Märchenstoffe in Träumen 1913-006/1913
  • S.

    Mitteilungen.

    I.
    Beiträge zur Traumdeutung.

    1.
    Märchenstoffe in Träumen.
    Von Sigm. Freud.

    Es ist keine Überraschung, auch aus der Psychoanalyse zu erfahren,
    welche Bedeutung unsere Volksmärchen für das Seelenleben unserer Kinder
    gewonnen haben. Bei einigen Menschen hat sich die Erinnerung an ihre Lieb-
    lingsmärchen an die Stelle eigener Kindheitserinnerungen gesetzt; sie haben
    die Märchen zu Deckerinnerungen erhoben.
    Elemente und Situationen, die aus diesen Märchen kommen, finden sich
    nun auch häufig in Träumen. Zur Deutung der betreffenden Stellen fällt den
    Analysierten das für sie bedeutungsvolle Märchen ein. Von diesem sehr ge-
    wöhnlichen Vorkommnis will mir hier zwei Beispiele anführen. Die Bezieh-
    ungen der Märchen zur Kindheitsgeschichte und zur Neurose des Träumers
    werden aber nur angedeutet werden können, auf die Gefahr hin, die dem
    Analytiker wertvollsten Zusammenhänge zu zerreißen.

    I.

    Traum einer jungen Frau, die vor wenigen Tagen den Besuch ihres
    Mannes empfangen hat: Sie ist in einem ganz braunen Zimmer.
    Durch eine kleine Tür kommt man auf eine steile Stiege,
    und über diese kramt ein sonderbares Männlein ins Zimmer,
    klein, mit weißen Haaren, Glatze und roter Nase, das im
    Zimmer vor ihr herumtanzt, sich sehr komisch gebärdet und
    dann wieder zur Stiege herabgeht. Er ist in ein graues Ge-
    wand gekleidet, welches alle Formen erkennen läßt. (Korrektur: Es trägt einen langen schwarzen Rock und eine graue
    Hose).
    Analyse: Die Personenbeschreibung des Männleins paßt ohne weitere
    Veränderung*) auf ihren Schwiegervater. Dann fällt ihr aber sofort das
    Märchen von Rumpelstilzchen ein, der so komisch wie der Mann im
    Traume herumtanzt und dabei der Königin seinen Namen verrät. Dadurch
    hat sie aber keinen Anspruch auf das erste Kind der Königin verloren und
    reißt sich in der Wut selbst mitten entzwei.
     


    *) Bis auf das Detail kurzgeschnittenen Haare, während der Schwiegervater das
    Haar lang trägt.

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    Beiträge zur Traumdeutung.

    Am Traumtag war sie selbst so wütend auf ihren Mann und äußerte:
    ich könnte ihn mitten entzweireißen.

    Das braune Zimmer macht zunächst Schwierigkeiten. Es fällt ihr nur das
    Speisezimmer ihrer Eltern ein, das so — holzbraun — getäfelt ist, und dann
    erzählt sie Geschichten von Betten, in denen man zu zweien so unbequem
    schläft. Vor einigen Tagen hat sie, als von Betten in anderen Ländern die
    Rede war, etwas sehr Ungeschicktes gesagt, in harmloser Absicht, meint
    sie, worüber ihre Gesellschaft fürchterlich lachen mußte.
    Der Traum ist nun bereits verständlich. Das holzbraune Zimmer*) ist
    zunächst das Bett, durch die Ergänzung das Speisezimmer ein Ehebett.**)
    Sie befindet sich also im Ehebett. Der Besucher sollte ihr junger Mann sein,
    der mit mehrdeutiger Abwesenheit zu ihr gekommen war, um seine Rolle
    im Ehebett zu spielen. Es ist aber zunächst der Vater des Mannes, der
    Schwiegervater.
    Hinter dieser ersten Deutung blickt man auf eine tiefer liegende rein sexu-
    ellen Inhalten. Das Zimmer ist jetzt die Vagina. (Das Zimmer ist in ihr, im
    Traume umgekehrt). Der kleine Mann, der seine Grimassen macht und
    sich so komisch benimmt, ist die Penis; die enge Tür und die steile Treppe
    bestätigen die Anspielung auf Situation als einer Koitusdarstellung. Wir sind
    sonst gewohnt, daß das Kind den Penis symbolisiert, werden aber verstehen,
    daß es einen guten Sinn hat, wenn hier der Vater zur Vertretung des Penis
    herangezogen wird.
    Die Auflösung des noch zurückgehaltenen Restes vom Traum wird uns
    in der Deutung ganz sicher machen. Das durchscheinende graue Gewand er-
    klärt sie selbst als Kondom. Wir dürfen erfahren, daß Interessen der Kinder-
    verhütung beziehungsweise ob nicht besser des Mannes, den Traum zu einem
    zweiten Kind gelegt, zu den Anregern dieses Traumes gehören.
    Der schwarze Rock: Ein solcher steht ihrem Manne ausgezeichnet. Sie
    will immer beeinflussen, daß er ihre Trage anstatt seiner gewöhnlichen
    Kleidung. Ihr Mann trägt im Traum also so, wie sie ihn gern sieht:
    Schwarzer Rock und graue Hose; das heißt aus zwei verschiedenen, einander
    überdeckenden Schichten: So gekleidet will ich dich haben. So gefällt du mir.
    Rumpelstilzchen verknüpft mit den aktuellen Gedanken des Traumes
    den Traumresten — durch eine schöne Generalisierung. Er kommt im
    Märchen, um der Königin das erste Kind zu nehmen; der kleine Mann
    kommt im Traum als Vater, weil er wahrscheinlich ein zweites Kind gebracht
    hat. Aber Rumpelstilzchen vermittelt auch den Zugang zur tiefsten, in-
    nern Schicht der Traumgedanken. Der unheimliche kleine Kerl, dessen Namen
    man nicht einmal weiß, dessen Geheimnis man kennen möchte, der so
    außerordentliche Kunststücke kann (ins Märchen Stroh in Gold verwandeln),
    die Winkel, die man gegen ihn hat, eigentlich gegen einen Besitzer, den man
    im alten Besitz beneidet, der Feind des Märchens, dar, und Elemente,
    deren Beziehung zu den Grundlagen der Neurose, wie gesagt, nur ge-
    streift werden soll. Zum Kastratsthema gehören wohl auch die geschnittenen
    Haare des Männchens im Traume.
    Wenn man in durchsichtigen Beispielen darauf achten wird, was der
    Träumer mit dem Märchen macht, und an welche Stelle er es setzt, so wird
    man dadurch mit vielleicht auch Winke für die noch ausstehende Deutung dieser
    Märchen selbst gewinnen.


    *) Holz wie bekannt häufig weibliches, mütterliches Symbol (materia, Madeira usw.).
    **) Tisch und Bett repräsentieren ja die Ehe.

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    Sigm. Freud: Märchenstoffe in Träumen.

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    II.

    Ein junger Mann, der einen Anhalt für seine Kindheitserinnerungen in
    dem Umstande findet, daß seine Eltern ihr bisheriges Landgut gegen ein an-
    deres vertauschten, als er noch nicht fünf Jahre war, erzählt als seinen frühesten
    Traum, der noch auf dem ersten Gut vorgefallen, folgendes:
    „Ich habe geträumt, daß es Nacht ist und ich in meinem
    Bett liege, (mein Bett stand mit dem Fußende gegen das
    Fenster, vor dem Fenster befand sich eine Reihe alter Nuß-
    bäume. Ich weiß, es war Winter. Als ich träumte und Nacht
    zeit). Plötzlich geht das Fenster von selbst auf und ich sehe
    mit großem Schrecken, daß auf dem großen Nußbaum vor dem
    Fenster ein paar weiße Wölfe sitzen. Es waren sechs oder
    sieben Stück. Die Wölfe waren ganz weiß und sahen eher aus
    wie Füchse oder Schäferhunde. Denn sie hatten große
    Schwänze wie Füchse und ihre Ohren waren aufgestellt wie
    bei den Hunden, wenn sie auf etwas passen. Unter großer
    Angst, offenbar vor den Wölfen aufgefressen zu werden,
    schrie ich auf und erwachte. Meine Kindsmagd eilte zu meinem Bett,
    um nachzusehen, was mit mir geschehen war. Es dauerte eine ganze Weile,
    bis ich überzeugt war, es sei nur ein Traum gewesen, so natürlich und deut-
    lich war mir das Bild vorgekommen, wie das Fenster aufging und die Wölfe
    auf dem Baume sitzen. Endlich beruhigte ich mich, fühlte mich aber noch
    von einer Gefahr befreit und schlief wieder ein."
    „Die einzige Aktion im Traume war das Aufgehen des Fensters, denn
    die Wölfe saßen ganz ruhig, ohne jede Bewegung auf den Ästen des Baumes,
    rechts und links vom Stamm und schauten mich an. Es sah so aus, als ob
    sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf mich gerichtet hätten. — Ich glaube,
    dies war mein erster Angsttraum. Ich war damals drei, vier, höchstens fünf
    Jahre alt. Bis zu mein elftes oder zwölftes Jahr habe ich von da an immer
    Angst, etwas Schreckliches im Traume zu sehen."
    Er gibt dann noch eine Zeichnung des Baumes mit den Wölfen, die
    seine Beschreibung bestätigt. Die Analyse des Traumes fördert nachstehendes
    Material zu Tage:
    Er hat diesen Traum immer in Beziehung zu der Erinnerung gebracht,
    daß in diesen Jahren der Kindheit eine ganz ungeheuerliche Angst vor
    dem Bild eines Wolfes in einem Märchenbuche zeigte. Die ältere, ihm recht
    überlegene Schwester pflegte ihn zu necken, indem sie ihm unter irgend einem
    Vorwand gerade dieses Bild vorhielt, worauf er entsetzt zu schreien begann.
    Aus diesem Bild stand der Wolf aufrecht mit einem Fuß ausschreitend, die
    Tatzen ausgestreckt und die Ohren aufgestellt. Er meint, dieses Bild habe
    als Illustration zum Märchen von Rotkäppchen gehört.
    Warum sind die Wölfe weiß? Das läßt ihn an die Schafe denken, von
    denen große Herden in der Nähe des Gutes gehalten wurden. Der Vater
    nahm ihn gelegentlich mit diesen Herden zu besuchen, und er war dann jedes-
    mal sehr stolz und selig. Später nach eingezogenen Erkundigungen kann
    es leicht kurz vor der Zeit dieses Traumes gewesen sein, er brach unter
    diesen Schafen eine Seuche aus. Der Vater ließ einen Pasteurschrot kopf-
    meis den die Tiere impfte, aber sie starben nach der Impfung noch zahl-
    reicher als vorhin.
    Wie kommen die Wölfe auf den Baum? Dazu fällt ihm eine Geschichte
    ein, die er der Großvater erzählt gehört. Er kann sich nicht erinnern,
    ob vor oder nach dem Traum, aber ihr Inhalt spricht entschieden für das

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    Beiträge zur Traumdeutung.

    erstere. Die Geschichte lautet: Ein Schneider sitzt in seinem Zimmer bei der
    Arbeit, da öffnet sich das Fenster und ein Wolf springt herein. Der Schneider
    schlägt mit der Elle nach ihm — nein, er verbessert sich, packt ihn
    beim Schwanz und reißt ihm diesen aus, so daß der Wolf erschreckt davon-
    rennt. Eine Weile später geht der Schneider in den Wald und sieht plötz-
    lich ein Rudel Wölfe herankommen, vor denen er sich auf einem Baum
    flüchtet. Die Wölfe sind schnell ratlos, aber der verstümmelte, der unter
    ihnen ist und sich am Schneider rächen will, macht den Vorschlag, daß
    einer auf den anderen steigen soll, bis der letzte den Schneider erreicht hat.
    Er selbst – es ist ein kräftiger Alter – will die Basis dieser Pyramide
    machen. Die Wölfe tun so, aber der Schneider hat den gesichtigsten Besucher
    erkannt und ruft plötzlich, wie damals: Packt den Grauen beim Schwanz.
    Der schwanzlose Wolf erschrickt bei dieser Erinnerung, läuft davon und die
    anderen purzeln alle herab.
    In dieser Erzählung findet sich der Baum vor, auf dem im Traum die
    Wölfe sitzen. Sie enthält aber auch eine unzweideutige Anknüpfung an den
    Kastrationskomplex. Der alte Wolf ist vom Schneider um den Schwanz ge-
    bracht worden. Die Fuchsschwänze der Wölfe im Traum sind wohl kom-
    pensationen dieser Schwanzlosigkeit.
    Warum sind es sechs oder sieben Wölfe? Diese Frage schien nicht zu
    beantworten, bis ich den Zweifel aufwarf, ob sich sein Angstbild auf das
    Rotkäppchenmärchen bezogen haben könne. Dies Märchen gibt nur Anlaß zu
    zwei Illustrationen: zur Begegnung des Rotkäppchens mit dem Wolf im Walde
    und zur Szene, wo der Wolf mit der Haube der Großmutter im Bette liegt.
    Es müsse sich also ein anderes Märchen hinter der Erinnerung an das Bild
    verbergen. Er fand dann bald, daß das nur die Geschichte vom Wolf und den
    sieben Geißlein sein kann. Hier findet sich die Siebenzahl, aber auch die
    sechs, denn der Wolf frißt nur sechs Geißlein auf, das siebente versteckt
    sich im Uhrkasten. Auch das Weiß kommt in dieser Geschichte vor, denn
    der Wolf läßt sich sein Fell mit Mehl weiß machen, nachdem ihn die
    Geißlein bei seinem ersten Besuch an der grauen Pfote erkannt haben. Beide
    Märchen haben übrigens viel Gemeinsames. In beiden findet sich das Auf-
    fressen, das Bauchaufschneiden, die Herausforderung der gefressenen Personen,
    deren Ersatz durch anderes Gehirn, und endlich kommt in beiden der böse
    Wolf um. Im Märchen von den Geißlein kommt auch noch der Baum vor.
    Der Wolf legt sich nach der Mahlzeit unter einen Baum und schnarcht.
    Ich werde mich mit diesem Traum wegen eines besonderen Umstandes
    noch an anderer Stelle beschäftigen müssen und ihn dann eingehender deuten
    und würdigen. Es ist ja ein erster aus der Kindheit erinnerter Angsttraum,
    dessen Inhalt im Zusammenhang mit anderen Träumen, die bald nachher er-
    folgten, und mit gewissen Begebenheiten in der Kindheit des Träumers ein
    Interesse von ganz besonderer Art wachruft. Hier beschränken wir uns auf
    die Beziehung des Traumes zu zwei Märchen, die viel Gemeinsames haben,
    zum „Rotkäppchen" und zum „Wolf und die 7 Geißlein". Der Eindruck
    dieser Märchen äußerte sich bei dem kindlichen Träumer in einer richtigen
    Tierphobie, die sich von anderen ähnlichen Fällen nur dadurch unterschied,
    daß das Angsttier nicht ein der Wahrnehmung leicht zugängliches Objekt war
    (wie etwa Pferd und Hund), sondern nur aus Erzählung und Bilderbuch
    gekannt war.
    Ich werde ein andermal auseinandersetzen, welche Erklärung diese
    Tierphobien haben und welche Bedeutung ihnen zukommt. Vorgreifend be-
    merke ich nur, daß diese Erklärung sehr zu dem Hauptcharakter stimmt,

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    Dr. Otto Rank: Eine noch nicht beschriebene Form des Ödipustraumes.

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    welchen die Neurose des Träumers in späteren Lebenszeiten erkennen ließ.
    Die Angst vor dem Vater war das stärkste Motiv seiner Erkrankung ge-
    wesen, und die ambivalente Einstellung zu jedem Vaterersatz beherrschte sein
    Leben wie sein Verhalten in der Behandlung.
    Wenn der Wolf bei meinem Patienten nur der erste Vaterersatz war, so fragt
    es sich, ob die Märchen vom Wolf, der die Geißlein auffrißt, und vom Rotkäpp-
    chen etwas anderes als die infantile Angst vor dem Vater zum geheimen
    Inhalt haben.*) Der Vater meines Patienten hatte übrigens die Eigentümlich-
    keit des „zärtlichen Schimpfens", die so vielen Personen im Umgang
    mit ihren Kindern zeigen, und die scherzhafte Drohung: „Ich fress' dich auf"
    mag in den ersten Jahren, als der später strenge Vater mit dem Söhnlein
    zu spielen und zu kosen pflegte, mehr als einmal geäußert worden sein. Eine
    meiner Patienten erzählte mir, daß ihre beiden Kinder dem Großvater die Lieb
    gewinnen konnten, weil er sie in seinem zärtlichen Spiel zu schrecken
    pflegte, er werde ihnen den Bauch aufschneiden.

     


    *) Vgl. die von O. Rank hervorgehobene Ähnlichkeit dieser beiden Märchen
    mit dem Mythus von Kronos. (Völkerpsychologische Parallelen zu den infantilen
    Sexualtheorien; Zentralblatt f. Psychoanalyse, II, 8.)