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[Beilage zum Brief F-JCG/ 1907-06-06; dort findet sich auch das Faksimile des Originals.]
[Ich soll also über Ihre beiden Fälle phatasiren]
Ich soll also über Ihre beiden Fälle phantasiren. Die Notizen brauche
ich wol nicht abzuschreibensie liegen Ihnen gewiß vor.SDer erste ist der leichtere: Er beginnt mit 9 J, natürlich liegen
die wesentl. Determinirgen dahinter, jede Hy meine ich
knüpft an die Sexualität der Jahre 3‑5 an. Aber das läßt
sich ohne sehr lange Analyse nicht beweisen. Ihre Anamnese
bringt sozusagen nur das historische Material; zum prae-
historischen würden die erhaltenen Kindererin̄ergen führen.
Bei Dem. p. wird man sich wahrsch. oft mit dem historischen
begnügen müssen.Dann läuft alles klar weiter, die Liebe zum Bruder beherrscht sie
unverdrängt, aber aus ubw Quellen. Unter zunhemenden
Conflicten allmälige Verdrängg, Schuldgefühl als Reaktion.
Sehr schön ihr Benehmen während Verlobg des Bruders, Vergleich
mit Braut. Keine Conversionssymptome nur Conflictstim̄gen.
Bei der Annäherung der Realität durch den Heiratsantrag
des Herrn, den sie an den Bruder anreiht, offenbart sich
die Verdrängg, sie erkrankt. Die wahrsch. fortgesetzte Masturb.
hat wol die hyster. Gestaltung des Bildes verhindert, denn
eine ordent Hy hätte längst aufgehört zu masturb u dafür
Ersatzsympt bekom̄en. Ihre Demenzdiagnose ist dann ganz
richtig, durch die Wahnidee bestätigt. Es scheint, sie bringt es dann
zu einer Ablösung der Libido vom Bruder, Ersatz durch
Indifferenz. Die Euphorie theoretisch etwa als Stärkg des Ich
durch die eingezogene Objectbesetzung. Also ein nur partieller
Fall, wol nicht abgeschloßen, kaum vollkom̄en durchschaut.II Der Paranoide
Er setzt mit homosex Erfahrgen an. Das Mädchen mit dem Bubenkopf
vermittelt die Rückleitg der Libido zum Weib.In London Conflictzustand, verträgt den Zusam̄enbruch
seiner Hoffnungen nicht, erschießt sich angesichts der verzweifelten
Lage (Symbol N.13) nach mehrfachen Versuchen sich das, was ihm
fehlt, illusorisch zu beschaffen. Hallucinatorisch gelingt es
ihm nicht. Die Wunscherfüllg dieses Prozesses ist eben nicht
hallucinatorisch, keine Regression von den Phvorstellgen
auf die Wahrnehmungen, aber eine Beeinflußg der
Wahrnehmgen, respektive genauer der Erin̄ergsbilder frischer
Wahrnehmgen im Sinne der Wunschphantasien. Die Art der
Wunscherfüllungen können wir von den Wahnideen gut absondern.
Doch haben sie schon einen besonderen Charakter, welcher
der Paranoia eigen ist, den die Theorie durch Lokalisation
erklären würde. Im Kampf zwischen Realität und Wunsch-
phantasie erweisen sich die letzteren als die stärkeren
weil sie ubw Wurzeln haben. Verdrängg kommt hier nicht inS.
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Betracht, wol aber Ueberwältigung. Dh: Es liegt der Prozess der
Psychose vor, nicht das Ubw ist verdrängt worden, sondern das
Ubw hat das mit der Realität zusam̄enhängende Ich über-
wältigt. Wenigstens zeitweise hier der Suicid zeigt, daß
es kein dauernder Erfolg war, es ist eine Handlung des
normalen Ich zur Abwehr gegen die Psychose.Zwischen dieser Londoner Zeit u der definitiven Erkrankg liegt
eine Zeit der Gesundheit, also der geglückten Verdrängg.
Nun da die Libido wiederkom̄t mit der Nachricht der Verlobg
erfolgt die Erkrankg in typischer paranoischer Form mit Projektion.
Das Schlußresultat, dass Lydia in allem steckt u alles macht
heißt ja soviel, als daß diese Objektliebe ganz von ihm Besitz
ergriffen hat. Aber nach der Form dieser Aeußerg ist eseine Libido,
die etwas Verdrängtes wider besetzthat. Die Vergrängg ist inist
der Genesg. erfolgt u bestand – was sich aus dem Fall nicht
erweisen läßt – in Projektion nach außen, aber nicht als starke
Vorstellg wie beim Wunschdelir, sondern als schwache, was
nur durch die Ablösg der Libido möglich gewesen sein kann.
Die wiederkehrende Libido fand ihr Objekt als äusserliches, projiciertes
vor. Daß bei der dazwischen liegenden Verdrängg die Libido
in den Autoerotism gegangen ist, erschließe ich aus den reinen
Demenzfällen, dieser paranoide Fall zeigt nichts darüber.
Die Paranoia zeigt überhaupt nur die Widerkehr der Libido.
Die Ablösung (Verdrängg) wird sichtbar in Ihren Demenzbeobachtungen.Das ψ Problem (nicht das klinische) ist das des Mechanismus der
Projektion in die Wahrnehmgswelt, die nicht mit der einfachen
Wunschregression identisch sein kann.Sehr interessant u hoffentlich bald an anderen Fällen zu studiren
ist das Verhältniß der späteren Paranoia (mit Projektion)
zu einer ursprünglichen Überwältiggspsychose. Zuerst ist
die Realität durch die starke Wuschphantasie überwältigt
worden, aber so dass nur die Erin̄ergen gefälscht, nicht die Wünsche
hallucinirt wurden. Dann tritt als Reaktion die Verdrängg der
Wunschphantasien ein, die vielleicht wegen dieses Vorstadiums
von der später wiederkehrenden Libido so nahe dem Wahrnehmgs-
ende angetroffen werden. Es scheint beim paran. Prozeß die
Regression nicht wirklich bis zu dem System Wahrnehmg
sondern nur bis zum nächsten: Erin̄ergsbilder zu gehen
Bei weiteren Analysen wird sich der Unterschied vom
hyst‑conversionstypus hoffentlich klarer zeigen lassen.Ich kann nicht mehr geben, bin aber sehr
bereit, mehr zu empfangen.S.
[Beilage zum Brief von Sigmund Freud an C. G. Jung vom 6.6.1907.
Das Dokument liegt in der Library of Congress in Form des Faksimiles des Originals zum Brief f-JCG/1907-06-06 und einer zweiseitigen Abschrift (Typoskript) vor.
Quelle der Abschrift:
Titel: Sigmund Freud Papers: Oversize, 1859-1985; Writings; Undated; [Unidentified hand and typewritten manuscripts]
Webadresse: https://www.loc.gov/item/mss3999002122/
Zitiervorschlag: Sigmund Freud. Sigmund Freud Papers: Oversize, -1985; Writings; Undated; Unidentified hand and typewritten manuscripts. - 1985, 1859. Manuscript/Mixed Material. https://www.loc.gov/item/mss3999002122/.
In dieser Mappe finden sich noch:1
(Blatt ohne Titel und Datum
). Doppelt beschriebene Folioseite)Ich soll also über Ihre beiden Fälle
Phantasieren phantasiren. Die
Notizen brauche ich wol nicht abzuschreiben. Sie liegen Ihnen gewiss vor.Der erste ist der leichtere: Er beginnt mit 9 J natürlich liegen
die wesentl. Determiniergen dahinter, jede Hy meine ich knüpft an die
Sexualität der Jahre 3‑5 an. Aber das lässt sich,ohne sehr lange
Analyse nicht beweisen. Ihre Anamnese bringt sozusagen nur das histori-
sche Material; zum praehistorischen würden die erhaltenen Kindererinne-
rungen führen. Bei Dem p. wird man sich wahrsch. oft mit dem histori-
schen begnügen müssen.Dann läuft alles klar weiter, die Liebe zum Bruder beherrscht sie
unverdrängt, aber auch ubw. Quellen. Unter zunhemenden Conflicten all-
mälige Verdrängg, Schuldgefühl als Reaktion. Sehr schön ihr Benehmen
während Verlobg¿¿¿des Bruders, Vergleich mit Braut. Keine Conversionssymptome
nur Conflictstimmungen. Bei der Annäherung der Realität durch den
Heiratsantrag des Herrn, den sie an den Bruder anreiht, offenbart sich
die Verdrängg, sie erkrankt. Die wahrsch. fortgesetzte
Masturb. hat wol die hyster. Gestaltung des Bildes verhindert,xxxdenn eine
ordent. Hy hätte längst aufgehört zu masturb u dafür Ersatzsympt
bekommen. Ihre Demenzdiagnose ist dann ganz richtig. Ddurch die Wahn-
idee bestätigt. Es scheint, sie bringt es dann zu einer Ablösung der
Libido vom Bruder, Ersatz durch Indifferenz. Die Euphorie theore-
tisch etwa als Stärkg des Ich durch die eingezogene Objektbesetzung.
Also ein nur partieller Fall, wol nicht abgeschlossen, kaum voll-
kommen durchschaut.II Der Paranoide
Er setzt mit homosex Erfahrgen an. Das Mädchen mit dem Bubenkopf
vermittelt die Rückleitung der Libido zum Weib.In London Conflictzustand, verträgt den Zusammenbruch seiner Hoff-
nungen nicht, erschiesst sich angesichts der verzweifelten Lage (Sym-
bol N.13) nach mehrfachen Versuchen sich das, was ihm fehlt, illuso-
risch zu beschaffen. Hallucinatorisch gelingt es ihm nicht. Die Wunsch-
erfüllg dieses Prozesses ist eben nicht hallucinatorisch keine Regres-
sion von den Phvorstellgen auf die Wahrnehmungen, aber eine Beeinflussg
der Wahrnehmgen, respektive genauer der Erinnergsbilder frischer
Wahrnehmgen im Sinne der Wunschphantasien. DiexxxArt der Wunscherfül-
lungen können wir von den Wahnideen gut absondern. Doch haben sie
schon einen besonderen Charakter, welcher der Paranoia eigen ist, den
die Theorie durch Lokalisation erklären würde. Im Kampf zwischen Rea-
lität und Wunschphantasie erweisen sich die letzteren als die stär-
keren, weil sie ubw Wurzeln haben. Verdrängg kommt hier nicht inVorletzter Absatz:
Transkription: Rückleitung
Druck: RückkehrS.
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(Blatt ohne Datum u. Titel)
Betracht, wol aber Ueberwältigung. Dh: Es liegt der Prozess der Psychose
vor, nicht das Ubw. ist verdrängt worden, sondern das Ubw hat das mit
der Realität zusammenhängende Ich überwältigt. Wenigstens zeitweise hier
der Suicid zeigt, dass es kein dauernder Erfolg war, es ist eine Hand-
lung des normalen Ich zur Abwehr gegen die Psychose.Zwischen dieser Londoner Zeit u der definitiven Erkrankg liegt
eine Zeit der Gesundheit, also der geglückten Verdrängg. Nun da die
Libido wiederkommt mit der Nachricht der Verlobg erfolgt die Erkrankg
in typischer paranoischer Form mit Projektion. Das Schlussresultat,
dass Lydia in allem steckt u alles macht heisst ja soviel, als dass die-
se Objektliebe ganz von ihm Besitz ergriffen hat. Aber nach der Form
dieser Aeusserg ist es eine Libido, die etwas Verdrängtes wieder be-
setzt hat. Die Vergrängg ist in der Genesg. erfolgt u bestand – was
sich aus dem Fall nicht erweisen lässt – in Projektion nach aussen,
aber nicht als starke Vorstellg wie beim Wunschdelir, sondern als schwa-
che, was nur durch die Ablösg der Libido möglich gewesen sein kann. Die
wiederkehrende Libido fand ihr Objekt als äusserliches, projiciertes vor. 1
Dass bei der dazwischen liegenden Verdrängg die Libido in den Autoero-
tism gegangen ist, erschliesse ich aus den reinen Demenzfällen, dieser
paranoide Fall zeigt nichts darüber. Die Paranoia zeigt überhaupt nur
die Wiederkehr der Libido. Die Ablösung (Verdrängg) wird sichtbar in Ihren Demenz-
beobachtungen.Das ψ Problem (
xxxnicht das klinische) ist das des Mechanismus
der Projektion in die Wahrnehmgswelt, die nicht mit der einfachen
Wunschregression identisch sein kann.Sehr interessant u hoffentlich bald an anderen Fällen zu studieren
ist das Verhältnis der späteren Paranoia (mit Projektion) zu einer ur-
sprünglichen Ueberwältiggspsychose. Zuerst ist die Realität durch die
starke Wuschphantasie überwältigt worden, aber so dass nur die
Erinnergen gefälscht, nicht die Wünsche halluciniert wurden. Dann tritt
als Reaktion die Verdrängg der Wunschphantasien ein, die vielleicht
wegen dieses Vorstadiums von der später wiederkehrenden Libido so
nahe dem Wahrnehmgsende angetroffen werden. Es scheint beim paran.
Prozess die Regression nicht wirklich bis zu demletztenSystem Wahrnehmg
sondern nur bis zum nächsten: Erinnergsbilder zu gehen Bei weiteren
Analysen wird sich der Unterschied vom hyst‑conversionstypus hoffent-
lich klarer zeigen lassen.Ich kann nicht mehr geben, bin aber sehr bereit, mehr zu empfangen.
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Auf beiden Seiten eines großen Bogens (25 x 40 cm); der Brief selbst auf dem kleinen Briefpapier.
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Anmerrkung CD:
Diese Abschrift gibt die originale "s"-Schreibung nicht wieder, weil die Option "ß" nicht gegeben ist, dürfte aber sonst genauer sein, als die normalisierte Transkription im veröffentlichten Freud-Jung Briefwechsel.
So ist auf Seite 1 dieser Beilage "Phvorstellung" zu "psychische Vorstellung" ergänzt worden. Man könnte dies aber auch als eine Abkürzung von "Phantasievorstellung" deuten.
2. Seite, 2. Absatz: in der Publikation: Krankheit; in der Abschrift: Erkrankg -
Die Transkription des Typoskripts folgt in vielem Freuds Schreibweise genau, wir finden "wol" statt "wohl", Abkürzungen wie Verdrängg, Vorstellg, etc.
Es ist nicht genau zu sagen, wie genau die Interpunktion dem Original folgt, aber es wurden hier jedenfalls nicht systematisch Normalisierungen vorgenommen. -
Freuds Eigenheit, "halluzinieren" oder "studieren" ohne "ie" (Seite 2 der Abschrift) zu schreiben, sind im Typoskript nicht abgebildet. Es ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob diese Schreibeweise dem Original entspricht, oder ob hier bei der Transkription stillschweigend Korrekturen vorgenommen wurden. In der 1. Zeil auf Seite 1 wurde das Wort "Phantasieren" korrigiert. In der entsprechenden handschriftlich erfolgten Einfügung lesen wir "phantasiren", was als Hinwies auf eine stillschweigende Korrektur im Typoskript dienen könnte.
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Beilage zum Brief von Sigmund Freud an C. G. Jung vom 6.6.1907
ca.20x40
- Handschrift Freud (Kurrent)
- Druckschrift
OV14 Box 40/13b