In Memoriam: Josef Popper-Lynkeus und die Theorie des Traumes 1923-005/1923
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    IN MEMORIAM*)

    Josef Popper-Lynkeus und die Theorie
    des Traumes

    von Prof. Sigm. Freud

    Über den Anschein wissenschaftlicher Originalität
    ist viel Interessantes zu sagen. Wenn in der Wissen-
    schaft eine neue Idee auftaucht, die zunächst als
    Entdeckung gewertet und in der Regel als solche
    auch bekämpft wird, so weist die objektive Er-
    forschung bald nach, daß sie eigentlich doch keine
    Neuheit ist. In der Regel ist sie schon wiederholt
    gemacht und dann wieder vergessen worden, oft
    zu sehr weit von einander entfernten Zeiten. Oder
    sie hat wenigstens Vorläufer gehabt, wurde un-
    deutlich geahnt oder unvollkommen ausgesprochen.
    Das ist zu genau bekannt, als daß es einer weiteren
    Ausführung bedürfte.

    Aber auch die subjektive Seite der Originalität
    ist der Verfolgung würdig. Ein wissenschaftlicher
    Arbeiter mag sich einmal die Frage stellen, woher
    die ihm eigentümlichen Ideen kommen, die er an
    sein Material herangebracht hat. Dann findet er
    von einem Teil derselben ohne viel Besinnen, auf
    welche Anregungen er zurückgeht, welche Angaben
    von anderer Seite er dabei aufgegriffen, modifiziert
    und in ihre Konsequenzen ausgeführt hat. Von
    einem anderen Anteil seiner Ideen kann er nichts
    Ähnliches bekennen, er muß annehmen, diese Ge-
    danken und Gesichtspunkte seien in seiner eigenen
    Denktätigkeit – er weiß nicht wie – entstanden,
    durch sie stützt er seinen Anspruch auf Originalität.

    Sorgfältige psychologische Untersuchung
    schränkt diesen Anspruch dann noch weiter ein.
    Sie deckt verborgene, längst vergessene Quellen auf,
    aus denen die Anregung der anscheinend originellen
    Ideen erflossen ist und setzt an Stelle der ver-
    meintlichen Neuschöpfung eine Wiederbelebung des
    Vergessenen in der Anwendung auf einen neuen

    *) Siehe Nr. 17, 18, 19.

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    Stoff, daran ist nichts zu bedauern; man hatte ja
    kein Recht zu erwarten, daß das „Originelle” etwas
    Unableitbares, Indeterminiertes sein würde. Auf
    solche Weise hat sich auch für meinen Fall die
    Originalität vieler neuer Gedanken, die ich in der
    Traumdeutung und in der Psychoanalyse verwendet
    hatte, verflüchtigt. Nur von einem dieser Gedanken
    kenne ich die Herkunft nicht. Er ist geradezu der
    Schlüssel meiner Auffassung des Traumes geworden
    und hat mir dazu verholfen, seine Rätsel zu lösen,
    soweit sie bis heute lösbar geworden sind. Ich
    knüpfte an den fremdartigen, verworrenen, unsinnigen
    Charakter so vieler Träume an und kam auf die
    Idee, daß der Traum so werden müsse, weil in ihm
    etwas nach Ausdruck ringt, was den Widerstand
    anderer Mächte des Seelenlebens gegen sich hat.
    Im Traume rühren sich geheime Regungen, die mit
    dem sozusagen offiziellen ethischen und ästhetischen
    Bekenntnis des Träumers im Widerspruch stehen;
    darum schämt sich der Träumer dieser Regungen,
    wendet sich tagsüber von ihnen ab, will nichts von
    ihnen wissen, und wenn er ihnen zur Nachtzeit nicht
    jede Art von Ausdruck verwehren kann, zwingt er sie
    zur Traumentstellung, durch die der Trauminhalt
    verworren und unsinnig erscheint. Die seelische
    Macht im Menschen, die diesem inneren Wider-
    spruch Rechnung trägt und zu Gunsten der kon-
    ventionellen oder auch der höheren sittlichen An-
    sprüche die primitiven Triebregungen des Traumes
    entstellt, nannte ich die Traumzensur.

    Gerade dieses wesentliche Stück meiner Traum-
    theorie hat aber Popper-Lynkeus selbst gefunden.
    Man vergleiche das nachstehende Zitat aus seiner
    Erzählung „Träume wie Wachen“ in den „Phanta-
    sieen eines Realisten“, die sicherlich ohne Kenntnis
    meiner 1900 veröffentlichten „Traumtheorie“ ge-
    schrieben worden sind, wie ich auch damals Lynkeus’
    Phantasien noch nicht kannte:

    Von einem Manne, der die merkwürdige
    Eigenschaft hat, niemals Unsinn zu träumen
    “ …
    Diese herrliche Eigenschaft, zu träumen wie zu

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    wachen, beruht auf Deinen Tugenden, auf Deiner
    Güte, Deiner Gerechtigkeit, Deiner Wahrheitsliebe:
    es ist die moralische Klarheit Deiner Natur, die
    mir alles an Dir verständlich macht.“

    „Wenn ich aber recht bedenke“, erwiderte der
    Andere, „so glaube ich beinahe, alle Menschen seien
    so wie ich beschaffen, und gar niemand träume
    jemals Unsinn! Ein Traum, an den man sich so deut-
    lich erinnert, daß man ihn nacherzählen kann, der
    also kein Fiebertraum ist, hat immer Sinn. Und
    es kann gar nicht anders sein! Denn was mit-
    einander im Widerspruch steht, könnte sich ja
    nicht zu einem Ganzen gruppieren. Daß Zeit und
    Ort oft durcheinander gerüttelt werden, benimmt
    dem wahren Gehalt des Traumes gar nichts, denn
    sie beide sind gewiß ohne Bedeutung für seinen
    wesentlichen Inhalt gewesen. Wir machen es ja oft
    im Wachen auch so: denke an das Märchen, an so
    viele sinnvolle Phantasiegebilde, zu denen nur ein
    Unverständiger sagen würde: Das ist widersinnig!
    denn das ist nicht möglich!«“

    „Wenn man nur die Träume immer richtig
    zu deuten wüßte, so wie Du es eben mit dem
    meinen getan hast,“ sagte der Freund.

    „Das ist gewiß keine leichte Aufgabe, aber es
    müßte bei einiger Aufmerksamkeit dem Träumenden
    wohl immer gelingen. Warum es meistens nicht
    gelingt? Es scheint bei Euch etwas Verstecktes in
    den Träumen liegen, etwas Unkeusches eigener und
    höherer Art, eine gewisse Heimlichkeit in Eurem
    Wesen, die schwer auszudenken ist; und darum
    scheint Euer Träumen so oft ohne Sinn, sogar ein
    Widersinn zu sein. Es ist aber im tiefsten Grunde
    nicht so; ja, es kann gar nicht anders sein, denn es
    ist immer derselbe Mensch, ob er wacht oder träumt.

    Ich glaube, was mich dazu befähigt hat, die
    Ursache der Traumentstellung aufzufinden, war
    mein moralischer Mut. Bei Popper war es die
    Reinheit, Wahrheitsliebe und moralische Klarheit
    seines Wesens.