S.
Geleitwort.
In den vorliegenden Blättern gelangen die Aufzeichnungen eines
halbflüggen Mädchens aus vornehm-bürgerlicher Familie zur Veröffent-
lichung. Ich weiß ihnen kein schöneres Geleite zu geben als die Worte,
die Herr Professor Dr. Freud ihren Wert als Kulturdenkmal unserer
Zeit in seinem Brief an mich vom 27. April 1915 faßte:„Das Tagebuch ist ein kleines Juwel. Wirklich, ich glaube,
noch niemals hat man in solcher Klarheit und Wahrhaftigkeit in
die Seelenregungen hineinblicken können, welche die Entwicklung des
Mädchens unserer Gesellschafts- und Kulturstufe in den Jahren der
Vorpubertät kennzeichnen. Wie die Gefühle aus dem kindlich Egoistischen
hervorwachsen, bis sie die soziale Reife erreichen, wie die Beziehungen
zu Eltern und Geschwistern zuerst aussehen und dann allmählich an
Ernst und Innigkeit gewinnen, wie Freundschaften angesponnen und
verlassen werden, die Zärtlichkeit nach ihren ersten Objekten tastet,
und vor allem, wie das Geheimnis des Geschlechtslebens erst verschwommen
auftaucht, um dann von der kindlichen Seele ganz Besitz zu nehmen,
wie dieses Kind unter dem Bewußtsein seines geheimen Wissens Schaden
leidet und ihn allmählich überwindet, das ist so reizend, natürlich und
so ernsthaft in diesen kunstlosen Aufzeichnungen zum Ausdruck gekommen,
daß es Erziehern und Psychologen das höchste Interesse einflößen muß.1 1
S.
... Ich meine, Sie sind verpflichtet, das Tagebuch der
Öffentlichkeit zu übergeben. Meine Leser werden Ihnen dafür
dankbar sein ...“Bei der Herausgabe dieser Blätter wurde nichts beschönigt, nichts
dazuge- tan oder weggelassen. Die Änderungen beziehen sich einzig
auf die Unkenntlichmachung der Personen durch die Wahl anderer
Orts-, Familien- und Vornamen, durch die Verwischung all dessen,
was Eingeweihte auf die Spur der Schreiberin führen könnte. Damit
erfülle ich den Wunsch der Eignerin des Tagebuches, die mir diese
Aufzeichnungen zu freier Verwendung im Dienste der Wissenschaft
überließ.Es wurden auch die kleinen Unebenheiten des Stils und Verstöße
gegen die Rechtschreibung beibehalten. Denn sie sind zum über-
wiegenden Teil nicht als Ausdruck kindlicher Unbeholfenheit in der
Beherrschung des Wortes zu betrachten, sondern als Äußerungen
affektuöser Strömungen, als echte Fehlleistungen aus dem Wirken des
Unbewußten zu werten.Wien, im Herbst 1919.
Die Herausgeberin.
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