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Ernest Jones zum 50. Geburtstag
Der Psychoanalyse fiel als erste Aufgabe zu, jene Triebregungen
aufzudecken, die allen heute lebenden Menschen gemeinsam sind, ja die
die heute Lebenden mit den Menschen der Vorzeit und der Urzeit ge-
meinsam haben. Es kostete sie also keine Anstrengung, sich über die Ver-
schiedenheiten hinauszusetzen, die durch die Mehrheit der Rassen, der
Sprachen, der Länder unter den Bewohnern der Erde hervorgerufen wurden.
Sie war von Anfang an international, und es ist bekannt, daß ihre
Anhänger eher als alle anderen die trennenden Einwirkungen des großen
Krieges überwunden haben.Unter den Männern, die sich im Frühjahr 1908 in Salzburg zum
ersten psychoanalytischen Kongreß zusammenfanden, tat sich ein junger
englischer Arzt hervor, der einen kleinen Aufsatz „Rationalisation in every-
day life“ zur Verlesung brachte. Der Inhalt dieser Erstlingsarbeit ist noch
heute aufrecht; unsere junge Wissenschaft war durch sie um einen
wichtigen Begriff und einen unentbehrlichen Terminus bereichert worden.Von da an hat Ernest Jones nicht mehr gerastet. Zuerst in seiner
Stellung als Professor in Toronto, dann als Arzt in London, als Gründer
und Lehrer einer Ortsgruppe, als Leiter eines Verlags, Herausgeber einer
Zeitschrift, Haupt eines Lehrinstituts hat er unermüdlich für die Psycho-
analyse gewirkt, durch öffentliche Vorträge ihren jeweiligen Besitzstand
zur allgemeinen Kenntnis gebracht, durch glänzende, strenge, aber ge-
rechte Kritiken sie gegen Angriffe und Mißverständnisse ihrer Gegner
verteidigt, mit Geschick und Mäßigung ihre schwierige Stellung in England
gegen die Ansprüche der Profession behauptet und bei all dieser nach
außen gerichteten Tätigkeit in treuer Mitarbeiterschaft an der Entwicklung
der Psychoanalyse auf dem Kontinent jene wissenschaftliche Leistung voll-
bracht, von der – unter anderem – seine „Papers on Psycho- Analysis“
und „Essays in Applied Psycho-Analysis“ Zeugnis ablegen. Jetzt, auf derS.
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Höhe des Lebens, ist er nicht nur als der unbestritten führende Mann
unter den Analytikern des englischen Sprachgebiets, sondern auch als einer
der hervorragendsten Vertreter der Psychoanalyse überhaupt anerkannt, eine
Stütze seiner Freunde und noch immer eine Zukunftshoffnung unserer
Wissenschaft.Wenn der Herausgeber dieser Zeitschrift das Schweigen, zu dem ihn
sein Alter verurteilt – oder berechtigt, durchbrochen hat, um den Freund
zu begrüßen, so sei ihm gestattet, nicht mit einem Wunsch zu schließen, –
wir glauben nicht an die Allmacht der Gedanken, – sondern mit dem
Geständnis, daß er sich Ernest Jones auch nach seinem 50. Geburtstag
nicht anders denken kann als vorher: eifrig und tatkräftig, streitbar und der
Sache ergeben.Sigm. Freud
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