Märchenstoffe in Träumen 1913-006/1925
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    MÄRCHENSTOFFE IN TRÄUMEN

    Erschim zuerst in der „Imenwzianalm Zeit-
    schnft fiir Psychoanalyse“, Bd. I (rpm), dann
    in der Vier-ten Folge der „Summlung kleiner
    Schriften zur Neurosmlshn“. (Englische Über-
    setzung in „Collmed Papers“, Val. IV.)

    Es ist keine Überraschung, auch aus der Psychoanalyse zu
    erfahren, welche Bedeutung unsere Volksmärchen für das Seelen—
    leben unserer Kinder gewonnen haben. Bei einigen Menschen hat
    sich die Erinnerung an ihre Lieblingsmärchen an'die Stelle eigener
    Kindheitserinnerungen gesetzt; sie haben die Märchen zu Deck—
    erinnerungen erhoben.

    Elemente und Situationen, die aus diesen Märchen kommen,
    finden sich nun auch häufig in Träumen. Zur Deutung der
    betreffenden Stellen fällt den Analysierten das für sie bedeutungs-
    volle Märchen ein. Von diesem sehr gewöhnlichen Vorkommnis
    will ich hier zwei Beispiele anführen. Die Beziehungen der
    Märchen zur Kindheitsgeschichte und zur Neurose der Träumer
    werden aber nur angedeutet werden können, auf die Gefahr hin,
    die dem Analytiker wertvollsten Zusammenhänge zu zerreißen‚

    [

    Traum einer jungen Frau, die vor wenigen Tagen den_Besnch
    ihres Mannes empfangen hat: Sie ist in einem ganz braunen
    Zimmer. Durch eine kleine Tür kommt man auf eine steile Stiege,
    und über diese kommt ein sonderbares Männlein iin Zimmer, klein,

    17'

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    960 Beiträge zur Traumlehre

    mit weißen Haaren, Glatze und roter Nase, das im Zimmer vor
    ihr hemmtanzt, sich sehr komisch gebärdet und dann wieder zur
    Stiege herabgeht. Es ist in ein grünes Gewand gekleidet, welches
    alle Formen erkennen läßt. (Korrektur: Es trägt einen langen
    schwarzen Rock und eine graue Hose.)

    Analyse: Die Personsbeschreibung des Männleins paßt ohne
    weitere Veränderung' auf ihren Schwiegervater. Dann fällt ihr
    aber sofort das Märchen von Rumpelstilzchen ein, der so
    komisch wie der Mann im Traume hemmtanzt und dabei der
    Königin seinen Namen verrät. Dadurch hat er aber seinen
    Anspruch auf das erste Kind der Königin verloren und reißt sich
    in der Wut selbst mitten entzwei.

    Am Traumtag war sie selbst so wütend auf ihren Mann und
    äußerte: Ich könnte ihn mitten entzweireißen.

    Das braune Zimmer macht zunächst Schwierigkeiten. Es fällt
    ihr nur das Speisezimmer ihrer Eltern ein, das so —« holzbraun
    — getäfelt ist, und dann erzählt sie Geschichten von Betten, in
    denen man zu zweien so unbequem schläft. Vor einigen Tagen
    hat sie, als von Betten in anderen Ländern die Rede war, etwas
    sehr Ungeschicktes gesagt, — in harmloser Absicht, meint sie7 —
    worüber ihre Gesellschaft fürchterlich lachen mußte.

    Der Traum ist nun bereits verständlich. Das holzbraune Zimmer*
    ist zunächst das Bett, durch die Beziehung auf das Speisezimmer
    ein Ehehett.5 Sie befindet sich also im Ehehett. Der Besucher
    sollte ihr junger Mann sein, der nach mehrmonatiger Abwesen-
    heit zu ihr gekommen war, um seine Rolle im Ehehett zu spielen.
    Es ist aber zunächst der Vater des Mannes, der Schwiegervater.

    Hinter dieser ersten Deutung blickt man auf eine tiefer liegende
    rein sexuellen Inhalts. Das Zimmer ist jetzt die Vagina. (Das

    !) Bis auf das Detail kungescbnittener Haare, während der Schwiegervater das
    Haar lang trägt.

    2) Holz wie bekannt häufig weibliches,.mütterliches Symbol (manria, Madeira
    usw.).

    5) Tisch und Bett repräsentieren in die Ehe.

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    Märchenstafl'e in Träumen 961

    Zimmer ist in ihr, im Traume umgekehrt.) Der kleine Mann,
    der seine Grimassen macht und sich so komisch benimmt, ist der
    Penis; die enge Tür und die steile Treppe bestätigen die Auf-
    fassung der Situation als einer Koitusdarstellung. Wir sind sonst
    gewöhnt, daß das Kind den Penis symbolisiert, werden aber ver—
    stehen, daß es einen guten Sinn hat, wenn hier der Vater zur
    Vertretung des Penis herangezogen wird.

    Die Auflösung des noch zurückgehaltenen Bestes vom Traume
    wird uns in der Deutung ganz sicher machen. Das durch—
    scheinende graue Gewand erklärt sie selbst als Kondom. Wir
    dürfen erfahren, daß Interessen der Kinderverhütung, Besorgnisse,
    ob nicht dieser Besuch des Mannes den Keim zu einem zweiten
    Kind gelegt, zu den Anregern dieses Traumes gehören.

    Der schwarze Rock: Ein solcher steht ihrem Menue ausge—
    zeichnet. Sie will ihn beeinflussen, daß er ihn immer trage
    anstatt seiner gewöhnlichen Kleidung. Im schwarzen Rock ist ihr
    Mann also so, wie sie ihn gern sieht. Schwarzer Rock und
    graue Hose: das heißt aus zwei verschiedenen, einander über—
    deckenden Schichten: So gekleidet will ich dich haben. So gefällst
    du mir.

    Rumpelstilzchen verknüpft sich mit den aktuellen Gedanken
    des Traumes —— den Tagesr_esten — durch eine schöne Gegen-
    satzheziehung. Er kommt im Märchen, um der Königin das erste
    Kind zu nehmen; der kleine Mann im Traum kommt als Vater,
    weil er wahrscheinlich ein zweites Kind gebracht hat. Aber
    Rumpelstilzchen vermittelt auch den Zugang zur tieferen, infan-
    tilen Schicht der Traumgedanken. Der possierliche kleine Kerl,
    dessen Namen man nicht einmal weiß, dessen Geheimnis man
    kennen möchte, der so außerordentliche Kunststücke kann (im

    Märchen Stroh in Gold verwandeln) — die Wut, die man gegen
    ihn hat, eigentlich gegen seinen Besitzer, den man um diesen
    Besitz beneidet, der Penisneid der Mädchen, — das sind Elemente,

    deren Beziehung zu den Grundlagen der Neurose, wie gesagt,

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    269 . Beiträge zur Traumlehre

    hier nur gestreift werden soll. Zum Kastrationsthema gehören
    wohl auch die geschnittenen Haare des Männchens im Trauma.

    Wenn man in durchsichtigen Beispielen darauf achten wird,
    was der Träumer mit dem Märchen macht, und an welche
    Stelle er es setzt, so wird man dadurch vielleicht auch Winke
    für die noch ausstehende Deutung dieser Märchen selbst gewinnen.

    II

    Ein junger Mann, der einen Anhalt für seine Kindheits-
    erinnerungen in dem Umstande findet, daß seine Eltern ihr bis-
    heriges Landgut gegen ein anderes vertauschten7 als er noch nicht
    fünf Jahre war, erzählt als seinen frühesten Traum, der noch auf
    dem ersten Gut vorgefallen, folgendes:

    „Ich habe geträumt, daß es Nacht ist und ich in meinem Bett
    liege (mein Bett stand mit dem Fußende gegen das Fenster, vor
    dem Fenster befand sich eine Reihe alter Nußbäume; ich weiß,
    es war Winter, als ich träumte, und Nachtzeit). Plötzlich geht das
    Fenster von selbst auf, und ich sehe mit großem Schrecken, daß
    auf dem großen Nußbaum vor dem Fenster ein paar weiße
    Wölfe sitzen. Es waren sechs oder sieben Stück. Die Wölfe waren
    ganz weiß und sahen eher aus wie Füchse oder Schäferhunde‚
    denn sie hatten große Schwänze wie Füchse und ihre Ohren
    waren aufgestellt wie bei den Hunden, wenn sie auf etwas passen.
    Unter großer Angst, oflenbar von den %lfen aufgefressen zu
    werden, schrie ich auf und erwachte. Meine Kinderfrau eilte zu_
    meinem Bett, um nachzusehen, was mit mir geschehen war. Es
    dauerte eine ganze Weile, bis ich überzeugt war, es sei nur ein
    Traum gewesen, so natürlich und deutlich war mir das Bild vor—
    gekommen, wie das Fenster aufgeht und die Wölfe auf dem
    Baume sitzen. Endlich beruhig‘te ich mich, fühlte mich wie von
    einer Gefahr befreit und schlief wieder ein.“

    „Die einzige Aktion im Traume war das Aufgehen des Fensters,
    denn die Wölfe saßen ganz ruhig ohne jede Bewegung auf den

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    Märéhemtofle in Träumen 965

    Ästen des Baumes, rechts und links vom Stamm und schauten
    mich an. Es sah so aus, als ob sie ihre ganze Aufmerksamkeit
    auf mich gerichtet hätten. — Ich glaube, dies war mein erster
    Angsttraum. Ich war damals drei, vier, höchstens fünf Jahre alt
    Bis in mein elftes oder zwölftes Jahr hatte ich von da an immer
    Angst, etwas Schreckliches im Traum zu sehen.“

    Er gibt dann noch eine Zeichnung des Baumes mit den Wölfen,
    die seine Beschreibung bestätigt. Die Analyse des Traumes fördert
    nachstehendes Material zutage.

    Er hat diesen Traum immer in Beziehung zu der Erinnerung
    gebracht, daß er in diesen Jahren der Kindheit eine ganz unge—
    heuerliche Angst vor dem Bilde eines Wolfes in einem Märchen-
    buche zeigte. Die ältere, ihm recht überlegene Schwester pflegte
    ihn zu necken, indem sie ihm unter irgend einem Vorwand
    gerade dieses Bild vorhielt, worauf er entsetzt zu schreien begann.
    Auf diesem Bilde stand der Wolf aufrecht, mit einem Fuß aus-
    schreitend, die Tatzen ausgestreckt und die Ohren aufgestellt. Er
    meint, dieses Bild habe als Illustration zum Märchen von Rot—
    käppchen gehört.

    Warum sind die Wölfe weiß? Das läßt ihn an die Schafe
    denken, von denen große Herden in der Nähe des Gutes gehalten
    wurden. Der Vater nahm ihn gelegentlich mit, diese Herden zu
    besuchen, und er war dann jedesmal sehr stolz und selig. Später
    — nach eingezogenen Erkundigungen kann es leicht kurz vor
    der Zeit dieses Traumes gewesen sein, — brach unter diesen
    Schafen eine Seuche aus. Der Vater ließ einen Pasteurschüler
    kommen, der die Tiere impfte, aber sie starben nach der Impfung
    noch zahlreicher als vorhin.

    Wie kommen die Wölfe auf den Baum? Dazu fällt ihm eine
    Geschichte ein, die er den Großvater erzählen gehört. Er kann
    sich nicht erinnern, ob vor oder nach dem Traume, aber ihr
    Inhalt spricht entschieden für das erstere. Die Geschichte lautet:
    Ein Schneider sitzt in seinem Zimmer bei der Arbeit, da öffnet

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    264. Beiträge zur Traumlehre

    sich das Fenster und ein Wolf springt herein. Der Schneider
    schlägt mit der Elle nach ihm — nein, verbessert er sich, packt
    ihn beim Schwanz und reißt ihm diesen aus, so daß der Wolf
    erschreckt davonrennt. Eine Weile später geht der Schneider in
    den Wald und sieht plötzlich ein Rudel Wölfe herankornmen,
    vor denen er sich auf einen Baum flüchtet. Die Wölfe sind
    zunächst ratlos, aber der verstümmelte, der unter ihnen ist und
    sich am Schneider rächen will, macht den Vorschlag, daß einer
    auf den anderen steigen soll, bis der letzte den Schneider erreicht
    hat. Er selbst — er ist; ein kräftiger Alter —— will die Basis
    dieser Pyramide machen. Die Wölfe tun so, aber der Schneider
    hat den gezüchtig’ten Besucher erkennt und ruft plötzlich wie
    damals: Packt den Grauen beim Schwanz. Der schwanzlose Wolf
    erschrickt bei dieser Erinnerung, läuft davon und die anderen
    purzeln alle herab.

    In dieser Erzählung findet sich der Baum vor, auf dem im
    Traume die Wölfe sitzen. Sie enthält aber auch eine unzwei-
    deutige Anknüpfung an den Kastrationskomplex. Der alte Wolf
    ist vom Schneider um den Schwanz gebracht werden. Die Fuchs-
    schwänze der Wölfe im Traume sind wohl Kompensationen dieser
    Schwanzlosigkeit.

    Warum sind es sechs oder sieben Wölfe? Diese Frage schien
    nicht zu beantworten, bis ich den Zweifel aufwarf, ob sich sein
    Angstbild auf das Botkäppchenmärchen bezogen haben könne.
    Dies Märchen gibt nur Anlaß zu zwei Illustrationen, zur Begegnung
    des Rotkäppchens mit dem Wolf im Walde und zur Szene, wo
    der Wolf mit der Haube der Großmutter im Bette liegt. Es
    müsse sich also ein anderes Märchen hinter der Erinnerung an
    das Bild verbergen. Er fand dann bald, daß es nur die Geschichte
    vom Wolf und den sieben Geißlein sein könne. Hier
    findet sich die Siebenzahl, aber auch die sechs, denn der Wolf
    frißt nur sechs Geißlein auf, das siehente versteckt sich im Uhr—
    kasten. Auch das Weiß kommt in dieser Geschichte vor, denn der

  • S.

    Märchenszafi‘e in Träumen 965

    Wolf läßt sich beim Bäcker die Pfote weiß machen, nachdem ihn
    die Geißlein bei seinem ersten Besuch an der grauen Pfote erkannt
    haben. Beide Märchen haben übrigens viel Gemeinsames. In beiden
    findet sich das Auffressen, das Bauchaufschneiden, die Heraus—
    bef‘drderung der gefressenen Personen, deren Ersatz durch schwere
    Steine, und endlich kommt in beiden der böse Wolf um. Im
    Märchen von den Geißlein kommt auch noch der Baum vor. Der
    Wolf legt sich nach der Mahlzeit unter einen Baum und schnarcht.

    Ich werde mich mit diesem Traum wegen eines besonderen
    Umstandes noch an anderer Stelle beschäftigen müssen und ihn
    dann eingehender deuten und würdigen.‘ Es ist ja ein erster aus
    der Kindheit erinnerter Angsttraum, dessen Inhalt im Zusammen-
    hang mit anderen Träumen, die bald nachher erfolgten, und mit
    gewissen Begebenheiten in der Kinderzeit des Träumers ein Inter-
    esse von ganz besonderer Art wachruft. Hier beschränken wir uns
    auf die Beziehung des Traumes zu zwei Märchen, die viel Gemein-
    sames haben, zum „Rotkäppchen“ und zum „Wolf und die sieben
    Geißlein“. Der Eindruck dieser Märchen äußerte sich bei dem
    kindlichen Träumer in einer richtigen Tierphobie, die sich von
    anderen ähnlichen Fällen nur dadurch auszeichnete, daß das Angst-
    tier nicht ein der Wahrnehmung leicht zugängliches Objekt war
    (wie etwa Pferd und Hund), sondern nur aus Erzählung und
    Bilderbuch gekannt war.

    Ich werde ein andermal auseinandersetzen, welche Erklärung
    diese Tierphobien haben und welche Bedeutung ihnen zukommt.
    Vorgreifend bemerke ich nur, daß diese Erklärung sehr zu dem
    Hauptcharakter stimmt, welchen die Neurose des Träumers in
    späteren Lebenszeiten erkennen ließ. Die Angst vor dem Vater
    war das stärkste Motiv seiner Erkrankung gewesen, und die
    ambivalente Einstellung zu jedem Vaterersatz beherrschte sein
    Leben wie sein Verhalten in der Behandlung.

    1) S. „Aus der Geschichte einer infantilen Neurone“ in Band VIII d. Ges. Schriften.

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    96 6 Beiträge' zur Traumlehre

    Wenn der Wolf bei meinem Patienten nur der erste Vater-
    ersatz war, so fragt es sich, ob die Märchen vom Wolf, der die
    Geißlein auffrißt, und vom Rotkäppchen etwas anderes als die
    infantile Angst vor dem Vater zum geheimen Inhalt haben.‘ Der
    Vater meines Patienten hatte übrigens die Eigentümlichkeit des
    „zärtlichen Schimpfens“, die so viele Personen im
    Umgang mit ihren Kindern zeigen, und die scherzhafte Drohung:
    „Ich fress’ dich auf“ mag in den ersten Jahren, als der später
    strenge Vater mit dem Söhnlein zu spielen und zu kosen pflegte,
    mehr als einmal geäußert werden sein. Eine meiner Patientinnen
    erzählte mir, daß ihre beiden Kinder den Großvater nie lieb
    gewinnen konnten, weil er sie in seinem zärtlichen Spiel zu
    schrecken pflegte, er werde ihnen den Bauch aufschneiden.

    1) Vgl. die von 0. Bank hervorgehobene Ähnlichkeit dieser beiden Märchen
    mit dem Mythlu von Kronos. (V ölkerplyclnologische Parallelen zu den iniantilen Sexual—
    theorien; Zentralblatt für Psychoanalyse, II, 1912.)