Hysterie 1888-027/1899
  • S.

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    Hysterie, die [ὑστέρα, Gebärmutter]; (frz.
    hystérie f; engl. hysteria; (hysterics hysteri-
    scher Anfall); isteria f, isterismo m).

    μέτρα (metra) oder ὑστέρα (hystera) 

    I. Geschichte: Der Name H. stammt
    aus den ältesten Zeiten der Medizin und ist
    ein Niederschlag des erst in unseren Zei-
    tenüberwundenen Vorurteils, welches die
    Neurose mit Erkrankungen des weiblichen
    Geschlechtsapparates verknüpft. Im Mittel-
    alter hat die Neurose eine bedeutsame kultur-
    historische Rolle gespielt; sie ist infolge psy-

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    chischer Contagion epidemisch aufgetreten 
    und liegt dem Thatsächlichen aus der Ge-
    schichte der Besessenheit und des Hexen-
    wesens zu Grunde. Dokumente aus jener
    Zeit bezeugen, dass ihre Symptomatologie
    bis auf den heutigen Tag keine Verände-
    rung erfahren hat. Eine Würdigung und
    ein besseres Verständnis der Krankheit be-
    ginnt erst mit den Arbeiten Charcots und
    der von ihm inspirierten Schule der Sal-
    pět
    rière
    . Bis dahin war die H. die te
    noire der Medizin; die armen Hysterischen,
    die in früheren Jahrhunderten als Besessene
    verbrannt oder exorziert worden waren, ver-
    fielen im letzten, aufgeklärten Zeitalter bloss
    dem Fluche der Lächerlichkeit; ihre Zu-
    stände wurden als Simulation und Ueber-
    treibungen einer klinischen Beobachtung un
    wert erachtet.

    II. Begriffsbestimmung: Das letzte Jahr-
    zehnt hat der H. immer sicherer den Stempel
    einer Psychose im weiteren Sinne 
    aufge-
    drückt. Wenn somit auch der Sitz der Krank-
    heit im Gehirn, den kortikalen und subkorti-
    kalen Zentren, in der Assoziationsfaserung 
    gesucht wird, so wollen einige Autoren da-
    neben auf die Mitbeteiligen anderer Teile 
    des Zentralnervensystems nicht verzichten. 
    die Theorie, dass die Störungen überall 
    lediglich funktioneller Natur sind, d. h. der 
    anatomischen Grundlage entbehren, erfreut 
    sich rückhaltloser Anerkennung, dagegen 
    harren die vielfachen zur Erklärung heran-
    gezogenen Hypothesen der Labilität der 
    Moleküle, der Alteration der Erregbarkeit 
    der Neurone unter anderen noch immer 
    das Beweises. Haben uns auch die Charcot-
    scheint Schule und auf sie gestützte spätere 
    Untersuchungen von der Psychogenese und 
    gesetzmäßigen Ausbreitung der Symptome 
    von der Einheit des Krankheitsbildes über-
    zeugt, so will eine alles befriedigende Be-
    Griffs- und Wesensbestimmung der H. noch 
    nicht festen Fuss fassen. Die weiteste Version-
    Bereitung fanden die Lehren von der „Stö-
    rung der die höchste Vervollkommnung der 
    Gehirnfunktion verratenden assoziativen 
    Thätigkeit der Hirnelemente" (Janet, Freud
    und andere), nach welchen Empfindungen 
    und Vorstellungen nicht miteinander und
    dem Ich-Bewusstsein verbunden, i.e. assi
    miliert werden können, es daher zur Spal-
    tung in Ober- und Unterbewusstsein und 
    Einengung des Bewusstseinsfeldes bei deut-
    lich bewussten psychischen Vorgängen und 
    weniger hell beleuchtetem Inhalt kommt. 
    Dass ein Teil der Vorstellungen dem assozia-
    tiven Verkehr entzogen, der Korrektur durch 
    andere Vorstellungen nicht zugänglich wird, 
    also wie ein Fremdkörper wirkt ( idées fixes), 
    offenbart sich sich nach aussen durch Allen-
    kung, Zerstreutheit, regionäre Verständnis-
    losigkeit etc. Allgemeiner definiert Strom-
    pell die Ha. als eine rein dynamische Gleich-
    Gewichtsstörung der Wirkung verschiedener 
    Hirnzentren aufeinander und auf niedere 
    Nervenzentren. Mit Möbius sehen aber alle 

  • S.

    den Grundzug der H. in der masslosen
    Beeinflussbarkeit durch eigene und fremde
    Vorstellungen, so dass die Krankheit gerade-
    zu als pathologisch gesteigerte Suggestibi-
    lität und Autosuggestibilität bezeichnet
    wurde. In jüngster Zeit ist Sollier mit
    einer neuen ansprechenden Theorie hervor-
    getreten, welche der H. einen kortikalen
    oder allgemeinen, vorübergehenden oder bei-
    den
    dauernden Hemmzustand der Hirnzentren
    zu Grunde legt, so dass alle hysterischen
    Symptome
    in einem mehr oder weniger tiefen,
    mehr oder weniger verbreiteten Zustand des
    Halb
    wachse
    ns
    (**Vigilambulismus**)
    befinden.
    Näher auf die interessante Arbeit mit der
    „Methode der Schmerzpunkte“ und Tren-
    nung eines Hinterhirns für die Organe und
    Vorderhirns für die Psyche, wobei dem letz-
    teren die Aufgabe zufällt, das Bewusstsein
    von dem zu schaffen, was sich in dem er-
    steren abgespielt hat, kann hier nicht ein-
    gegangen werden.

    III. Ätiologie: Die H. findet sich bei den
    hoch
    entwickelten Völkern Europas, woselbst
    sie die romanische und semitische Rasse mehr
    zu befallen scheint, bei den Indern und Ara-
    bern, ebenso wie bei den zivilisierten Neger-
    stämmen Afrikas, ja sogar im Tierreich, da
    bei Pferden, Hunden, Katzen, Kanarien
    vögeln
    Psycho
    sen
    nur auf hysterische Zustände
    übertragene beobachtet sind. Bezüglich des
    Geschlechts fallen 15–16 % aller Erkran-
    kten auf das männliche Lebewesen, nur vor-
    liebe zwischen die Jahre 7–14, ohne dass
    das erste und zweite Lebensjahr, ja nicht
    einmal das Säuglingsalter sich frei hielten,
    während das Verhältnis von Männern zu
    Frauen sich wie 1:6–10 verhält. Die
    Krankheit manifestiert sich am ehesten im
    zweiten und dritten Jahrzehnt, nach dem
    vierzigsten Jahre seltener, nach dem sech-
    zigsten kaum mehr. Man kann die H. nicht
    stowrig als Krankheit **obschreitender Zivili**-
    sation bezeichnen, da sie sich unter den
    ärmeren Bevölkerungsschichten rechts erheblich ver-
    breitet findet und die Landbevölkerung keines-
    wegs weniger heimsucht. Die Hauptbedin-
    gung zur Entstehung der H. bildet eine in-
    dividuelle Disposition des Nervensystems,
    die in den weitaus meisten Fällen erbliche
    psycho-neuropathische Belastung und nur
    selten später, dann wahrscheinlich in den
    ersten Jahren, erworben zu sein scheint.
    Neben der schwerwiegendsten gleichartigen
    Vererbung von Seiten einer hysterischen Mut-
    ter oder beider Eltern und transformierender
    Vererbung bei Psychosen und Neurosen in
    den elterlichen Familien soll auch anderen
    Krankheiten wie Tuberkulose, sekundäre
    Syphilis, deren Recidive auch H.-Recidive
    zum Aufflackern zu bringen vermögen,
    Merkurialismus, Alkoholismus etc. eine Be-
    deutung zukommen, doch darf man darin
    nicht zu weit gehen, da sich sonst mild
    **kaum Übelbefind**en
    mehr fin
    den
    will. Eine
    viel geringere Schuld als die Disposition
    laden die Gelegenheitsursachen (agents pro-
     

    vocateurs) auf sich, insofern meist unbe-
    deutende Vernässungen, zuweilen erst in
    kumulativer Wirkung, das Leiden, häufig
    sogar nur einzelne Symptome hervorlocken.
    Aus der grossen Zahl der Schädlichkeiten
    seien genannt: Schock, Furcht, Grauen,
    Ueberraschung, plötzliche Versetzung in an-
    dere, belästigende Umgebung, körperliche
    und geistige Ueberanstrengung, obschon
    diese eher zur Neurasthenie führt, Ueber-
    müdung, schlechte Ernährung, überhaupt
    alle dem Körper schädigenden Momente, An-
    ämie, Chlorose, alle schwereren akuten und
    chronischen Organ- und Infektionskrank-
    heiten, sowie die später bei den Kombina-
    tionen aufzuführenden Nervenkrankheiten,
    welche die Nervosität selbst die unter Um-
    ständen als Prodromalstadium der H. anzu-
    sehen ist. Von den chemischen Vergiftungen,
    die ebenso oft organische Störungen des
    Nervenapparates hervorrufen oder der H.
    zufügen, kommen in Betracht solche, durch
    Quecksilber, Blei, Schwefelkohlenstoff, Mor-
    phin, Nikotin und in erster Linie Alkohol.
    Eine bevorzugte Stellung nehmen die Krank-
    heiten der weiblichen Geschlechtsorgane
    nur insofern ein, als sie auf das Gemüt der
    auf sie stets aufmerksamen Frauen einen
    dauernden tiefen Eindruck machen. Sexuellen
    Exzessen und Abstinenz kommt geringere
    Bedeutung zu. Masturbation wirkt beson-
    ders durch Ueberanstrengung der Phantasie
    schädigend. Nach dem Hysterica, welche
    gewöhnlich einen günstigen und schnellen
    Verlauf nehmen, sind in Schulen, Fabriken,
    Gesellschaften zahlreich beobachtet. Die
    häufigste aller Gelegenheitsursachen aber
    bildet besonders bei der niederen Bevölke-
    rung das **Trauma**, und zwar nicht sowohl
    der mechanische als der mit heftiger Er-
    regung einhergehende psychische Schock,
    welche ein stabiles Erinnerungsbild der
    funktionellen Störungen erzeugt, die durch
    den starken Reiz oder durch einen leichteren
    Reiz bei geringen Reizschwelle hervorgerufen
    wurden (Goldscheider). Die Schwere des
    Traumas ist gleichgültig, doch erhöht Bil-
    dung die Widerstandsfähigkeit. Fall auf
    den Arm führende Zurückziehung oder Kon-
    traktur desselben, Hitzschlag zur hysteri-
    schen Hemiplegie; der Biss eines Hundes
    rief Krampfanfälle hervor u. s. w. Schliesslich
    darf nicht unterlassen werden, darauf hin-
    zuweisen, dass so manches Symptom erst
    durch die ärztliche Behandlung entsteht
    und dass Hypnotisierungsversuche, vor deren
    unmotivierter Anwendung zu warnen ist,
    die beste Gelegenheitsursache bieten, da
    der **Parallelismus** der durch hypnotische
    Suggestion erzeugten und der hysterischen
    Erscheinungen nicht bezweifelt werden
    kann.

    IV. Symptomatologie:
    Die hysterischen
    Symptome äussern sich als mehr oder we-
    niger typische Anfälle oder selbstständige
    psychische, sensitive, motorische, vasomotorische,
    sekretorische, viscerale und trophische
     

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    Störungen, die ausnahmslos psychischen
    Ursprungs verraten.

    1. Die psychischen Symptome wer-
    den in den wenigen Fällen vermisst, Intelligenz und
    Schwachsinn scheinen sich bei dieser Krank-
    heit den Rang nicht streitig zu machen.
    Obwohl es einen eigenen hysterischen Cha-
    rakter gibt, findet man häufiger Lau-
    nenhaftigkeit, Unbeständigkeit, Schwanken
    der Stimmung, ungenügende Hemmungs-
    fähigkeit der gesteuerten Affekte, Egoismus
    mit Zurücktreten altruistischer Gefühle, so-
    wie Vergesslichkeit, die im Verein mit der die
    Lücken der Erinnerung ausfüllenden lebhaf-
    ten Phantasie und Sucht zum Uebertreibung
    leicht Lüge und Simulation, ja selbst die
    schwersten Formen des Irreseins vortäuschen
    und die Lebens- und Krankengeschichten der
    Patienten vertrauensunwürdig machen. Dass
    es sich thatsächlich nur um Lücken der Erin-
    nerung, um Zurückbleiben von Vorstellungen
    unterhalb der Bewusstseinsschwelle handelt,
    beweist die Reproduktionsmöglichkeit des
    Inhalts im sogenannten Zustande und bei
    automatischen Antworten. Die häufigere
    Form dieser Erinnerungsdefekte kennzeich-
    net sich als retrograde Amnesie, d. h. Ver-
    lust der Erinnerung an die Erlebnisse vor
    der Zeit der Erkrankung, die seltenere als
    anterograde, wenn nach der Erkrankung
    neue Erinnerungsbilder gar nicht oder nur
    kurze Zeit festgehalten werden. Uebrigens
    sind beides Merkmale, nach denen der Arzt
    suchen muss, da sie den Kranken ihnen an
    Unkenntnis gänzlich gleichgültig gegenüber
    stehen. Eine Hauptrolle spielt bei der H.
    die allerdings nicht immer vorhandene Wil-
    lensschwäche (Abulie), welche einmal nur sel-
    tenen und mühsamen Entschliessungen ent-
    spricht, in anderen Fällen zu den schwersten
    Bewegungsstörungen führt, und im allge-
    meinen als übertriebene Fügsamkeit den
    Grundstock der pathologischen Suggestibi-
    lität bildet. Auf Willensschwäche basieren
    ferner die leichteren Grade der Schläfrigkeit
    während die schweren, verknüpft mit
    mannigfaltigen Sensationen, durch Willens-
    lähmung zum hysterischen Schlaf leiten,
    der als einfache Schlafatacke ein selb-
    ständiges Symptom bildet oder in dem gros-
    sen hysterischen Anfall aufgeht. Hiermit
    verhalten sich die Träume der Hysterischen,
    die, meist mit Gestalten der Wirklichkeit,
    nicht der Phantasie spielend, häufig noch
    nach dem Erwachen durch vielfache Stö-
    rungen (Anästhesie, Lähmungen etc.) den
    Geisteszustand der mit guten Gedächtnis
    für sie Ausgestatteten zu beeinflussen ver-
    mögen, wobei, wenn es zu völligem Trau-
    leiben mit Verwirrung der Wirklichkeit
    kommt, zuweilen Gebärden und Handlungen
    von Angst, Furcht und anderen Affekten die
    schreckhaften Visionen und halluzinatori-
    schen Delirien dokumentalisieren. Auch hyste-
    rische Dämmerzustände wurden beobachtet
    mit periodischer, völliger geistiger Verwirrt-
    heit und Selbstmordversuchen, deren Ernst
     

    im allgemeinen bei der H. unterschätzt
    wird. Allgemeine Angstzustände trifft man
    bei H. oft an. Der hysterische Mann zeich-
    net sich gewöhnlich durch depressive, melan-
    cholische Gemütsstimmung aus, H. tritt zwar
    bei Geisteskrankheiten auf und umgekehrt,
    ebenso haben Kombinationen mit angebo-
    renem Schwachsinn und Epilepsie grosse
    Bedeutung, aber besondere hysterische
    Psychosen kommen nicht vor, Melancholie,
    Manie, Paranoia erscheinen höchstens ein eigen-
    artiges, der H. entsprechendes Gepräge.

    2. Sensibilitätsstörungen gelten als
    sicherste Stigmata der H., Sollier fand einen
    vollständigen Parallelismus zwischen den
    Abstufungen der Sensibilität und dem Schlaf
    der Hirnzentren und vermochte durch Zu-
    rückrufen der ersten Gradation (Erwachen)
    und damit den Normalzustand wiederher-
    zustellen. Das Charakteristikum der hyste-
    rischen Anästhesieen und Hypästhesieen
    (geringere Grade von Anästhesie) besteht
    abgesehen von der Unterwürfigkeit unter
    die Herrschaft fremder Suggestion, in
    der gänzlichen Abstrahierbarkeit ihrer Ver-
    breitung von den anatomischen Nerven-
    gebieten und ihrer innigen Beziehung zu den
    sensorischen Empfindungsstörungen. Die ver-
    schiedenen Qualitäten der taktilen, elektro-
    kutanen Anästhesie, der Analgesie, des kaum
    isolierten Thermoanästhesie, der Gefühls-
    störung des Muskel- und Gelenksinnes treten
    vereinzelt oder kombiniert auf, ihre Disso-
    ziabilität kommt daher ebensowohl der H.,
    wie der Syringomyelie, übrigens auch der
    Tubes zu. Bei der Untersuchung verfahre
    man schnell, um nicht dadurch erst Sym-
    ptome hervorzurufen, und um auch Transfer-
    erscheinungen zu vermeiden, welch letztere
    typisch dadurch herzustellen sind, dass sich
    auf eine anästhetische Hautstelle Gelegtes
    Metallstück diese ästhetisch oder hyp-
    erästhetisch macht, während die Anästhesie
    auf der symmetrischen Körperstelle Platz
    greift. Die hierauf gegründete Metallo-
    therapie durch ästhesiogene Mittel, die natür-
    lich nur mit dem Faktor der Suggestion
    rechnet, besitzt keinen spezifischen Wert.
    Auch die Anästhesieen gehören zu den zu
    suchenden Störungen, da sich die Kranken
    ihrer selten spontan bewusst werden, sich
    aber trotzdem zweckmässig der Verletzungen
    schützen. Es gelingt bei abgelenkter Auf-
    merksamkeit und entsprechenden Manipu-
    lationen zu beweisen, dass der hysterische
    Anästhetische eine Empfindung gehabt hat,
    obschon er sich dieser Gefühl nicht bewusst
    wurde, man erklärt das durch hinzunehm-
    endes undefinierbares Prozesses vermittelnder
    assoziativer Reproduktion (negative Illusion
    Deschamp). Allgemeine Anästhesie ist sehr
    selten, häufiger die inselörmige und die
    Handschuh- Keulen- u.
    W. Gestaltenformen anneh-
    mende, genetisch abgestreifte, welche mit
    Athralgieen, Lähmungen der Kontrakturen
    verbunden zuweilen recht hartnäckigen
    Charakter besitzt, am häufigsten die sensitiv-
     

  • S.

    sensorielle Hemiänästhesie, ähnlich der durch
    Verletzung der innern Kapsel erzeugten, von
    welcher sie sich jedoch durch Fehlen der Hemi-
    anopsie, Unabhängigkeit der Ausbreitung
    und des beschriebenen psychischen Charakters
    unterscheidet. Verschiebung der Grenzen
    findet sich bei allen Formen der Anästhesie;
    zuweilen schon in derselben Sitzung. Die
    sensoriellen Anästhesieen beobachtet man
    auf der Hautanästhetischen Seite oder doppel-
    seitig, ja auch gekreuzt und prägt sich im Ge-
    schmack, auf dem Rücken der herausgestreckten
    Zunge durch Bepinselung mit differenten
    Flüssigkeiten. Den Gehörstörungen gehen
    als subjective Symptome oft Sausen und
    Pfeifen voraus und täuschen, mit Schwindel
    verknüpft, leicht das Bild Menièrescher
    Schwindels vor. Doppelseitige hysterische
    Taubheit gehört zu den Seltenheiten; eine
    seitige, meist auf der anästhetischen Seite,
    stört nicht, da eine anästhetische Ohr kein
    doppelseitiges Hören wahrnimmt, einen
    Teil seiner Funktion wiedergewinnt. Der
    häufige und jähe Wechsel der Hörschärfe
    innerhalb ziemlich weiter Grenzen und das
    Nichtzuwenden des gesunden Ohrs zum
    Sprecher sind Zeichen, welche für die hyste-
    rische Natur der Störung eintreten. Von den
    sehr häufigen, meist durch mangelhafte
    Accommodation bedingten hysterischen Seh-
    störungen, die selten subjective Beschwerden
    verursachen, hat die einzigst beweiskräftige
    konzentrische Gesichtsfeldeinschränkung Ein-
    busse erlitten, nachdem ihr objectives Wert
    bezweifelt, und das Symptom nicht allein bei
    den funktionellen, in Sonderheit traumati-
    schen Neurosen gefunden wurde. Einwand-
    freie Untersuchungen müssen wiederholt, an
    verschiedenen Tagen unter denselben Be-
    dingungen mit demselben Apparat (wenn
    angängig Wellenauzischem Dunkelzimmer) bei
    vorher geschulten Kranken sowohl durch
    Einführung des Sehobjektes von der Peri-
    pherie als auch Ausführung vom Zentrum
    her vorgenommen werden. Massige Ein-
    schränkung erscheint beweisender als hoch-
    gradige, da sie seltener simuliert wird und
    mehr zum Bilde der H. passt. Während
    einzige Einengung für Weiss bis zur äusser-
    sten Farbengrenze ohne weiteres für H.
    spricht, sind die der Reihe nach dann folgenden
    der übrigen Farben Blau, Gelb, Rot, Grün,
    Violett nicht immer gleichmässig eingeengt,
    sondern schieben sich auch auf deviateden
    Seiten, finden wir zentrale Einschränkung
    mit Erhaltensein des peripheren Gesichts-
    feldes, selten zentrale Skotome und Hemi-
    anopsie, deren Möglichkeit früher ganz be-
    stritten wurde, häufiger monokuläre Polyopie
    und Mikromegalopsie (Kleiner- und Grösser-
    sehen bei Näher- und Entfeinen des Gegen-
    standes), während Asthenopie mehr in das
    Gebiet der Neurasthenie fällt. Doppelseitige
    Amaurose kommt sehr selten, da eine
    vorübergehend war und erweckt den Ver-
    dacht der Simulation, wenn Licht im Dunkel-
    raum in 1 m Entfernung nicht wahrgenommen

    wird, einseitige Amaurose und doppelseitige
    Amblyopie sind häufigere Erscheinungen.
    Dys- und Achromatopsie verhindern nicht,
    dass die Missfarben richtig erkannt werden.
    Anästhesie der Conjunctiva und Cornea er-
    zeugt Druck- und Fremdkörpergefühl, die
    stets doppelseitig den Schnüffelreflex Aphonic,
    wogegen die Schleimhaut des Nasenseptums
    immer normale Sensation besitzt. An den
    unteren Körperteilen schliesst sich die viel
    seltenere Anästhesie der betreffenden Haut-
    partie an (Anus, Urethra etc.), was zu ent-
    sprechenden Störungen führt, als sehr wich-
    tiges, früh auftretendes und häufiges Sym-
    ptom gilt die Analgesie, die für Nadelstich
    und Elektrotausch Reizung verschieden ist;
    Haphalgesie bezeichnet eine Schmerzempfin-
    dung bei Berührung sonst nicht schmerzerter
    Gegenstände. Die Anästhesie des Muskel-
    sinns lässt das Druck-, Zerrungs- und Zug-
    gefühl verschwinden. Nosologisch und topisch
    gleichwertig mit Anästhesie befallen die
    Hyperästhesieen am meisten Haut, Schleim-
    haut und Rürgeweide, seltener Muskeln,
    Knochen, Sehnengelenke. Bei Hemianästhesie
    zeigt zuweilen die andere Seite Hyperästhesie.
    Die Hyperalgesieen fallen meist auf hyper-
    ästhetische, seltener anästhetisches Gebiet.
    Vereinzelt wurden Poly- und Makroästhesie
    (Vervielfacht- und Grösserfühlen) und Allo-
    cheirie (unvermögen beide Körperhälften von-
    einander zu unterscheiden) beobachtet,
    Hysterogene Zonen ebenfalls häu-
    fige Stigmatas der H. und umschrieben
    schmerzhafte oder schmerzlose Körperstellen
    auf hyperästhetischem zuweilen auch an-
    ästhetischem Gebiet, deren Druck konvulsive
    Anfälle oder einen Teil der spasmotischen
    Erscheinungen des Anfalls hervorrufen und
    dabei oft erst zur Entdeckung kommen kann.
    Druck auf hysterogene [vom lat. fremdum
    Zaum gebildet] Zonen und Punkte unter-
    drückt den Anfall. Manchmal zeigen die
    gleichen Punkte beide Eigenschaften, erstere
    bei schwächerem, letztere bei stärkerem Druck.
    Reizung dieser Zonen soll auch Beschleuni-
    gung des Pulses (Manikopsisches Symptom), die
    Steigerung sowie Pupillenreaktion, Schwindel
    und Ohnmacht bewirken. Die Punkte finden
    sich genau oder subjektiv, kommen auch an
    Schleimhäuten und Eingeweiden vor und
    zeigen gewisse Prädilektionsorte: Ovarial-
    punkt beim Weibe, Iliacalpunkt beim Mann,
    die Magengegend, Interscapularregion, Spitzen-
    stossgegend, Brust, Hoden, Samenstrang,
    Gelenkfalten, Kopfscheitel u. a. Gelegent-
    lich kann jede Körperstelle als hysterogene
    Zone auftreten, ohne dass die Nervenstämme
    dabei eine besondere Rolle spielen. Dagegen
    entstehen sekundäre Neuralgieen, wenn
    Schmerzen von den Zonen auf die benach-
    barten Nerven ausstrahlen. Spontane
    Schmerzen, als Ausdruck direkter Erregung
    schmerzvollerer Zentralsystem, event.
    leichte periphere Reizung ausgelöst, ver-
    binden sich gern, wenn sie Gelenke befallen
    (Arthralgieen), mit Parosen der zugehörenden

  • S.

    muskeln und führen nicht selten zu Kon-
    trakturen, Diagnostisch wichtig gegenüber
    den organischen Gelenkerkrankungen ist,
    dass die Schmerzen bei Ablenkung verschwin-
    den und bei Kneifen der Haut grösser, als
    durch Druck in die Tiefe werden. Weiterhin
    begegnet man am häufigsten Schmerzen im
    Rücken (Rachialgie), im Scheitel (Clavus
    am Kreuz- und Steissbein (Coccygo- und
    Sacrodynie), in den Brüsten (Mastodynie),
    Migräne, Kardialgie und Angina pectoris
    sind keine Symptome, finden sich aber im
    Bilde der H. Ebenso steht es mit der Aki-
    nesia algera, die durch psychogene Schmerz-
    haftigkeit bei Muskelbewegungen Deformität
    hindurch die Kranken an den Bett fesselt.
    3. Motilitätsstörungen: Diese setzen
    sich zusammen aus Reiz- und Lähmungs-
    erscheinungen. Gerade die Kombination
    beider bildet nicht selten ein Charakteristi-
    cum für die H. Die Lähmungen, anschliessend
    an ein physisch-psychisches Trauma, einen
    Affektschock, einen hysterischen Anfall, be-
    ginnen häufig ganz plötzlich, fast apoplekti-
    form, zuweilen mit voraufgehender Par-
    ästhesieen der betreffenden Teile. Für die
    letzteren erscheint es besonders einleuchtend,
    dass die Vorstellung des Nichtkönnens auto-
    suggestiv die Ausführung der Bewegung ver-
    hindert. Ein krankhafte Hemmung der
    normalen Willensvorgänge bildet die psychi-
    sche Grundlage aller Lähmungen. Unab-
    hängig von den letzteren oder als Vorstadium
    entwickelt sich durch Willensschwäche oder
    irrtümliche Verteilung der Willensimpulse
    ein Zustand motorischer Schwäche, der als
    Amyosthenie oder Pseudoparese bezeichnet
    wird. Die hysterischen Lähmungen, häufig
    mit Anästhesieen verbunden, kümmern sich,
    wie letztere, nicht um die anatomische An-
    ordnung des Nervensystems, sondern zeigen
    Vorliebe für ganze, dem Kranken als Ein-
    heit vorschwebende Muskelgruppen. Die In-
    tensität erfolgter voller Entwicklung, die fast
    stet regelmässige Ausbleiben degenerativer
    Atrophieen und Entartungsreaktion schützen
    sie vor Verwechslungen mit peripheren Läh-
    mungen, soweit nicht die begleitenden An-
    ästhesieen und der psychische Charakter
    gegen solche schon Fürsprache erhoben haben.
    Dagegen pflegen sich Inaktivitätsatrophieen
    im Laufe der Zeit einzustellen. Es kann
    keinem Zweifel unterliegen, dass seltene
    Lähmungen nach im Gesicht und dem mo-
    torischen Apparat des Auges vorkommen,
    wenn schon Spasmen hier die viel häufigere
    Erscheinung bilden. Zuweilen machen sich
    so verwickelte Kombinationen bemerkbar,
    dass Lähmung und Kontraktur der Anta-
    gonisten überhaupt nicht zu unterscheiden
    sind. Spasmus glosso-labialis, der dem
    Seite täuscht gen Facialisparese, Blepharo-
    spasmus, Lähmung des Lidhebers vor. Doch
    erkennt man diese sog. Pseudoptosin an dem
    Tiefenstand der Augenbraue, dem Ueber-
    einanderchieben der Lider und Ausbleiben
    der Ausgleichung beim Zurückbiegen des

    Kopfes, während gegen hysterische Facialis-
    parese, welche niemals die volle Äste be-
    treffenden peripherischen gleicht, das Ent-
    weichen von Luft auf der spastischen Seite
    spricht. Hysterischer Lidsrampf, Blinzeln
    und Lichtscheu schliessen sich gern an vor-
    aufgegangene Conjunctivitis an. Bei den Läh-
    mungen assoziierter Muskelgruppen (Blick-
    lähmungen) handelt es sich sicher um hyste-
    rische, in Sonderheit, Konvergenzlähmung,
    wenn sie der Suggestion sich zugängig zeigen,
    Begleitender Schwindel, Pupillenstarre und
    Nystagmus erregen stets den Verdacht all-
    einiger oder komplizierender Organerkran-
    kung (Tabes, multiple Sklerose, Herder-
    krankung). Konjugierte Ablenkung beider
    Augen sind im Anfall, ausserordentlich selten
    ausserhalb desselben, zu sehen (Schwarz).
    Von internen Augenmuskellähmungen wurde
    Myosis im tonischen, Mydriasis im klonischen
    Stadium des Anfalls beobachtet, dauernde
    reflektorische Pupillenstarre sollte trotz noch
    stehenden gegenteiliger Beobachtungen stets
    den Verdacht medikamentöser Wirkung oder
    der Komplikation durch Epilepsie wachrufen.
    Unter den Extremitätenlähmungen nimmt
    die meist mit Hemianästhesie verbundene
    Hemiplegie, die aber ohne Bewusstseins-
    störung entsteht und sehr selten Faciallis-
    parese im Gefolge hat, die erste Stelle ein
    und zeigt insofern charakteristische Geh-
    störung, als das Bein nicht bogenförmig
    geschleudert wird, sondern nachgeschleppt
    den Boden fegt. Die selteneren, aber hart-
    näckigen und leicht recidivierenden Para-
    plegien der Beine und Monoplegieen an den
    Extremitäten (Arm, Hand, Fuss u. s. w.)
    wird man immer auf die begleitende An-
    ästhesie zu prüfen haben, die bei keiner orga-
    nischen Lähmung sich so mit dem gelähmten
    Gebiet deckt und bei den hysterischen meist
    in einer den Knochen senkrechten Am-
    putationenbene abschneidet. Mastdarm- und
    Blasenlähmung kommen seltene Fälle aus-
    genommen, der hysterischen Paraplegie nicht
    zu, isolierte Muskellähmung kennt die H.
    nicht. Eine kompliziertere, häufige Bewe-
    gungsstörung zeigt sich in der Form der
    Astasie-Abasie, d. h. der Unmöglichkeit der
    aufrechten Körperhaltung und des normalen
    Gehens, die im Kontrast steht zu der In-
    taktkeit der Empfindung, der Muskelkraft
    und der Koordination der übrigen Bewe-
    gungen der Beine, was mit Leichtigkeit in
    der Bettlage, bei abgelenkter Aufmerksamkeit
    kein auch ausserhalb des Bettes zu erkennen
    ist. Liegt nur Dysbasie vor, so vermögen
    die Kranken zu tanzen, springen oder mit
    gekreuzten Beinen zu laufen, aber nicht
    normal zu gehen. Aehnliche systematisierte
    Lähmungen findet man als Unfähigkeit zu
    schreiben trotz Bewehrtheit der Arme oder
    Fähigkeit klangvoll zu husten bei totaler
    Aphonie u. s. w. Die hysterische Stimm-
    bandlähmung, mit Unrecht so genannt, weil
    der Spiegelbefund selten anderes als mangel-
    hafte Spannung der Bänder zeigt, gehört zu

  • S.

    den häufigsten hysterischen Erscheinungen.
    Meist gestattet die Aphonie leises Flüstern,
    zuweilen Fistelstimme. Die seltene, oft in-
    folge von Schreck entstehende hysterische
    Stummheit (Mutismus) unterscheidet sich von
    organischer Aphasie dadurch, dass die Kran-
    ken, trotzdem sie alles verstehen, lesen und
    schreiben können, ja nach dieser Richtung
    oft eine Vielbeweglichkeit an den Tag legen,
    nicht fähig sind, einen unartikulierten Laut
    herauszubringen, was selbst der Aphasische
    fertig bekommt. Den Uebergang von Mutis-
    mus zur normalen Sprache, diesen voraus-
    gehend oder folgend, kann das hysterische
    Stottern bilden; es tritt aber auch als selb-
    ständiges Symptom auf und verursacht dem
    Kranken nur beim Wortbeginn, auch bei
    Wiederholung Schwierigkeiten, wobei oft
    spieleartiagte fremde Buchstaben einge-
    schoben werden. Bei hysterischer Taub-
    stummheit, die z. B. durch Hundegebiss er-
    zeugt wurde, lässt sich Simulation oft schwer
    ausschliessen. Von den motorischen Reiz-
    erscheinungen gelten als Stigmata der H.
    die Kontrakturen, denen häufig eine Diathese
    der Muskeln, auf leichte Reize in Kontraktur
    zu geraten, voraufgeht. Sie verschwinden
    in tiefem Schlaf und Chloroformnarkose,
    ohne dadurch dauernd beseitig zu werden,
    und steigern sich bei Berührung, Versuch,
    den Widerstand zu überwinden oder Per-
    suasion. An den Gliedmassen bemerkt man
    Neigung zum Fortschreiten von distalen zu
    proximalen Körperteilen, im Schultergelenk
    mit Vorliebe Adduktive des Arms, im Ellen-
    bogen und Handgelenk Flexion, an den
    unteren Extremitäten Streckung mit Planta-
    flexion der Füsse. Bei Coxitis ähnliche
    Hüftgelenkkontrakturen erkennt man ge-
    wöhnlich an den übertriebenen Bewegungs-
    schüssen. Die frischen Kontrakturen, meist
    günstigere Heilungsbedingungen, die ältere
    führt zu sekundären Veränderungen. Es
    bedarf wohl nicht des Hinweises, dass Um-
    fang und Schwere der Lähmungen und Kon-
    trakturen in gar keinem Verhältnis zur Grösse
    des schädigenden Moments stehen, dass sie
    aber mit Vorliebe sich an den verletzten
    Teilen entwickeln, weil die Kranken gerade
    auf sie ihre Aufmerksamkeit richten, Eine
    hohe Bedeutung nimmt eine andere Reiz-
    erscheinung, der hysterische T r e m o r, in
    Anspruch, da er durch seine Vielgestaltig-
    keit eine Reihe anderer Krankheiten nach-
    zuahmen vermag (Morbus Basedowii, multiple
    Sklerose, Alkoholismus). Meist erscheint er
    regelmässig, von mittlerer Oscillationszahl
    (5–8) und schwankender Amplitude, steigert
    sich aber auch bis zu konvulsivischem Schüttel-
    tremor. Fast immer, anfallsweise, häufiger
    bei Männern als Frauen auftretend, befällt
    er die ganze Muskulatur oder einzelne Körper-
    teile und lässt sich durch Aufregung steigern,
    durch willkürliche Unterdrückung verringern.
    Einige motorische Temroren verdienen hier
    noch Erwähnung, weil sie trotz ihrer Selb-
    ständigkeit häufig im Bilde der H. sich zeigen.

    Dazu gehören die unregelmässigen blitz-
    artigen Zuckungen der Myoklonie, welche
    niemals synergisch wirkende Muskelgruppen
    befallen, daher lokomotorischen Effekt nicht
    besitzen, ferner eine tanoide Form, teil-
    die Chorea hysterica, und electrice. Ausser-
    dem erinnern tickartige Zuckungen besonders
    der Kopf-, Hals- und Schultermuskeln, sowie
    Zwangskrämpfe (Wein-,Lach-, Schreikrämpfe,
    Nachahmung von Tierstimmen) an die Melodie
    des Tic convulsif, werden aber durch Affekte
    oder Emotionen hervorgerufen, kombinieren
    sich mit anderen hysterischen Erscheinungen
    und bleiben stets von Echolalie und Kopro-
    lalie frei.
    4. Viscerale und sonstige Störun-
    gen: Von den Respirationskrämpfen inno-
    viert der Stimmritzenkrampf eine thödsich-
    liche Gefahr, da er schon Tracheotomie be-
    nötigte, ja sogar zum Tod führte. Der eben-
    falls sehr bedrohliche tonische Zwerchfell-
    krampf ist zum Glück ausserordentlich selten,
    häufiger der klonische mit Singultus. Tachy-
    pnoë bis zu 100 Athemzügen in der Minute,
    lange einfache oder sacadierede Inspirationen,
    desgleichen, abortiertere Expirationen bil-
    den die gewöhnlichen Respirationsstörungen
    neben dem bekannten Hüsteln oder hart-
    näckigem krächzenden, pfeifenden, bellenden
    Krupphusten, der sich durch Ausführen im
    Schlaf, Mangel des Sekrets auszeichnet und re-
    flektorisch von vielen Organen (Ohr, Nase etc.)
    ausgelöst wird. Selten sind, kurz vor er-
    wöhnen hysterisches Schnauben, Schnüffeln,
    Niesen von Seiten des Digestionsapparates
    Luftschlucken, Magenplätschern, Ructus, Bor-
    borygmen und Erbrechen fehlen; an der
    Brust auf- oder absteigende Globusgefühl, wel-
    ches auf Sensibilitätsstörungen oder Krampf
    der Oesophageus und Pharynxmuskulatur be-
    ruht. Spasmus der Speiseröhre erfordert
    unter Umständen Sondeninfürung. Zirku-
    lationsstörungen, Tachy-, Bradykardie und
    Arrhytmie zeigen sich bei Hysterischen ebenso
    häufig, wie bei Neurasthenikern. Unter den
    Blutungen entzieht sich die hysterische
    Hämoptoë dem Verdacht der Lungenphthise
    dadurch, dass ihr hellrotes Sputum, welches
    aus den oberen Luftwegen stammt und etwa
    50–100 ccm beträgt, viel Speichel und Schleim,
    wenig Blut, keine Tuberkelbazillen enthält
    und Stärkerereaktion gibt. Blutungen aus Ma-
    gen, Darm und Blase treten selten, da man zu-
    weilen vikariierend bei ausbleibenden Menses
    ein deren Fehlen im Verein mit hysterischer
    Tempanitie und Galaktarrhoë schon mehr
    fach das Bild der Pseudschwangerschaft kon-
    struiere. Schwer zu diagnostizieren ist akute
    oder chronische Dysphobie hysterica, wenn
    sie allein auftritt. Dem harmloseren Hunger-
    gefühl (Bulimie) steht als Anorexie die zu
    schwereren Irritationszuständen führende
    grundsätzliche Zurückweisung der Nahrung
    aus irgend welchen falschen Vorstellungen
    oder nach Simuliationsträgungen gegenüber.
    Echte, Anorexie (event. mit Erbrechen und
    Ischurie, Anästhesieen und bei weitem
    Harmstoff im Erbrochenen)

  • S.

    am häufigsten Polyurie wechseln bisweilen
    bei demselben Patienten ab. Harnträufeln
    beobachtet man selten, entgegen Blasenkatarrh
    etc. Besondere Vorsicht in der Beurteilung
    verlangt das hysterische Fieber, weshalb,
    um klinischer Steigerung durch Manipula-
    tionen am Thermometer vorzubeugen, die
    Temperatur immer im Rectum gemessen
    werden sollte, da sonst bei Kombination mit
    anderen Erscheinungen leicht schwerere Or-
    ganerkrankungen als diagnostischer Irrtum
    hervorgehen. Die vasomotorischen Störungen
    werden vertreten durch die auf Gefässkrampf
    beruhende Ischämie und die selteneren Spon-
    tanblutungen (Stigmatisation), endlich durch
    eine besondere Form des Oedems, das sich
    durch Härte der Schwellung, sowie Bei-
    haltung der Elastizität (keine Delle) hervor-
    thut und die Hände oder Beine, aber auch
    ganze Körperpartien mit Vorliebe bei jungen
    Mädchen befällt. Paresen, Sensibilitäts-
    störungen und Schmerzen begleiten gern
    dieses an Intensität und Recidive reiche
    Oedem, dessen Hautfärbung bald weiss, bald
    blau, rot oder marmoriert erscheint. Bei
    trophischen Störungen der H. die zweifel-
    frei beobachtet sind (Erytheme, Pemphigus),
    denke man zunächst stets an Kunstprodukte,
    besonders bei Gangrän und Decubitus, da
    wiederholt durch ätzende Mittel erzeugt
    wurden, ähnlich gaben hysterische Tumoren
    artige Anschwellungen der Brüste Veran-
    lassung zur Exstirpation wegen irrtümlicher
    Karzinomdiagnose. Allgemeine und par-
    tielle Hyperhidrosis darf bei H. nicht über-
    raschen. Was die Reflexe anbelangt, so sind
    die der Haut und Schleimhaut auf anästhe-
    tischem Gebiet meist erloschen bezw. her-
    abgesetzt, so der Pharynx-, Kränzmus-, Nie-
    Schlund- und Konjunktivalreflex, nicht immer
    der Bauch-, selten der Cornealreflex; die
    Sehnenphänomene normal oder gesteigert,
    unbeeinflusst von Lähmungen und Kontrak-
    turen. Derversuchte Nachweis des verminderten
    Hirnhautwiderstands während des Anfalls hat ihr
    die früher anerkannte Bedeutung nicht ge-
    wonnen.
    5. Krampfanfälle sind keine Stigmata
    der H., finden sich daher nur bei einem Teil
    der Kranken, bei weitem häufiger bei Frauen
    (56: 18) als bei Männern (7: 31). Der Typus
    des grossen hysterischen Anfalls setzt sich
    aus einer Reihe von Phasen zusammen, denen
    als Prodromiumstadium Reizbarkeit und mo-
    torische Unruhe, als Aura (Globus, Konstruk-
    tionsgefühl und Herzangstvoraussgehen.
    Tritt der Anfall selbst mit dem epileptoiden
    Stadium ein, wobei die Kranken jedoch auch
    bei plötzlichem Hinstürzen sich vor Ver-
    letzungen schützen, sich vor Zungen-, selten
    Lippenbisse zu fügen und sich nicht einnässen.
    Nach kurzem tonischen Krampf mit Cyanose
    und Trismus und anschliessendem klonischen
    im allgemeinen unkoordinierten Zuckungen
    fast der ganzen Körpermuskulatur folgt die
    Phase der koordinierten grossen Bewegungen
    (Clownismus). Schleudern der Gliedmassen,
     

    Grussbewegungen, Rumpfverdrehungen, Bo-
    genstellung (Arc de cercle), Kruzifixstellung
    und andere Absurditäten stellen in diesem
    Stadium wegen der ausserordentlichen Kraft-
    entfaltung den Kranken an die schützende
    Umgebung keine geringen Anforderungen.
    Die 4., weitere Phase, basierend auf schreck-
    haften, ängstlichen, verzückten Hallucina-
    tionen, bringt durch entsprechende Stellun-
    gen, Gebärden und Ausrufe die herrschenden
    Affekte zum Ausdruck (attitudes passio-
    nelles). Nach kurzem mehr ruhigem Delirium
    endet der Anfall dann meist plötzlich ohne
    den festen Schlaf der Epilepsie mit Erwachen
    des Kranken. Trotz völliger Amnesie für
    das Vorgefallene lehrt die Möglichkeit sug-
    gestiver Einwirkung während des Anfalls,
    dass er seltener totale Bewusstseinsstörung
    einhergeht (Coprolage, perorale Berührung).
    Er vermag Transfert und neue Stigmata zu
    erzeugen, alte zum Verschwinden zu bringen.
    Dem geschilderten Typus entspricht der ge-
    wöhnliche hysterische Anfall, besonders in
    Deutschland, relativ selten, Verschiebung in
    der Reihenfolge und Ausfall einzelner Phasen
    lassen nur Rudimente aufkommen und führen
    zu den verschiedensten Variationen. Oft bildet
    auch ein Einzelkrampfsymptom (Lach-, Wein-
    krampf etc.) oder ein Schütteltremor das
    Äequivalent eines Anfalls. Ferner sind der
    Rinden- und Reflexepilepsie ähnelnde hyste-
    rische Krampfzustände beschrieben. Ab-
    phasen oder Äequivalent eines Anfalls, ja
    sogar als selbständiges Dauersymptom treten
    endlich noch die hysterischen Hypnoiden, Zu-
    stände der Katalepsie, der Lethargie und
    des Somnambulismus auf, die künstlich bei
    Hysterischen zu erzeugen sind, aber auch
    spontan entstehen. Während des Letzteren
    der Abschnitt  H y p n o t i s m u s  einzusehen ist,
    sei hier nur bemerkt, dass das Bewusstsein
    im kataleptischen Stadium erhalten bleibt,
    im lethargischen meist absolut erlöscht, im
    somnambulen nur für die frühern Attaken
    besteht, nicht für die Interparoxysmalen, die
    wieder so gross zur Verdoppelung der Per-
    sönlichkeit kommt. Die schwersten Formen
    von H. charakterisieren sich als schwanken-
    der, fortwährend wechselnd von Krampfzu-
    ständen und kleineren konvulsiven Anfällen
    unterbrochener Somnambulismus (Status hy-
    stericus ohne Temperaturerhöhung im Gegen-
    satz zum Status epilepticus). Beim Lethargicus
    geht der Stoffwechsel viel langsamer von
    Statten, als beim normalen Menschen, so
    dass die Gefahr der Inanition nur für die
    seltensten exzessiven Fälle droht, Anzeichen
    willkürlicher Anstrengung fehlen beim Kata-
    leptischen.
    V. Diagnose und Kombinationen:
    Die
    Diagnose der H. bereitet in vielen Fällen
    kaum Schwierigkeiten von allen, wenn Par-
    oxysmen deutlich zur Schau tragen. Ander-
    seits ist auch der geübte Praktiker in Sonder-
    heit bei monosymptomatischer H. zuweilen
    nicht in der Lage, ein schlüssiges Urteil als-
    bald zu fällen. Unter sorgfältiger Berück-

  • S.

    sichtigung der Anamnese, des Alters und
    Berufs erinnere man sich an Schwanken
    und Wandel, plötzliches, besonders anfalls-
    weises Auftreten und Verschwinden, Massi-
    vität und Psychogenität, i. e. Suggestibilität
    der Symptome, ihre Emancipation von allen
    anatomischen Grundsätzen, ihre Anpassung
    an eine rohe populäre Physiologie, Alles
    Paradoxe, Widersprechende, Exzessive und
    Ungenügende fällt in diesen zu Gunsten der
    H. in die Waagschale. Auch trotz früherer
    Spezialhinweise darf die stets durch Aus-
    schluss zu bildende Diagnose nie auf ein ein-
    ziges, sondern den ganzen Symptomenkom-
    plex und den Gesamteindruck des Kranken
    sich gründen, da die H. durch ihre Viel-
    gestaltigkeit nicht allein das Bestreben zeigt,
    eine Reihe wichtiger organischer Erkran-
    kungen zu imitieren, sondern auch mit solchen
    sich zu kombinieren, die sie überlagern. Da-
    durch nach Löwenfeld die Mehrzahl der mit
    schweren Rückenmarkskrankheiten behaf-
    teten Frauen hysterisch. Erst nach Abstra-
    hierung der hysterischen Symptome tritt
    dann das wahre Krankheitsbild zu Tage,
    dessen Uebersehung für Kranken und Arzt
    verhängnisvoll werden kann, und mit dessen
    Heilung event. auch die H. verschwindet.
    Wir stossen daher neben Pseudomeningitis
    mit Einkleidung der hysterischen Erschei-
    nungen in das Gewand der Gehirnent-
    zündung auf Hysteromeningitis, welcher die
    Veränderungen beider Krankheiten zu Grunde
    liegen. Aehnlich verhält es sich mit multipler
    Sklerose, Tabes, Paralyse, Gehirnabsces,
    Tumor cerebri, Basedowscher Krankheit,
    Wirbelcaries, Peritonitis. Auch sieht man
    z. B. Plexuslähmung mit hysterischer Hemi-
    plegie vereint. Selbstverständlich werden ge-
    wisse Symptome organischer Erkrankungen,
    wie Veränderungen des Augenhintergrunds,
    Fehlen des Patellarreflexes, typischer, nicht
    schwankender Intentionstremor, Degenera-
    tionsatrophieen mit Entartungsreaktion, da-
    uernde reflektorische Pupillenstarre, dauernde
    Hemiopie, event. Lähmungen der Gesichts-
    muskeln, thatsächliche, von Vorstellungen un-
    abhängige Koordinationsstörungen, Druck-
    puls, event. auch Darm- und Blasenlähmung
    der Stellung der H.-Diagnose hinderlich ent-
    gegenstehen oder muss der Verdacht einer
    neben der organischen Erkrankung bestehen-
    den H. zulassen. Auf sie ist daher in erster
    Linie zuzuhnden. Weitere Fingerzeige gibt
    das Auffinden hysterogener Punkte, auch die
    Art des Schmerzes, der sich bei H. in über-
    triebenen Lamentationen gefällt und der
    Druckempfindlichkeit, da z. B. bei hysteri-
    scher Rachialgie Kneifen der Haut über den
    Proc. spinosi, bei Wirbelcaries Tiefendruck
    und Belastung der Wirbelsäule von den
    Schultern her lebhafte Schmerzen erzeugen.
    Syringomyelie, die mit H. eine Reihe sensi-
    tiver, vasomotorischer und trophischer Stö-
    rungen teilt, schützt sich vor Verwechslung
    durch die langsamere Entwickelung und seg-
    mentale Ausbreitung der Anästhesie, sowie

    durch progressive Atrophie in anästhetischen
    Gebiet (Letzteres nur bei Ergriffensein der
    Vorderhörner). Bezüglich der multiplen
    Sklerose müssen unter anderen der Augen-
    spiegelbefund, ausgeprägter Intentionstre-
    mor, langsamer Nystagmus und die skan-
    dierende Sprache, die sich mit dem Stottern
    der H. nicht deckt, entscheiden. Bei der
    Epilepsie ähnlichen Anfällen suche man nach
    interparoxysmalen Stigmata der H., denke
    auch an hysterogene Anfälle. Schwieriger ge-
    staltet sich das Verhältnis der H. zur Neur-
    asthenie, doch sind auch hier die Symptome
    wesentlich verschieden. Während bei diesem
    im Vordergrund die abnorme Ermüdbarkeit
    mit langsamer Entwickelung der Erschei-
    nungen steht, zeigt jene in polymorphen
    Gewande, die plötzlich auf ein psychisches
    Trauma hervorbrechen, oft ebenso schnell
    verschwindenden, lokalisierten nervösen Stö-
    rungen, der Anästhesie, Lähmungen, Kon-
    trakturen etc. Die reizbare hypochondrische
    Stimmung des Neurasthenikers ersetzt der
    Hysterische höchstens durch allgemeine psy-
    chische Depression, seine Furcht des Nicht-
    könnens durch Unfähigkeit des Können-
    wollens. Trotzdem gibt es Fälle, in denen
    die Kombination beider Krankheitsbilder als
    Hysteroneurasthenie scharfe Trennung un-
    möglich macht. Hierfür ist die eine Krank-
    heit sei zumeist nicht umfassender Bezeich-
    nung  t r a u m a t i s c h e n  Neurosen verlassen und
    an ihre Stelle das Bestreben, der Klassifika-
    tion getrennt der H., der Neurasthenie, der
    Hypochondrie, der commotio spinalis mit
    organischer Grundlage, dem Rückenmarks-
    blutungen u. s. f. das ihnen Gebührende zu-
    zuerkennen. In dieser Richtung tritt dem
    Arzt oft eine schwierige Aufgabe entgegen,
    um so mehr, als Simulation und Uebertreibung
    keine anempfehlbare Rolle spielen und path-
    gnomonische Zeichen für die Anfallneurosen
    nicht existieren. Dazu kommt, dass häufig
    zwar nicht die Symptome, wohl aber der
    Zeitpunkt ihrer Entstehung fälschlich an-
    gegeben werden, insofern bei der Haupt-
    sächlich in Betracht kommende Arbeiter-
    bevölkerung, wie Sänger gezeigt, das Nerven-
    system durch Alkohol, Nikotin, Syphilis,
    Arteriosklerose schon viel früher erheblich
    geschädigt war, ehe das leichte Trauma die
    Veranlassung gab, unter Benutzung der alten
    Störungen der Invalidenrente nachzujagen,
    welche demnach mit Recht unter die Zahl
    der Agents provocateurs aufgenommen wird.
    Ob die von Stümpell zur Erklärung ein-
    geführten Begehrensvorstellungen nur eine
    krankheitsunterhaltende, aber keine kran-
    heitsmachende Bedeutung besitzen, ist noch
    strittige Frage. Auch unvoreingenommen nega-
    tiven Urteil muss sich der Arzt hüten über
    ein Non liquet wird er oft nicht hinaus-
    kommen, da wohl das Symptom simuliert
    sein kann, aber eben auf hysterischer Basis.
    In zweifelhaften Fällen bedient man sich
    der Chloroformnarkose oder Hypnose, z. B.
    bei den urteilsschwierigeren Gelenkerkran-

  • S.

    kungen Wichtigkeit besitzt die elektrische
    Prüfung.
    VI. Prognose und Verlauf: Abgesehen von
    den sehr seltenen Fällen, die durch Laryngo-
    spasmus, Anorexie, Delirium, Hämoptoë oder
    Tobsucht zu plötzlichem Tode führen, nimmt
    die H. meist einen chronischen, über lange
    Lebensperioden bis in das hohe Alter sich
    erstreckenden Verlauf, der an Inter- und
    Remissionen reich ist. Die oft leichte Be-
    einflussung eines Symptoms verhindert nicht,
    dass Ansprechen eines neuen, Heilung wird
    erst durch Umwandlung der hysterischen
    Konstitution dann erzielt, wenn hoher Wider-
    stand gegen psychische und somatische Schäd-
    lichkeiten die Auslösung hysterischer Er-
    scheinungen dauernd verhindert. Wer will
    da ein Urteil fällen? Als Massstab der Bese-
    rung kann unter Umständen die Abnahme
    der krankhaften Suggestibilität gelten. Ist
    die Prognose quoad sanationem auch nicht
    so günstig wie quoad vitam, so wird sie
    doch durch vielfache Erwägungen differen-
    ziert, wobei die Schwere der örtlichen Be-
    lastung, die Dauer der Krankheit, häusliche
    und soziale Missverhältnisse sehr ins Gewicht
    fallen. Viel günstiger als bei Erwachsenen
    gestaltet sich die Prognose der H. bei Kindern,
    da ihnen ein weit grösseres Autoritätsgefühl
    und Gehorsam inne wohnen. Die H. infantilis
    tritt übrigens ebenso wie die traumatische
    H. virilis mit Vorliebe in monosymptoma-
    tischer Form auf. Einen besonderes kind-
    lichen hysterischen Charakter gibt es nicht,
    doch zeigen sich, begünstigt von lebhafter
    Phantasie und Einbildungskraft, vorüber-
    gehende psychische Störungen der Emotion
    und des Affektes, auch rudimentäre Anfälle,
    Clownismus, Somnambulismus und Pavor
    nocturnus. Selten findet jener Anästhesieen
    und eigentliche Neuralgieen, häufig Läh-
    mungen, Kontrakturen, Arthralgieen, pare-
    tische, spastische oder tremorartige Astasie-
    Abasie, Aphonie, Mutismus, Blepharospas-
    mus, Respirationskrämpfe, die verschiedenen
    Formen der hysterischen Chorea. Da die
    Therapie noch recht zugängliche H. der
    Kinder würde weniger oft übersehen werden,
    wenn die Kenntnis der Symptome mehr ihre
    Nichtbeachtung verhinderte (Bann).
    VII. Therapie: Früh eingreifende Pro-
    phylaxe sollte die Ehe verhindern, wenn beim
    Individuen schwer nervös sind, da ihr ent-
    sprissende Kinder mit hoher Wahrschein-
    lichkeit neuronpathische Belastung zeigen, wel-
    cher die Prophylaxe der Nervosität, bedeutet
    auch Prophylaxe der H. In erster Linie sind
    nervöse Kinder, besonders hysterische Mütter
    Früh gegen physische und psychische Ein-
    flüsse abzuhüten, vor Verweichlichung, Ver-
    zärtelung und phantasiereicher Lektüre zu
    schützen, ihrer Aufmerksamkeit zu brechen,
    Willen und Energie zu stärken. Den psycho-
    genen Leiden entsprechend muss die Behand-
    lung der ausgebreiteten Krankheit selbst in
    der Hauptsache eine psychische sein, Direkt
    durch Belehrung oder indirekt durch Beein-
     

    flussung auf Umwegen unter Zuhilfenahme
    möglichst unauffälliger Manipulationen.
    Unter allen Umständen ist dem Kranken
    das Bestreben gesund werden zu wollen und
    die feste Zuversicht auf Heilung einzuflössen,
    seine Mitarbeit an diesem Ziele zu erzwingen.
    Dazu gehört von Seiten des Arztes eine ruhige,
    ernste, bestimmte, von Hohn, Spott und Roh-
    heit, aber auch von Aengstlichkeit über-
    grossem Mitleid und Nachgiebigkeit freie,
    inner Unständen einen gesunden Rücksichts-
    losigkeit nebst betonter Berücksichtigung der
    jederzeit Autorität und Respekt vor dem un-
    geordneten zu wahren Weiss. Versagt der
    Arzt, so drängt sich an seine Stelle die
    illegitime Heilkunst und feiert oft Triumph.
    Der einfache Befehl vermag ungekannte Be-
    wegungen im Moment hervorzubringem, ein-
    dringliche Ueberredung die durch Monate
    verschwundene Stimme wiederzugeben. Bei
    Kindern erreicht Bruns dasselbe durch die
    Methode der  U m b e z u m p e l u n g  oder  z w e c k -
    m ä s s i g e  Vernachlässigung. Umstürzen der
    fixen Ideen, Ablenkung von den krank-
    haften Autosuggestionen, Ueberführen des
    Mängelns oder nervösen Willens in nor-
    male Bahnen, Erziehung zur Selbstbeherr-
    schung und Unterdrückung der unmotivierten
    Affekte werden durch die vornehmserten Forde-
    rungen der psychisch-suggestiven Therapie
    lauten. Es bedarf keiner Auseinandersetzung,
    dass strengste Individualisierung des Einzel-
    falles, Geschicklichkeit und Fügigkeit des
    Arztes als nutzbringende Faktoren der Heil-
    wirkung zu gelten haben, Verliert der letztere
    seinen Eindruck über den Kranken, so erreicht
    er nichts mehr. Das gelingt dann vielleicht
    noch der überlegenen Autorität des Kollegen.
    Kommt man mit der einfachen Ueberredung
    nicht zum Ziel, so versäume man nicht, bald
    zu den indirekt-psychischen Hilfsmitteln der
    Elektrizität, Hydrotherapie, Massage, Heil-
    gymnastik oder auch medikamentösen Be-
    handlung zu greifen, denen ausserdem der
    Vorteil zur Seite steht, dass sie ebenso wie
    die Weir Mitchellsche Kur oft das Wohl-
    befinden des Kranken erhöhen, ihn dadurch
    zu Autosuggestionen in günstigem Sinne ver-
    anlassen. Im Grunde genommen ist die Art
    des Verfahrens ziemlich gleichgültig, wenn
    man nur stets den psychischen Einfluss da-
    bei im Auge behält und dem Kranken über-
    zeugend zu verstehen gibt, dass die Kur
    sicher von Erfolg begleitet sein wird. Man
    sei aber nach dieser Richtung vorsichtig,
    versspreche nicht zu viel, sondern vertröste
    auf weitere Besserung in folgenden Sitzungen.
    Glaube und Vertrauen des Kranken sind leicht
    verscherzt, weswegen eine übermässige Vier-
    geschäftigkeit, ein Wanken und Schwanken
    in der Wahl der Mittel zu häufiges Wechseln
    derselben, entschieden zu widerraten sind.
    Das mit Wachsuggestion im allgemeinen
    auskommt, wird die gefährlichere Hypnose
    für die schwersten Fälle ausgespart. In letzter
    Zeit hat sich eine Methode in den Vorder-
    grund gedrängt, die immer wärmere An-
     

  • S.

    hänger findet und besonders in der Behand-
    lung der traumatischen H. berufen zu sein
    scheint, ihre sogenannte Wirksamkeit zu
    entfalten. Das ist die möglichst frühzeitige
    Heranziehung zu angemessener, regelmäs-
    siger Arbeit, welche nicht allein den Stoff-
    umsatz bei den Patienten forciert, die Blut-
    zirkulation und Wärmeproduktion geistig
    regelt, sondern vor allem geeignet ist, den
    Kranken von seiner Grübelsucht und den
    vielgestaltigen Krankheitsideen abzulenken.
    Erfordernis wird eine ärztliche Dosierung
    und Auswahl des teils geistigen, teils körper-
    lichen Arbeit sein; Ueberanstrengung wirkt
    ebenso schädlich, wie Spielerei wenig nützt.
    Die Hysterischen sollen zu der Ueberzeugung
    gelangen, dass auch sie ihr Pensum in der
    allgemeinen Lebensaufgabe zu leisten haben,
    weshalb die medikomechanische Behandlung
    voller Ersatz nicht bieten kann. Mit Freuden
    ist die in neuer Zeit aufgetauchte sociale
    Forderung von Arbeitsnachweisstellen für
    nur arbeitbeschränkte Rentenempfänger zu
    begrüssen. Endlich muss noch darauf hin-
    gewiesen werden, dass eine Isolierung der
    Kranken, besonders der Kinder, d. h. Tren-
    nung von den Angehörigen und Unterbringung
    in einer sachgemäss geleiteten Anstalt oder
    bei verständigen Familien, dünn genügt-
    fertiger erscheint, wenn häusliche Verhält-
    nisse die Autorität des Arztes untergraben
    oder zum sinnlosen Serieanordnungen illu-
    sorisch machen, und wenn H. des zweiten
    Kindern Sucht zur Nachahmung erweckt.
    Von Reisen, Luftkurorten, See- und Gebirgs-
    aufenthalt erwarte nur der dann etwas, wenn
    es gelingt, hierdurch den Kranken in gün-
    stigerem Sinne psychisch zu beeinflussen. Meist
    wird sich der Arzt der Schamflüge einzelner
    Symptome nicht entziehen können, obwohl
    er sich bewusst bleibt, dadurch das Grund-
    leiden nicht zu beseitigen. Spezielle Regeln
    lassen sich für das Herr derselben nicht auf-
    stellen. Geschick und Erfindungsgebae leiten
    den Meister. Lähmungen und Kontrakturen
    entraten am wenigsten der elektrischen Be-
    handlung jeglicher Gestaltung, wobei der
    mässige, stabile galvanische Strom mit Auf-
    setzen der Anode auf die gelähmten Muskeln
    oder Nerven bevorzugt wird, oder auch der
    Massage, alles häufig nur als vorbereitender
    Akt für die folgende Suggestion. Astasie-
    Abasie erfordert konstante frühzeitige Geh-
    versuche. Auf Kehlkopfstörungen wirkt
    Persuafion und Schütteln desselben mit
    Aufforderung zu Husten und Sprechen gün-
    stiger, wenn nicht die einfache Spiegel-
    untersuchung und Druck auf den Zungen-
    grund genügen. Bei Respirationskrämpfen
    führen methodische Athemtemwegungen zum
    Ziele, andere lokale Krämpfe werden durch
    lokale Bäder oder Douchen, die kalt oder
    warm oder schottische (abwechselnd heiss
    und kalt) sein mögen, in Angriff genommen.
    Glottiskrampf durch Brechmittel. Bei All-
    gemeinkrämpfen versucht man es mit Sug-
    gestion, kalten Güssen oder Druck hystero-
     

    gener Punkte, steht jedoch oft genug hilflos
    da und muss sich beschränken, die Befallenen
    vor Verletzungen zu schützen. Hydrotherapie,
    Magenspülung und Klysma spielen bei
    Verdauungsstörungen eine Rolle, der leichte
    stabile galvanische Strom mit Anode auf
    die schmerzhaften Stellen oder spirituose
    Einreibungen bei Neuralgieen. Gynäkologi-
    sche Eingriffe sind nur dann vorzunehmen,
    wenn sie auch bei Nichthysterischen indiziert
    wären. Man hüte sich vor unnötigen Mani-
    pulationen und Untersuchungen, da sie durch
    Aufregung das Leiden meist verschlimmern.
    Schlaflosigkeit wird durch allgemeine oder
    partielle feuchte Einpackungen bekämpft,
    oder durch die weniger gewohnheitsgefähr-
    lichen Narcotica, Paraldehyd, Chloralhydrat,
    Trional, Sulfonal. Morphium ist möglichst
    zu vermeiden. Eisen, Arsen und die Tonica
    haben ihre bekannte Indikation, Jod und
    Quecksilber bei Kombination mit Lues. Häufig
    geniessen die teuren Medikamente grössere
    Achtung und Erfolg, weshalb Somatose, Nutrol,
    Hämatogen und andere nicht abzureden sind.
    Auch der Einfluss der Organotherapie ist
    kein anderer. Ungünstig wirkende Lokal-
    mittel benutze man aber nicht zu lang, da
    ihre Summe unmöglich ein günstiges Ge-
    samtresulat liefern kann (Löwenfeld). Mäs-
    siger Alkohol- und Tabakgenuss kann erlaubt
    werden. Der Arzt mache es sich zur Pflicht,
    nicht nur die Ausführung der Verordnungen
    streng zu überwachen, sondern auch alle
    Applikationen selbst vorzunehmen, oder
    nur sehr geschulten Pflegern anzuvertrauen.
    Schliesslich sei noch der von Breuer und
    Freud eingeführten Methode „des artifiziellen
    Abreagierens pathogener Vorstellungen“ ge-
    dacht, welche viel Geduld und Spezialkennt-
    nis erfordert, dann aber Erfolge aufzuweisen
    hat.