Josef Breuer † 1925-052/1925
  • S.

    Josef Breuer  

    Am 20. Juni 1925 starb in Wien im 84. Lebensjahr Dr. Josef
    Breuer, der Schöpfer der kathartischen Methode, dessen Name darum
    unauslöschlich mit den Anfängen der Psychoanalyse verknüpft ist.
     

    Breuer war Internist, ein Schüler des Klinikers Oppolzer; in
    jüngeren Jahren hatte er bei Ewald Hering über die Physiologie
    der Atmung gearbeitet, später noch, in den spärlichen Mußestunden einer
    ausgedehnten ärztlichen Praxis beschäftigte er sich erfolgreich mit Versuchen
    über die Funktion des Vestibularapparates bei Tieren. Nichts an seiner
    Ausbildung konnte die Erwartung wecken, daß er die erste entscheidende
    Einsicht in das uralte Rätsel der hysterischen Neurose gewinnen und
    einen Beitrag von unvergänglichem Wert zur Kenntnis des menschlichen
    Seelenlebens leisten werde. Aber er war ein Mann von reicher, universeller
    Begabung und seine Interessen griffen nach vielen Richtungen weit über
    seine fachliche Tätigkeit hinaus.
     

    Es war im Jahre 1880, daß ihm der Zufall eine besondere Patientin
    zuführte, ein ungewöhnlich intelligentes Mädchen, das während der Pflege
    seines kranken Vaters in schwere Hysterie verfallen war. Was er an diesem
    berühmten „ersten Fall“ getan, mit welch unsäglicher Mühe und Geduld
    er die einmal gefundene Technik durchgeführt, bis die Kranke von all
    ihren unbegreiflichen Leidenssymptomen befreit war, was für Verständnis
    für die seelischen Mechanismen der Neurose er dabei gewonnen, das erfuhr
    die Welt erst etwa vierzehn Jahre später aus unserer gemeinsamen Publi-
    kation Studien über Hysterie" (1895), leider auch dann nur in stark ver-
    kürzter und durch die Rücksicht auf ärztliche Diskretion zensurierter Form.
    Wir Psychoanalytiker, die längst damit vertraut sind, einem einzelnen
    Kranken Hunderte von Stunden zu widmen, können uns nicht mehr vor-
    stellen, wie neuartig eine solche Bemühung vor 45 Jahren erschienen sein
    muß. Es mag ein großes Stück persönlichen Interesses und ärztlicher
    Libido, wenn man so sagen darf, dazugehört haben, aber auch ein ziem
     

    "2
     

  • S.

    Sigm. Freud: Josef Breuer +
     

    256
     

    liches Ausmaß von Freiheit des Denkens und unbeirrter Auffassung. Zur
    Zeit unserer „Studien“ konnten wir uns bereits auf die Arbeiten von
    Charcot und auf die Untersuchungen von Pierre Janet beziehen,
    die damals einem Teil der Breuerschen Entdeckungen die Priorität ent-
    zogen hatten. Aber als Breuer seinen ersten Fall behandelte (1881/82),
    war von alledem noch nichts vorhanden. Janets. „Automatisme Psycho-
    logique" erschien 1889, sein anderes Werk „L'état mental des Hystériques"
    erst 1892. Es scheint, daß Breuer durchaus originell forschte, nur durch
    die Anregungen geleitet, die ihm der Krankheitsfall hot.
     

    Ich habe wiederholt zuletzt in meiner „Selbstdarstellung" (1925) in
    Grotes Sammlung „Die Medizin der Gegenwart" meinen Anteil an
     

    66
     

    den gemeinsam veröffentlichten „Studien abzugrenzen versucht. Mein
    Verdienst bestand im wesentlichen darin, bei Breuer ein Interesse, das
    erloschen schien, wieder belebt und ihn dann zur Publikation gedrängt
    zu haben. Eine gewisse Scheu, die ihm eigen war, eine innere Bescheiden-
    heit, die an der glänzenden Persönlichkeit des Mannes überraschen mußte,
    hatten ihn bewogen, seinen erstaunlichen Fund durch so lange Zeit
    geheimzuhalten, bis dann nicht mehr alles an ihm neu war. Ich bekam
    später Grund zur Annahme, daß auch ein rein affektives Moment ihm
    die weitere Arbeit an der Aufhellung der Neurose verleidet hatte. Er war
    mit der nie fehlenden Übertragung der Patientin auf den Arzt zusammen-
    gestoßen und hatte die unpersönliche Natur dieses Vorganges nicht erfaßt.
    Zur Zeit, als er meinem Einfluß nachgab und die Publikation der „,Studien"
    vorbereitete, schien sein Urteil über deren Bedeutung gefestigt. Er äußerte
    damals: Ich glaube, das ist das Wichtigste, was wir beide der Welt mit-
    zuteilen haben werden.
     

    Außer der Krankengeschichte seines ersten Falles hat Breuer zu den
    „Studien“ einen theoretischen Aufsatz beigetragen, der weit davon ent-
    fernt, veraltet zu sein, vielmehr Gedanken und Anregungen birgt, die
    noch immer nicht genug ausgewertet worden sind. Wer sich in diese
    spekulative Abhandlung vertieft, wird den richtigen Eindruck von dem
    geistigen Format des Mannes davontragen, dessen Forscherinteresse sich
    leider nur während einer kurzen Episode seines langen Lebens unserer
    Psychopathologie zugewendet hat.
    Freud