kein Ödipus-Komplex
mehr, das Über-Ich ist sein Erbe geworden. Da der Penis - im
Sinne Ferenczis-seine außerordentlich hohe narziẞtische Besetzung
seiner organischen Bedeutung für die Fortsetzung der Art verdankt,
kann man die Katastrophe des Ödipus-Komplexes -
-die Abwendung
vom Inzest, die Einsetzung von Gewissen und Moral als einen
Sieg der Generation über das Individuum auffassen. Ein interessanter
Gesichtspunkt, wenn man erwägt, daß die Neurose auf einem Sträuben
des Ichs gegen den Anspruch der Sexualfunktion beruht. Aber das
Verlassen des Standpunktes der individuellen Psychologie führt zu-
nächst nicht zur Klärung der verschlungenen Beziehungen.
Beim Mädchen entfällt das Motiv für die Zertrümmerung des
Ödipus-Komplexes. Die Kastration hat ihre Wirkung bereits früher
getan und diese bestand darin, das Kind in die Situation des Ödipus-
Komplexes zu drängen. Dieser entgeht darum dem Schicksal, das
ihm beim Knaben bereitet wird, er kann langsam verlassen, durch
Verdrängung erledigt werden, seine Wirkungen weit in das für das
Weib normale Seelenleben verschieben. Man zögert es auszusprechen,
kann sich aber doch der Idee nicht erwehren, daß das Niveau des
sittlich Normalen für das Weib ein anderes wird. Das Über-Ich wird
niemals so unerbittlich, so unpersönlich, so unabhängig von seinen
affektiven Ursprüngen, wie wir es vom Manne fordern. Charakter-
züge, die die Kritik seit jeher dem Weibe vorgehalten hat, daß es
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Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds
weniger Rechtsgefühl zeigt als der Mann, weniger Neigung zur
Unterwerfung unter die großen Notwendigkeiten des Lebens, sich
öfter in seinen Entscheidungen von zärtlichen und feindseligen Ge-
fühlen leiten läßt, fänden in der oben abgeleiteten Modifikation der
Über-Ichbildung eine ausreichende Begründung. Durch den Wider-
spruch der Feministen, die uns eine völlige Gleichstellung und Gleich-
schätzung der Geschlechter aufdrängen wollen, wird man sich in
solchen Urteilen nicht beirren lassen, wohl aber bereitwillig zu-
gestehen, daß auch die Mehrzahl der Männer weit hinter dem
männlichen Ideal zurückbleibt, und daß alle menschlichen Indi-
viduen infolge ihrer bisexuellen Anlage und der gekreuzten Ver-
erbung männliche und weibliche Charaktere in sich vereinigen, so
daß die reine Männlichkeit und Weiblichkeit theoretische Kon-
struktionen bleiben mit ungesichertem Inhalt.
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Ich bin geneigt, den hier vorgebrachten Ausführungen über die
psychischen Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds Wert
beizulegen, aber ich weiß, daß diese Schätzung nur aufrechtzu-
halten ist, wenn sich die an einer Handvoll Fällen gemachten Funde
allgemein bestätigen und als typisch herausstellen. Sonst bliebe es
eben ein Beitrag zur Kenntnis der mannigfaltigen Wege in der
Entwicklung des Sexuallebens.
In den schätzenswerten und inhaltreichen Arbeiten über den
Männlichkeits- und Kastrationskomplex des Weibes von Abraham
(Äußerungsformen des weiblichen Kastrationskomplexes, Int. Zschr.
f. PSA., Bd. VII), Horney (Zur Genese des weiblichen Kastrations-
komplexes, ebendort, Bd. IX), Helene Deutsch (Psychoanalyse der
weiblichen Sexualfunktionen, Neue Arb. z. ärztl. PsA., Nr. V) findet
sich vieles, was nahe an meine Darstellung rührt, nichts, was sich
ganz mit ihr deckt, so daß ich diese Veröffentlichung auch in dieser
Hinsicht rechtfertigen möchte.
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