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[AUFBAU
Friday, December 29, 1939]
Freud und die Dichterin Bardi
Fragment eines Briefwechsels
In diesen Tagen erscheint in London das Buch einer bisher unbe-
kannten Dichterin, R. Bardi, das sich „Der Kaiser, die Weisen und der
Tod“ betitelt. Es war in Wien am Tage vor dem Einzug Hitlers er-
schienen. Infolgedessen existieren davon nur drei Exemplare. Die
übrigen konnten nicht gerettet werden. Dr. Theodor Reik, der bekannte,
hier in New York lebende Psychoanalytiker, sandte das Werk an seinen
Meister Sigmund Freud, der es im Exil las und davon ausserordentlich
begeistert und ergriffen war. Reik stellte uns zwei Briefe freundlichst
zur Verfügung, von dem der eine sich mit dem Eindruck des Gelehrten
beschäftigt, der andere die Vorrede zum Buch – Freuds letzte öffent-
liche Aeußerung darstellt. Wir geben beide Dokumente, das erste nur
in seinem ersten Absatz wieder:
I
Sigmund Freud
20 Maresfield Gardens
London N.W. 3
Sehr geehrte Frau (oder Frl.?)
Ihr geheimnisvoll‑schönes Buch
hat mir in einem Mass gefallen,
das mich meines Urteils unsicher
macht. Ist es die ergreifende Ver-
klärung des jüdischen Leidens, ist
es die Überraschung, dass man
am Hofe des genialen und gewalt-
tätigen Staufers soviel von den
Weisheiten der Psychoanalyse be-
griffen hat, die mich sehen lassen,
dass ich lange schon nichts so ge-
haltvolles und poetisch Gelungenes
gelesen habe.
Ihr sehr ergebner
gez.: Freud.
II
Sigmund Freud
20 Maresfield Gardens
London N,.W. 3
Dies fesselnd geschriebene Buch,
erfüllt mit alter und neuer Weis-
heit, durchglüht von der Verklä-
rung menschlichen und jüdischen
Leidens, das Werk einer Frau, die
viel erlebt und viel vom Leben ver-
standen hat, sollte auch in unserer
schweren Zeit einen Kreis von Le-
sern finden, die der Dichterin für
ihre Gabe zu danken wissen.
gez.: Sigmund Freud.
London, im Jahre 1939.
Fragment eines Briefwechsels
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