S.
Lokalisation, die (frz. localisation f cérébrale;
engl. localisation; it. localizazionef), ist ein viel-
umstrittener Begriff der Physiologie des Gross-
hirns. Es handelt sich um die Frage, ob ver-
schiedenen Stellen der Grosshirnrinde verschie-
dene Funktionen zuerkannt werden können. Der
Natur der Sache nach muss jedes Rindenelement
zunächst als ein Durchgangsort für Nervenerre-
gungen aufgefasst werden. Wegen der Mannich-
faltigkeit der Orte, von denen aus der einzelnen
Rindenzelle Erregungen zufliessen können, und
derjenigen, wohin sie Erregungen weiter senden
kann, wird der Spielraum der zentralen Prozesse,
an denen sich die Zelle beteiligen kann, also auch
der Spielraum ihrer Funktion, eine gewisse Breite
haben. Die erkennbare Funktion einer Rinden-
gegend wird also nicht eine so begrenzte sein
können, wie z. B. die Funktion des Sekretions-
epithels einer Drüse. Nicht in demselben Sinne,
wie man von einer Epithelzelle eines gewundenen
Harnkanälchens sagen kann, sie sezerniert Harn,
kann man von einer Rindenzelle des Grosshirns
sagen, sie will eine Bewegung oder sie sieht, son-
dern nur: sie ist an einem zentralen Prozess be-
teiligt, dessen Endglied eine Muskelinnervation ist,
oder an einem solchen, der durch einen Gesichts-
eindruck eingeleitet wurde. Immerhin kann unter
den erregungsleitenden Nervenbahnen, welche durch
eine solche Rindenzelle miteinander verknüpft sind,
eine einzelne derart prävalieren, und die Zelle
selbst kann in einer bestimmten Erregungsbahn
eine so hervorragende Stelle einnehmen, dass ihrer
Funktion dadurch ein greifbarer Charakter auf-
gedrückt wird. So gehen von Rindenzellen der
Zentralwindungen und ihrer nächsten Umgebungen
anatomisch nachweisbar Fasern aus, welche durch
Stabkranz, innere Kapsel. Hirnschenkelfuss, Brücke,
Pyramide und Pyramidenbahn des Rückenmarks mit
motorischen Nervenzellen der grauen Vordersäulen
des letzteren zusammenhängen. Auf sicherer ana-S.
tomischer Grundlage ist darum zu erwarten, dass
in der Ausbreitungsgebiet der Stabkranzfasern in
der Hirnrinde zu den unter Vermittelung der letz-
teren überhaupt eintretenden Körperbewegungen in
hervorragend inniger Beziehung steht. In der That
treten motorische Verletzungen im Bereich der ge-
nannten Rindengegend beim Menschen sicher Stö-
rungen im willkürlichen Gebrauch der Skeletmuskeln
auf und durch localisirte, auf die Rindenzellen
beschränkte elektrische Reizung bestimmter Rinden-
stellen den gesamten Gebietes kann man Thätigkeit
der Muskelgruppen in bestimmt koordinirten Thätigkeit
versetzen. Da sich das genannte Rindengebiet
hierin wenigstens quantitativ auffallenderweise von
der übrigen Hirnrinde unterscheidet, so ist man
vollauf berechtigt, dasselbe als die „motorische
Sphäre“ der Hirnrinde zu bezeichnen. Ferner steht
die Rinde des Hinterhauptlappens durch einen stets
vollziehbare Faserung des weissen Marklagers,
durch die Sehstrahlung G R A T I O L E T ' s , mit dem
Tractus opticus zum Ursprung dienenden Ganglien
des Hirnstammes (im Corpus quadrigemum, Geniculatum
externum und Pulvinar Thalami optici) in anatomisch
nachweisbarer direkter Verbindung, und da ausser-
dem nach angeborenen Rindenläsionen, weit sicherer
wenn sie im Okzipitallappen als secundäre Läsion zu
auftreten, Seh Störungen zu erwarten sind, so hat
eine noch nicht unbestrittenen Sinn, wenn man
diese Rindenpartie „die Sehsphäre“ nennt. In ana-
logem Sinne, wenn auch nicht mit dem gleichen
Grade von Sicherheit, betrachtet man die Rinde des
Schläfelappens als „Hörsphäre“ und die Rinde im
Gebiete der Substanta perforata antica und des
Ammonshorns als „Riechsphäre“. In ersterer Be-
ziehung lässt die Begründung durch die anatomische
Zuordnung, in letzterer in geringem Umfang auf die patho-
logische und physiologische Erfahrung noch viel zu
wünschen übrig. Das physiologische Experiment
und die Beobachtung am Krankenbett und Sektions-
tisch drängen dazu, der „Fühlsphäre“ dasselbe
Rindengebiet zuzuweisen wie der motorischen
Sphäre und das kennt sich darum weder nennen
will noch will, dass die durch die Haut und Muskeln
vermittelte Empfindungen, welche die Gelenks-
bewegungen begleiten, zur Bildung der Bewegungs-
vorstellungen erforderlich sind, und dass das Ein-
treten von Bewegungsvorstellungen in das Bewusst-
sein ein wesentliches Kriterium für das Unterscheiden
der Willkürbewegungen von den Reflexbewegungen
ausmacht. Ueber diese Funktionen zu sprechen,
welche die Rinde des Stirnhirns in nächster Beziehung
stehen mag, ist eine Klärung der Aussichten
noch nicht erzielt. Was das Positive in den vorigen
drei Absätzen betrifft, so wird es kaum von irgend-
einem der Forscher, welche sich in neuerer Zeit an
der Diskussion über die Lokalisationen betheiligt
haben, bestritten werden, worüber augenblicklich
die Aussichten noch weit ausschweifender sind,
hauptsächlich die Fragen, nach dem Grade der Ab-
grenzbarkeit der einzelnen Sphären gegeneinander
und nach der Möglichkeit des Nachweises einer
feineren Gliederung der Funktionen innerhalb der
einzelnen Sphären. Was den ersteren Punkt an-
belangt, so ist eine landkartenähnliche Abgrenzung
zwischen Gebieten verschiedener Funktionen auf Grund
der anatomischen Verhältnisse nicht zu erwarten,
denn soweit Structurunterschiede in der grauen
Rinde und ihren weissen Marklager nachgewiesen
und zeigen sich die Uebergänge seltener, d. h. man
braucht man nicht so weit zu gehen, dass
man auf Grund der Seh Störungen, welche man z. B.
nach Verletzungen im Stirnhirn beobachtet, der be-
treffenden Rindenpartie dieselbe Bedeutung für dasSehen zuschreibt wie der Rinde des Hinterhaupt-
lappens. Für eine solche Gleichstellung fehlt die
anatomische Grundlage, und man muss bedenken,
dass ein zentraler Process, welcher durch einen Ge-
zichtseindruck eingeleitet wurde, der Intaktheit noch
manche zentraler Verbindungen und kortikaler
Durchgangsstationen bedürfen wird, um in Form
einer entsprechenden Bewegung in die objektive
Erscheinung zu treten. Was die feineren Gliederung
der Funktion betrifft, so ist man zu den am all-
gemeinsten anerkannten Resultaten auf dem Ge-
biete der motorischen Sphäre gelangt. Die einzel-
nen Theile der Zentralwindungen sind dadurch
charakterisiert, dass bei einer so schwachen elek-
trischen Reizung derselben, dass die erste motorische
Wirkung zu beobachten ist, jedesmal eine ganz be-
stimmte Muskelgruppe in Thätigkeit gesetzt wird,
oder Muskeln des Gesichts, oder der Arme, oder
der Beine etc. Die auf diese Weise charakterisierte
Rindenstelle der Bauchzelkn z. B. nennt man das
„absolute Rindenfeld“ derselben im Gegensatz zu
dem dort beobachteten „relativen“ von dessen
Theilen aus ebenfalls aber bei mehr oder weniger
bedeutsamer Verstärkung des Reizes Bewegungen
in den Beinmuskeln zu erzielen sind. Eine Unter-
scheidung der relativen und absoluten Rindenfelder
verschiedener Muskelgruppen hat sich auch für die
Deutung der pathologischen Befunde als zweck-
mässig erwiesen. Allgemein anerkannt ist ferner,
dass jedes motorische Rindenfeld einerseits aber
nicht ausschliesslich zu der betreffenden Muskel-
gruppe der entgegengesetzten Körperhälfte in Be-
ziehung steht. Dass diese Reserve erhalten geblieben
aus folgendem Beispiel hervorgeht: In der motorischen
Sphäre des Rumpfbehrens giebt es ein absolutes
Rindenfeld für Auswärtsbewegung des gehemmten
Vorderbeines. Durch Verstärkung des Reizes an der
betreffenden Rindenstelle erhält man auch Be-
wegung der gleichnamigen Vorderextremität, doch
betrifft diese Bewegung nicht die symmetrische
Muskelgruppe, sondern diejenige, welche die Be-
wegung zu einer mit der des anderen Beines gleich
gerichteten macht. Dieser Erfolg tritt auch nach
strenger, der elektrischen Strömung auf die be-
treffende Hirnhemisphäre und nach Durchschneidung
des Balkens auf, so kann man nicht daran ge-
zweifelt werden, dass die Stabkranzfaserung der-
selben Seite den zu beiden Extremitäten gelangen
den Bewegungsimpulsen zur Leitung dient. Eine
analoge Erforschung von grosser Bedeutung, welche
jetzt ebenfalls allgemein anerkannt sein dürfen,
trifft die Sehsphäre. Nach Zerstörung der Rinde
eines Okzipitallappens tritt Sehstörung in den
gleichgeschickten Hälften beider Netzhaut ein (bilat-
erale homonyme Hemiopie), so dass also die Projek-
tion jeder Hälfte des Gesichtsfeldes durch Ver-
mittelung beider Augen in nur einem Okzipital-
lappen und zwar in dem contralateralen, zustande
kommt. Eine ganz besondere Rolle hat in der Ent-
wickelung der S. die Beziehung des linken
dritten Stirnwindung zur Sprache gebildet. In einer
grossen Anzahl von Fällen hat sich die an Paralyse
beobachtete Aphasie auf Zerstörung dieses Rinden-
gebietes zurückführen lassen, aber auch nach ander-
weitigen Hirnläsionen neuartige Sprachstörungen beob-
achtet. Seitdem man verschiedene Formen der
Aphasie zu unterscheiden gelernt hat, weiss man,
dass mit der linken dritten Stirnwindung diejenige
Form zusammenhängt, welche man die a k t i s c h e
nennt, und welche auf der Störungen der zum Aus-
sprechen der Worte erforderlichen Bewegungs-
koordination beruht, zum Sprechen gehört aber
mehr, vor allem, die richtige Association von Vor-
stellungen, welche früheren gleichzeitig erhaltenenS.
Sinneseindrücken entsprechen, und Kraft deren die
Wiedererkennung von Gegenständen und die Erin-
nerung an ihre optischen oder akustischen Symbole
in Schrift und Laut erfolgt. Verschiedene Formen
von Aphasie sind also bei Läsionen in verschiedenen
Sinnssphären der Rinde und den zugehörigen Asso-
ziationsfasersystemen nicht nur beobachtet worden,
sondern sie sind auch der Natur der Sache nach
hier zu erwarten gewesen.
Villaret1888Handwoerterbuch
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