S.
Nr. 26368 Wien, Freitag
Neue Freie Presse
29. August 1930
Mitteilungen aus dem Publikum. 7
Goethe und die Psychoanalyse.
Von
Sigm. Freud
Wir veröffentlichen im nachstehenden
den Wortlaut der Rede, die, wie im Abend-
blatt gemeldet, Anna Freud namens ihres
Vaters bei der Uebergabe des Goethe-Preises
in Erwiderung auf die Ansprache des Ober-
bürgermeisters Dr. Landtmann verlas.
Meine Lebensarbeit war auf ein einziges Ziel ein-
gestellt. Ich beobachtete die feineren Störungen der seelischen
Leistungen bei Gesunden und Kranken und wollte aus solchen
Anzeichen erschließen — oder, wenn Sie es lieber hören, er-
raten — wie der Apparat gebaut ist, der diesen Leistungen
dient und welche Kräfte in ihm zusammen- und gegeneinander-
wirken. Was wir, ich, meine Freunde und Mitarbeiter, auf
diesem Wege lernen konnten, erschien uns bedeutsam für
den Aufbau einer Seelenkunde, die normale wie patho-
logische Vorgänge als Teile des nämlichen
natürlichen Geschehens verstehen läßt.
Aus welcher Einengung ruft mich diese mich über-
raschende Auszeichnung heraus, indem sie die Gestalt des
großen Unbeseelten heraufbeschwört, der in diesem Hause
geboren wurde, in diesen Räumen seine Kindheit verlebte!
Mahnt sie, sich gleichzeitig vor ihm zu rechtfertigen? Wirft
sie die Frage auf, wie er sich verhalten hätte, wenn fern für
jede Neuerung der Wissenschaft aufmerksamer Blick auch auf
die Psychoanalyse gefallen wäre?
Ich denke, Goethe hätte nicht wie so viele unserer Zeit-
genossen die Psychoanalyse unfreundlichen
Sinnes abgelehnt. Er war ihr selbst in manchen
Stücken nahegekommen, hatte in eigener Einsicht viel er-
kannt, was wir seither bestätigen konnten, und manche Auf-
fassungen, die uns Kritik und Spott eingetragen haben,
werden von ihm wie selbstverständlich vertreten. So war ihm
zum Beispiel die unvergleichliche Stärke der
ersten affektiven Bindung des Menschen-
kindes vertraut. Er feierte sie in der Zueignung der
Faustdichtung in Worten, die wir für jede unserer Analysen
wiederholen konnten:
„Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Versucht ich wohl euch diesmal festzuhalten?“
„Gleich einer alten halbverklung'nen Sage
Kommt erste Lieb' und Freundschaft mit herauf.“
In seiner vielleicht erhabensten Dichtung, der „Iphi-
genie“, zeigt uns Goethe ein ergreifendes Beispiel einer
Entsühnung, einer Befreiung der leidenden
Seele von dem Druck der Schuld, und er läßt
diese Katharsis sich vollziehen durch einen leidenschaftlichen
Gefühlsausbruch unter dem wohlthätigen Einfluß einer liebe-
vollen Teilnahme. Ja, er hat sich selbst wiederholt in
psychischer Hilfeleistung versucht, so an jenem
Unglücklichen, der in den Briefen „Kraft“ genannt wird, an
den Professor Blessing, von dem er in der „Kampagne
in Frankreich“ erzählt. Und das Verfahren, das er
anwendete, geht über das Vorgehen der katholischen Geister
hinaus und berührt sich in merkwürdigen Einzelheiten mit
der Technik unserer Psychoanalyse. Ein von Goethe als
scherzhaft bezeichnetes Beispiel einer psycho-
therapeutischen Beeinflussung möchte ich hier
ausführlich mitteilen, weil es vielleicht weniger bekannt und
doch sehr charakteristisch ist. Aus einem Briefe an Frau
v. Stein (Nummer 1444 vom 5. September 1785):
„Gestern abend habe ich ein rechtes psychologisches
Kunststück gemacht. Die Herder war immer noch auf das
Hypochondrische gespannt über alles, was ihr in Karlsbad
Unangenehmes begegnete, besonders von ihren Hausgenossen.
Ich ließ mir alles erzählen und beichten, fremde Umarten
und eigene Fehler mit den kleinsten Umständen und Folgen,
und zulegt absolvierte ich sie und machte ihr scherzhaft unter
dieser Formel begreiflich, daß diese Dinge nun abgetan und
in die Tiefe des Meeres geworfen seien. Sie war selbst lustig
darüber und ist wirklich kuriert.“
Das Rätsel der Begabung.
Ich bin auf den Vorwurf vorbereitet, wir Analytiker
hätten das Recht verwirkt, uns unter die Patronanz Goethes
zu stellen, weil wir die ihm schuldige Ehrfurcht verletzt haben,
indem wir die Analyse auf ihn selbst an-
zuwendend versuchen, den großen Mann zum Objekt der
analytischen Forschung erniedrigten. Ich aber bestreite
zunächst, daß dies eine Erniedrigung beabsichtigt oder
bedeutet. Wir alle, die wir Goethe verehren, lassen uns doch
ohne viele Sträuben die Bemühungen der Biographen gefallen,
die sein Leben aus den vorhandenen Berichten und Auf-
zeichnungen wiederherstellen wollen. Was aber sollen uns
diese Biographien leisten? Auch die beste und vollständigste
könnte die beiden Fragen nicht beantworten, die allein
wissenswert scheinen.
Sie würde das Rätsel der wunderbaren Be-
gabung nicht aufklären, die den Künstler macht, und sie
könnte uns nicht helfen, den Wert und die Wirkung seiner
Werke besser zu erfassen. Und doch ist es unzweifelhaft, daß
eine solche Biographie ein starkes Bedürfnis bei uns be-
friedigt. Wir verspüren dies sehr deutlich, wenn die Unzucht
der historischen Ueberlieferung diesem Bedürfnis die Be-
friedigung versagt hat, zum Beispiel im Falle Shake-
speare. Es ist uns allen unleugbar peinlich, daß wir noch
immer nicht wissen, wer die Komödien, Trauerspiele und
Sonnette verfaßt hat, ob wirklich der gelehrte Sohn des
Stratforder Kleinbürgers, der in London eine bescheidene
Stellung als Schauspieler erreichte, oder eher der hoch-
geborene und feingebildete, leidenschaftlich unordentliche,
einigermaßen deklassierte Aristokrat Baco von Verulam.
Rechtfertigt sich aber ein solches Bedürfnis, von den Lebens-
umständen eines Mannes Kunde zu erhalten, wenn dessen
Werke für uns so bedeutungsvoll geworden sind? Man sagt
allgemein, es sei das Verlangen, uns einen solchen Mann
auch menschlich näherzubringen. Lassen wir das gelten. Es
ist also das Bedürfnis, effektive Beziehungen zu solchen
Menschen zu gewinnen, sie den Vätern, Lehrern, Vorbildern
anzureihen, die wir gekannt oder deren Einfluß wir bereits
erfahren haben, unter der Erwartung, daß ihre Persönlich-
keiten ebenso großartig und bewundernswert sein werden wie
die Werke, die wir von ihnen besitzen.
„Ein großer Bekenner und sorgsamer
Verhüller.“
Immerhin wollen wir zugestehen, daß noch ein anderes
Motiv im Spiele ist. Die Rechtfertigung des Biographen ent-
hält auch ein Bekenntnis. Nicht herabsetzen zwar will der
Biograph den Heroen, sondern ihn uns näherbringen. Aber
das heißt doch, die Distanz, die uns von ihm trennt, ver-
ringern, wirkt doch in der Richtung einer Erniedrigung. Denn
es ist unvermeidlich: wenn wir vom Leben eines Großen mehr
erfahren, werden wir von Gelegenheiten hören,
in denen er es wirklich nicht besser gemacht hat als wir.
Trotzdem meine ich, wir erklären die Bemühungen der bio-
graphik für legitim. Unsere Einstellung zu Mättern und
Lehrern ist nun einmal eine ambivalente, denn unsere
Verehrung für sie deckt regelmäßig eine Komponente
von feindseliger Ablehnung. Das ist ein
psychologisches Verhängnis, läßt sich ohne
gewaltsame Unterdrückung der Wahrheit nicht ändern und
muß sich auf unser Verhältnis zu den großen Männern, deren
Lebensgeschichte wir erforschen wollen, fortsetzen.
Wenn sich die Psychoanalyse in den Dienst der Bio-
graphik begibt, hat sie natürlich ein Recht, nicht härter be-
handelt zu werden als diese selbst. Die Psychoanalyse kann
manche Aufschlüsse bringen, die auf anderem Wege nicht zu
erhalten sind, und so neue Zusammenhänge aufzeigen in dem
Webmeisterstück das sich zwischen den Er-
anlagen, dem Erleben und den Werkenkeines
Künstlers ausbreitet. Da es eine der hauptsächlichsten
Funktionen unseres Denkens ist, den Stoff der Außen-
psychisch zu bewältigen, meine ich, man müßte es
Psychoanalyse danken, wenn sie, auf
großen Mann angewendet, zum Verständnis
einer großen Leistung beiträgt. Ab Motiv im
gestehe, im Falle von Goethe haben wir es
nicht weit gebracht. Das rührt daher, daß Goethe
nicht nur als Dichter ein großer Bekenner
sondern auch trotz der Fülle autobiographischer Aufzeichnun
ein sorgsamer Verhüller. Wir können nicht um
hier der Worte Mephistos zu gedenken: „Das Beste,
du wissen kannst, darfst du den Buben
nicht jagen.“
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