S.
180
Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie
der Neurosen.„Ich bin der Meinung, daß man meine Theorie über die ätiologische Be-
deutung des sexuellen Momentes für die Neurosen am besten würdigt, wenn man
ihrer Entwicklung nachgeht. Ich habe nämlich keineswegs das Bestreben abzu-
leugnen, daß sie eine Entwicklung durchgemacht und sich während derselben
verändert hat. Die Fachgenossen könnten in diesem Zugeständnis die Gewähr
finden, daß diese Theorie nichts anderes ist als der Niederschlag fortgesetzter
und vertiefter Erfahrungen. Was im Gegensatze hierzu der Spekulation ent-
sprungen ist, das kann allerdings leicht mit einem Schlage vollständig und dann
unveränderlich auftreten.Die Theorie bezog sich ursprünglich bloß auf die als „Neurasthenie“ zu-
sammengefaßten Krankheitsbilder, unter denen mir zwei, gelegentlich auch rein
auftretende Typen auffielen, die ich als „eigentliche Neurasthenie“ und als
„Angstneurose“ beschrieben habe. Es war ja immer bekannt, daß sexuelle
Momente in der Verursachung dieser Formen eine Rolle spielen können, aber
man fand dieselben weder regelmäßig wirksam, noch dachte man daran, ihnen
einen Vorrang vor anderen ätiologischen Einflüssen einzuräumen. Ich wurde
zunächst von der Häufigkeit grober Störungen in der Vita sexualis der Nervösen
überrascht; je mehr ich darauf ausging, solche Störungen zu suchen, wobei ich
mir vorhielt, daß die Menschen alle in sexuellen Dingen die Wahrheit verhehlen,
und je geschickter ich wurde, das Examen trotz einer anfänglichen Verneinung
fortzusetzen, desto regelmäßiger ließen sich solche krankmachende Momente aus
dem Sexualleben auffinden, bis mir zu deren Allgemeinheit wenig zu fehlen schien.
Man mußte aber von vornherein auf ein ähnlich häufiges Vorkommen sexueller
Unregelmäßigkeiten unter dem Drucke der sozialen Verhältnisse in unserer Gesell-
schaft gefaßt sein, und konnte im Zweifel bleiben, welches Maß von Abweichung
von der normalen Sexualfunktion als Krankheitsursache betrachtet werden dürfe.
Ich konnte daher auf den regelmäßigen Nachweis sexueller Noxen nur weniger
Wert legen als auf eine zweite Erfahrung, die mir eindeutiger erschien. Es ergab
sich, daß die Form der Erkrankung, ob Neurasthenie oder Angstneurose, eine
konstante Beziehung zur Art der sexuellen Schädlichkeit zeige. In den typischen
Fällen der Neurasthenie war regelmäßig Masturbation oder gehäufte Pollutionen,S.
181
bei der Angstneurose waren Faktoren wie der Coitus interruptus, die „frustrane
Erregung“ u. a. nachweisbar, an denen das Moment der ungenügenden Abfuhr
der erzeugten Libido das Gemeinsame schien. Erst seit dieser leicht zu machenden
und beliebig oft zu bestätigenden Erfahrung hatte ich den Mut, für die sexuellen
Einflüsse eine bevorzugte Stellung in der Ätiologie der Neurosen zu beanspruchen.
Es kam hinzu, daß bei den so häufigen Mischformen von Neurasthenie und Angst-
neurose auch die Vermengung der für die beiden Formen angenommenen Ätiologien
aufzuzeigen war, und daß eine solche Zweiteilung in der Erscheinungsform der
Neurose zu dem polaren Charakter der Sexualität (männlich und weiblich) gut
zu stimmen schien.Zur gleichen Zeit, während ich der Sexualität diese Bedeutung für die Ent-
stehung der einfachen Neurosen zuwies,1) huldigte ich noch in betreff der Psycho-
neurosen (Hysterie und Zwangsvorstellungen) einer rein psychologischen Theorie,
in welcher das sexuelle Moment nicht anders als andere emotionelle Quellen in
Betracht kam. Ich hatte im Verein mit J. Breuer und im Anschluß an Beob-
achtungen, die er gut ein Dezennium vorher an einer hysterischen Kranken gemacht
hatte, den Mechanismus der Entstehung hysterischer Symptome mittels des
Erweckens von Erinnerungen im hypnotischen Zustande studiert, und wir waren
zu Aufschlüssen gelangt, welche gestatteten, die Brücke von der traumatischen
Hysterie Charcots zur gemeinen, nicht traumatischen, zu schlagen.2) Wir
waren zur Auffassung gelangt, daß die hysterischen Symptome Dauerwirkungen
von psychischen Traumen sind, deren zugehörige Affektgröße durch besondere
Bedingungen von bewußter Bearbeitung abgedrängt worden ist und sich darum
einen abnormen Weg in die Körperinnervation gebahnt hat. Die Termini „ein-
geklemmter Affekt“, „Konversion“ und „Abreagieren“ fassen das Kenn-
zeichnende dieser Anschauung zusammen.Bei den nahen Beziehungen der Psychoneurosen zu den einfachen Neurosen,
die ja so weit gehen, daß dem Ungeübten die diagnostische Unterscheidung nicht
immer leicht fällt, konnte es aber nicht ausbleiben, daß die für das eine Gebiet
gewonnene Erkenntnis auch für das andere Platz griff. Überdies führte, von
solcher Beeinflussung abgesehen, auch die Vertiefung in den psychischen Mecha-
nismus der hysterischen Symptome zu dem gleichen Ergebnis. Wenn man nämlich
bei dem von Breuer und mir eingesetzten „kathartischen“ Verfahren den psychi-
schen Traumen, von denen sich die hysterischen Symptome ableiteten, immer
weiter nachspürte, gelangte man endlich zu Erlebnissen, welche der Kindheit
des Kranken angehörten und sein Sexualleben betrafen, und zwar auch in solchen
Fällen, in denen eine banale Emotion nicht sexueller Natur den Ausbruch der
Krankheit veranlaßt hatte. Ohne diese sexuellen Traumen der Kinderzeit in
Betracht zu ziehen, konnte man weder die Symptome aufklären, deren Deter-
minierung verständlich finden, noch deren Wiederkehr verhüten. Somit schien
die unvergleichliche Bedeutung sexueller Erlebnisse für die Ätiologie der Psycho-
neurosen als unzweifelhaft festgestellt, und diese Tatsache ist auch bis heute
einer der Grundpfeiler der Theorie geblieben.Wenn man diese Theorie so darstellt, die Ursache der lebenslangen hysterischen
Neurose liege in den meist an sich geringfügigen sexuellen Erlebnissen der frühen
Kinderzeit, so mag sie allerdings befremdend genug klingen. Nimmt man aber
auf die historische Entwicklung der Lehre Rücksicht, verlegt den Hauptinhalt1) Über die Berechtigung, von der Neumathenie einen bestimmten Symptomenkomplex
als „Angstnenrose“ abzutnennen. NeuroL Zentralbl. 1895.2) Studien über Hysterie 1905.
S.
182
derselben in den Satz, die Hysterie sei der Ausdruck eines besonderen Verhaltens
der Sexualfunktion des Individuums, und dieses Verhalten werde bereits durch
die ersten in der Kindheit einwirkenden Einflüsse und Erlebnisse maßgebend
bestimmt, so sind wir zwar um ein Paradoxon ärmer, aber um ein Motiv bereichert
worden, den bisher arg vernachlässigten, höchst bedeutsamen Nachwirkungen
der Kindheitseindrücke überhaupt unsere Aufmerksamkeit zu schenken.Indem ich mir vorbehalte, die Frage, ob man in den sexuellen Kindererleb-
nissen die Ätiologie der Hysterie (und Zwangsneurose) sehen dürfe, weiter unten
gründlicher zu behandeln, kehre ich zu der Gestaltung der Theorie zurück, welche
diese in einigen kleinen, vorläufigen Publikationen der Jahre 1895 und 1896
angenommen hat.1) Die Hervorhebung der angenommenen ätiologischen Momente
gestattete damals, die gemeinen Neurosen als Erkrankungen mit aktueller Ätiologie
den Psychoneurosen gegenüberzustellen, deren Ätiologie vor allem in den sexuellen
Erlebnissen der Vorzeit zu suchen war. Die Lehre gipfelte in dem Satze: Bei
normaler Vita sexualis ist eine Neurose unmöglich.Wenn ich auch diese Sätze noch heute nicht für unrichtig halte, so ist es
doch nicht zu verwundern, daß ich in 10 Jahren fortgesetzter Bemühung um
die Erkenntnis dieser Verhältnisse über meinen damaligen Standpunkt ein gutes
Stück weit hinausgekommen bin und mich heute in der Lage glaube, die Unvoll-
ständigkeit, die Verschiebungen und die Mißverständnisse, an denen die Lehre
damals litt, durch eingehendere Erfahrung zu korrigieren. Ein Zufall des damals
noch spärlichen Materials hatte mir eine unverhältnismäßig große Anzahl von
Fällen zugeführt, in deren Kindergeschichte die sexuelle Verführung durch Er-
wachsene oder andere ältere Kinder die Hauptrolle spielte. Ich überschätzte die
Häufigkeit dieser (sonst nicht anzuzweifelnden) Vorkommnisse, überdies da ich
zu jener Zeit nicht imstande war, die Erinnerungstäuschungen der Hysterischen
über ihre Kindheit von den Spuren der wirklichen Vorgänge sicher zu unter-
scheiden, während ich seitdem gelernt habe, so manche Verführungsphantasie
als Abwehrversuch gegen die Erinnerung der eigenen sexuellen Betätigung (Kinder-
masturbation) aufzulösen. Mit dieser Aufklärung entfiel die Betonung des „trauma-
tischen“ Elementes an den sexuellen Kindererlebnissen, und es blieb die Einsicht
übrig, daß die infantile Sexualbetätigung (ob spontan oder provoziert) dem
späteren Sexualleben nach der Reife die Richtung vorschreibt. Dieselbe Auf-
klärung, die ja den bedeutsamsten meiner anfänglichen Irrtümer korrigierte,
mußte auch die Auffassung vom Mechanismus der hysterischen Symptome ver-
ändern. Dieselben erschienen nun nicht mehr als direkte Abkömmlinge der ver-
drängten Erinnerungen an sexuelle Kindheitserlebnisse, sondern zwischen die
Symptome und die infantilen Eindrücke schoben sich nun die (meist in den
Pubertätsjahren produzierten) Phantasien (Erinnerungsdichtungen) der Kranken
ein, die auf der einen Seite sich aus und über den Kindheitserinnerungen auf-
bauten, auf der anderen sich unmittelbar in die Symptome umsetzten. Erst
mit der Einführung des Elements der hysterischen Phantasien wurde das Gefüge
der Neurose und deren Beziehung zum Leben der Kranken durchsichtig; auch
ergab sich eine wirklich überraschende Analogie zwischen diesen unbewußten
Phantasien der Hysteriker und den als Wahn bewußt gewordenen Dichtungen
bei der Paranoia.Nach dieser Korrektur waren die „infantilen Sexualtraumen“ in gewissem
Sinne durch den „Infantilismus der Sexualität“ ersetzt. Eine zweite Abänderung1) Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen. Neurol. Zentralblatt, 1896. –
Zur Ätiologie der Hysterie. Wiener klinische Rundschau, 1896.S.
183
der ursprünglichen Theorie lag nicht ferne. Mit der angenommenen Häufigkeit
der Verführung in der Kindheit entfiel auch die übergroße Betonung der akziden-
tellen Beeinflussung der Sexualität, welcher ich bei der Verursachung des Krank-
seins die Hauptrolle zuschieben wollte, ohne darum konstitutionelle und here-
ditäre Momente zu leugnen. Ich hatte sogar gehofft, das Problem der Neurosen-
wahl, die Entscheidung darüber, welcher Form von Psychoneurose der Kranke
verfallen solle, durch die Einzelheiten der sexuellen Kindererlebnisse zu lösen,
und damals – wenn auch mit Zurückhaltung – gemeint, daß passives Verhalten
bei diesen Szenen die spezifische Disposition zur Hysterie, aktives dagegen die
für die Zwangsneurose ergebe. Auf diese Auffassung mußte ich später völlig
Verzicht leisten, wenngleich manches Tatsächliche den geahnten Zusammenhang
zwischen Passivität und Hysterie, Aktivität und Zwangsneurose in irgend einer
Weise aufrecht zu halten gebietet. Mit dem Rücktritt der akzidentellen Einflüsse
des Erlebens mußten die Momente der Konstitution und Heredität wieder die
Oberhand behaupten, aber mit dem Unterschiede gegen die sonst herrschende
Anschauung, daß bei mir die „sexuelle Konstitution“ an die Stelle der allgemeinen
neuropathischen Disposition trat. In meinen jüngst erschienenen „drei Abhand-
lungen zur Sexualtheorie“ (1905) habe ich den Versuch gemacht, die Mannig-
faltigkeiten dieser sexuellen Konstitution, sowie die Zusammengesetztheit des
Sexualtriebes überhaupt und dessen Herkunft aus verschiedenen Beitragsquellen
im Organismus zu schildern.Immer noch im Zusammenhange mit der veränderten Auffassung der
„sexuellen Kindertraumen“ entwickelte sich nun die Theorie nach einer Richtung
weiter, die schon in den Veröffentlichungen der Jahre 1894 bis 1896 angezeigt
worden war. Ich hatte bereits damals, und noch ehe die Sexualität in die ihr
gebührende Stellung in der Ätiologie eingesetzt war, als Bedingung für die pathogene
Wirksamkeit eines Erlebnisses angegeben, daß dieses dem Ich unerträglich er-
scheinen und ein Bestreben zur Abwehr hervorrufen müsse.1) Auf diese Abwehr
hatte ich die psychische Spaltung – oder wie man damals sagte: die Bewußtseins-
spaltung – der Hysterie zurückgeführt. Gelang die Abwehr, so war das unerträg-
liche Erlebnis mit seinen Affektfolgen aus dem Bewußtsein und der Erinnerung
des Ichs vertrieben; unter gewissen Verhältnissen entfaltete aber das Vertriebene
als ein nun Unbewußtes seine Wirksamkeit und kehrte mittels der Symptome
und der an ihnen haftenden Affekte ins Bewußtsein zurück, so daß die Erkrankung
einem Mißglücken der Abwehr entsprach. Diese Auffassung hatte das Verdienst,
auf das Spiel der psychischen Kräfte einzugehen und somit die seelischen Vor-
gänge der Hysterie den normalen anzunähern, anstatt die Charakteristik der
Neurose in eine rätselhafte und weiter nicht analysierbare Störung zu verlegen.Als nun weitere Erkundigungen bei normal gebliebenen Personen das un-
erwartete Ergebnis lieferten, daß deren sexuelle Kindergeschichte sich nicht
wesentlich von dem Kinderleben der Neurotiker zu unterscheiden brauche, daß
speziell die Rolle der Verführung bei ersteren die gleiche sei, traten die akzidentellen
Einflüsse noch mehr gegen den der „Verdrängung“ (wie ich anstatt „Abwehr“
zu sagen begann) zurück. Es kam also nicht darauf an, was ein Individuum in
seiner Kindheit an sexuellen Erregungen erfahren hatte, sondern vor allem auf
seine Reaktion gegen diese Erlebnisse, ob es diese Eindrücke mit der „Verdrängung“
beantwortet habe oder nicht. Bei spontaner infantiler Sexualbetätigung ließ sich1) Die Abwehr‑Neuropsychosen. Versuch einer psychologischen Theorie der akquirierten
Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen und gewisser halluzinatorischer Psychosen.
Neurol. Zentralblatt, 1894.S.
184
zeigen, daß dieselbe häufig im Laufe der Entwicklung durch einen Akt der Ver-
drängung abgebrochen wurde. Das geschlechtsreife neurotische Individuum
brachte so ein Stück „Sexualverdrängung“ regelmäßig aus seiner Kindheit mit,
das bei den Anforderungen des realen Lebens zur Äußerung kam, und die Psycho-
analysen Hysterischer zeigten, daß ihre Erkrankung ein Erfolg des Konflikts
zwischen der Libido und der Sexualverdrängung sei und daß ihre Symptome
den Wert von Kompromissen zwischen beiden seelischen Strömungen haben.Ohne eine ausführliche Erörterung meiner Vorstellungen von der Verdrängung
könnte ich diesen Teil der Theorie nicht weiter aufklären. Es genüge, hier auf
meine „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905) hinzuweisen, in denen ich
auf die somatischen Vorgänge, in denen das Wesen der Sexualität zu suchen ist,
ein allerdings erst spärliches Licht zu werfen versucht habe. Ich habe dort aus-
geführt, daß die konstitutionelle sexuelle Anlage des Kindes eine ungleich buntere
ist, als man erwarten konnte, daß sie „polymorph pervers“ genannt zu werden
verdient, und daß aus dieser Anlage durch Verdrängung gewisser Komponenten
das sogenannte normale Verhalten der Sexualfunktion hervorgeht. Ich konnte
durch den Hinweis auf die infantilen Charaktere der Sexualität eine einfache
Verknüpfung zwischen Gesundheit, Perversion und Neurose herstellen. Die Norm
ergab sich aus der Verdrängung gewisser Partialtriebe und Komponenten der
infantilen Anlagen und der Unterordnung der übrigen unter das Primat der Genital-
zonen im Dienste der Fortpflanzungsfunktion; die Perversionen entsprachen
Störungen dieser Zusammenfassung durch die übermächtige zwangsartige Ent-
wicklung einzelner dieser Partialtriebe, und die Neurose führte sich auf eine zu
weitgehende, für das Individuum undurchführbare, Verdrängung der libidinösen
Strebungen zurück. Da fast alle perversen Triebe der infantilen Anlage als sym-
ptombildende Kräfte bei der Neurose nachweisbar sind, sich aber bei ihr im Zu-
stande der Verdrängung befinden, konnte ich die Neurose als das „Negativ“
der Perversion bezeichnen.Ich halte es der Hervorhebung wert, daß meine Anschauungen über die
Ätiologie der Psychoneurosen bei allen Wandlungen doch zwei Gesichtspunkte
nie verleugnet oder verlassen haben, die Schätzung der Sexualität und des
Infantilismus. Sonst sind an die Stelle akzidenteller Einflüsse konstitutionelle
Momente, für die rein psychologisch gemeinte „Abwehr“ ist die organische „Sexual-
verdrängung“ eingetreten. Sollte nun jemand fragen, wo ein zwingender Beweis
für die behauptete ätiologische Bedeutung sexueller Faktoren bei den Psycho-
neurosen zu finden sei, da man doch diese Erkrankungen auf die banalsten Ge-
mütsbewegungen und selbst auf somatische Anlässe hin ausbrechen sieht, auf eine
spezifische Ätiologie in Gestalt besonderer Kindererlebnisse verzichten muß,
so nenne ich die psychoanalytische Erforschung der Neurotiker als die Quelle,
aus welcher die bestrittene Überzeugung zufließt. Man erfährt, wenn man sich
dieser unersetzlichen Untersuchungsmethode bedient, daß die Symptome die
Sexualbetätigung der Kranken darstellen, die ganze oder eine partielle,
aus den Quellen normaler oder perverser Partialtriebe der Sexualität. Nicht nur,
daß ein guter Teil der hysterischen Symptomatologie direkt aus den Äußerungen
der sexuellen Erregtheit herstammt, nicht nur, daß eine Reihe von erogenen
Zonen in der Neurose in Verstärkung infantiler Eigenschaften sich zur Bedeutung
von Genitalien erhebt; die kompliziertesten Symptome selbst enthüllen sich als
die konvertierten Darstellungen von Phantasien, welche eine sexuelle Situation
zum Inhalte haben. Wer die Sprache der Hysterie zu deuten versteht, kann ver-
nehmen, daß die Neurose nur von der verdrängten Sexualität der KrankenS.
185
handelt. Man wolle nur die Sexualfunktion in ihrem richtigen, durch die infantile
Anlage umschriebenen Umfange verstehen. Wo eine banale Emotion zur Ver-
ursachung der Erkrankung gerechnet werden muß, weist die Analyse regelmäßig
nach, daß die nicht fehlende sexuelle Komponente des traumatischen Erlebnisses
die pathogene Wirkung ausgeübt hat.Wir sind unversehens von der Frage nach der Verursachung der Psycho-
neurosen zum Problem ihres Wesens vorgedrungen. Will man dem Rechnung
tragen, was man durch die Psychoanalyse erfahren hat, so kann man nur sagen,
das Wesen dieser Erkrankungen liege in Störungen der Sexualvorgänge, jener
Vorgänge im Organismus, welche die Bildung und Verwendung der geschlecht-
lichen Libido bestimmen. Es ist kaum zu vermeiden, daß man sich diese Vor-
gänge in letzter Linie als chemische vorstelle, so daß man in den sogenannten
aktuellen Neurosen die somatischen, in den Psychoneurosen außerdem noch
die psychischen Wirkungen der Störungen im Sexualstoffwechsel erkennen dürfte.
Die Ähnlichkeit der Neurosen mit den Intoxikations‑ und Abstinenzerscheinungen
nach gewissen Alkaloiden, mit dem M. Basedowi und M. Addisoni drängt sich
ohne weiteres klinisch auf, und so wie man diese beiden letzteren Erkrankungen
nicht mehr als „Nervenkrankheiten“ beschreiben darf, so werden wohl auch
bald die echten „Neurosen“ ihrer Namengebung zum Trotze aus dieser Klasse
entfernt werden müssen.Zur Ätiologie der Neurosen gehört dann alles, was schädigend auf die der
Sexualfunktion dienenden Vorgänge einwirken kann. In erster Linie also die
Noxen, welche die Sexualfunktion selbst betreffen, insoferne diese von der mit
Kultur und Erziehung veränderlichen Sexualkonstitution als Schädlichkeiten
angenommen werden. In zweiter Linie stehen alle andersartigen Noxen und
Traumen, welche sekundär durch Allgemeinschädigung des Organismus die Sexual-
vorgänge in demselben zu schädigen vermögen. Man vergesse aber nicht, daß
das ätiologische Problem bei den Neurosen mindestens ebenso kompliziert ist
wie sonst bei der Krankheitsverursachung. Eine einzige pathogene Einwirkung
ist fast niemals hinreichend; zu allermeist wird eine Mehrheit von ätiologischen
Momenten erfordert, die einander unterstützen, die man also nicht in Gegensatz
zueinander bringen darf. Dafür ist auch der Zustand des neurotischen Krankseins
von dem der Gesundheit nicht scharf geschieden. Die Erkrankung ist das Ergebnis
einer Summation, und das Maß der ätiologischen Bedingungen kann von irgend
einer Seite her vollgemacht werden. Die Ätiologie der Neurosen ausschließlich
in der Heredität oder in der Konstitution zu suchen, wäre keine geringere Ein-
seitigkeit, als wenn man einzig die akzidentellen Beeinflussungen der Sexualität
im Leben zur Ätiologie erheben wollte, wenn sich doch die Aufklärung ergibt,
daß das Wesen dieser Erkrankungen nur in einer Störung der Sexualvorgänge
im Organismus gelegen ist.“Wien, Juni 1905.
Juni 1913 Revision.
Bis auf die Bemerkung, daß in obiger Darstellung eine Würdigung der Momente
vermißt wird, welche die Sexualverdrängung hervorrufen, habe ich nichts abzu-
ändern oder anzufügen gefunden.
Freud 1922.S.
bub_gb_1UIfAQAAIAAJ
180
–185