Mitteilung eines der psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falles von Paranoia 1915-006/1924
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    MITTEILUNG EINES DER PSYCHOANALY-
    TISCHEN THEORIE WIDERSPRECHENDEN
    FALLES VON PARANOIA

    Zuerst erschienen in der „Intern. Zeitschr, für
    ärztl. Psychoanalyse“, III, 1915, dann in der Vierten
    Folge der „Sammlung kleiner Schriften zur Neu-
    rosenlehre*.

    Vor Jahren ersuchte mich ein bekannter Rechtsanwalt um
    Begutachtung eines Falles, dessen Auffassung ihm zweifelhaft
    erschien. Eine junge Dame hatte sich an ihn gewendet, um
    Schutz gegen die Verfolgungen eines Mannes zu finden, der sie
    zu einem Liebesverhältnis bewogen hatte. Sie behauptete, daß
    dieser Mann ihre Gefügigkeit mißbraucht hatte, um von unge-
    sehenen Zuschauern photographische Aufnahmen ihres zärtlichen
    Beisammenseins herstellen zu lassen; nun läge es in seiner Hand,
    sie durch das Zeigen dieser Bilder zu beschämen und zum
    Aufgeben ihrer Stellung zu zwingen. Der Rechtsfreund war
    erfahren genug, das krankhafte Gepräge dieser Anklage zu erkennen,
    meinte aber, es komme so viel im Leben vor, was man für
    unglaubwürdig halten möchte, daß ihm das Urteil eines Psychiaters
    über die Sache wertvoll wäre. Er versprach, mich ein nächstes
    Mal in Gesellschaft der Klägerin zu besuchen.

    Ehe ich meinen Bericht fortsetze, will ich bekennen, daß ich
    das Milieu der zu untersuchenden Begebenheit zur Unkennt-
    lichkeit verändert habe, aber auch nichts anderes als dies. Ich
    halte es sonst für einen Mißbrauch, aus irgend welchen, wenn

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    Mitteilung eines Falles von Paranoia 289

    auch aus den besten Motiven, Ziige einer Krankengeschichte in
    der Mitteilung zu entstellen, da man unmöglich wissen kann,
    welche Seite des Falles ein selbständig urteilender Leser heraus-
    greifen wird, und somit Gefahr läuft, diesen letzteren in die Irre
    zu führen.

    Die Patientin, die ich nun bald darauf kennen lernte, war ein
    dreißigjähriges Mädchen von ungewöhnlicher Anmut und Schönheit;
    sie schien viel jünger zu sein, als sie angab, und machte einen
    echt weiblichen Eindruck. Gegen den Arzt benahm sie sich voll
    ablehnend und gab sich keine Mühe, ihr Mißtrauen zu ver-
    bergen. Offenbar nur unter dem Drucke des mitanwesenden
    Rechtsfreundes erzählte sie die folgende Geschichte, die mir ein
    später zu erwähnendes Problem aufgab. Ihre Mienen und Affekt-
    åuBerungen verrieten dabei nichts von einer schamhaften
    Befangenheit, wie sie der Einstellung zu dem fremden Zuhörer
    entsprochen hätte. Sie stand ausschließlich unter dem Banne der
    Besorgnis, die sich aus ihrem Erlebnis ergeben hatte.

    Sie war jahrelang Angestellte in einem großen Institut
    gewesen, in dem sie einen verantwortlichen Posten zur eigenen
    Befriedigung und zur Zufriedenheit der Vorgesetzten innehatte,
    Liebesbeziehungen zu Männern hatte sie nie gesucht; sie lebte
    ruhig neben einer alten Mutter, deren einzige Stütze sie war.
    Geschwister fehlten, der Vater war vor vielen Jahren gestorben.
    In der letzten Zeit hatte sich ein männlicher Beamter desselben
    Bureaus ihr genähert, ein sehr gebildeter, einnehmender Mann,
    dem auch sie ihre Sympathie nicht versagen konnte. Eine Heirat
    zwischen ihnen war durch äußere Verhältnisse ausgeschlossen,
    aber der Mann wollte nichts davon wissen, dieser Unmöglichkeit
    wegen den Verkehr aufzugeben. Er hielt ihr vor, wie unsinnig
    es sei, wegen sozialer Konventionen auf alles zu verzichten, was
    sie sich beide wünschten, worauf sie ein unzweifelhaftes Anrecht
    hätten, und was wie nichts anderes zur Erhöhung des Lebens
    beitrüge. Da er versprochen hatte, sie nicht in Gefahr zu bringen,

    Freud, V. 19

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    290 ‚Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    willigte sie endlich ein, ihn in seiner Junggesellenwohnung bei
    Tage zu besuchen. Dort kam es nun zu Kiissen und Umarmungen,
    sie lagerten sich nebeneinander, er bewunderte ihre zum Teil
    enthiillte Schönheit. Mitten in dieser Schåferstunde wurde sie
    durch ein einmaliges Geräusch wie ein Pochen oder Ticken
    erschreckt. Es kam von der Gegend des Schreibtisches her,
    welcher schräg vor dem Fenster stand; der Zwischenraum
    zwischen Tisch und Fenster war zum Teil von einem schweren
    Vorhang eingenommen. Sie erzählte, daß sie den Freund sofort
    nach der Bedeutung des Geräusches gefragt und von ihm die
    Auskunft bekommen hatte, es rithre wahrscheinlich von der
    kleinen, auf dem Schreibtisch befindlichen Stehuhr her; ich werde
    mir aber die Freiheit nehmen, zu diesem Teil ihres Berichts
    später eine Bemerkung zu machen.

    Als sie das Haus verlieB, traf sie moch auf der Treppe mit
    zwei Männern zusammen, die bel ihrem Anblick einander etwas
    zuflüsterten. Einer der beiden Unbekannten trug einen verhiillten
    Gegenstand wie ein Kästchen. Die Begegnung beschäftigte ihre
    Gedanken; noch auf dem Heimwege bildete sie die Kombination,
    dies Kästchen könnte leicht ein photographischer Apparat gewesen
    sein, der Mann, der es trug, ein Photograph, der während ihrer
    Anwesenheit im Zimmer hinter dem Vorhang versteckt geblieben
    war, und das Ticken, das sie gehört, das Geräusch des Abdriickens,
    nachdem der Mann die besonders verfängliche Situation heraus-
    gefunden, die er im Bilde festhalten wollte. Ihr Argwohn gegen
    den Geliebten war von da an nicht mehr zum Schweigen zu
    bringen; sie verfolgte ihn mündlich und schrifilich mit der
    Anforderung, ihr Aufklårung und Beruhigung zu geben, und
    mit Vorwürfen, erwies sich aber unzugánglich gegen die Ver-
    sicherungen, die er ihr machte, mit denen er die Aufrichtigkeit
    seiner Gefithle und die Grundlosigkeit ihrer Verdåchtigung ver
    trat. Endlich wandte sie sich an den Advokaten, erzählte ihm
    ihr Erlebnis und übergab ihm die Briefe, die sie in dieser

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    Mitteilung eines Falles von Paranoia 291

    Angelegenheit von dem Verdåchtigten erhalten hatte. Ich konnte
    später in einige dieser Briefe Einsicht nehmen; sie machten mir
    den besten Eindruck; ihr Hauptinhalt war das Bedauern, daß ein
    so schönes, zärtliches Einvernehmen durch diese „unglückselige
    krankhafte Idee“ zerstört worden sei.

    Es bedarf wohl keiner Rechtfertigung, daß ich das Urteil des
    Beschuldigten auch zu dem meinigen machte. Aber der Fall
    hatte für mich ein anderes als bloß diagnostisches Interesse, Es
    war in der psychoanalytischen Literatur behauptet worden, daß
    der Paranoiker gegen eine Verstärkung seiner homosexuellen
    Strebungen ankämpft, was im Grunde auf eine narziBtische
    Objektwahl zurückweist. Es war ferner gedeutet worden, daß der
    Verfolger im Grunde der Geliebte oder der ehemals Geliebte sei.
    Aus der Zusammensetzung beider Aufstellungen ergibt sich die
    Forderung, der Verfolger müsse von demselben Geschlecht sein
    wie der Verfolgte. Den Satz von der Bedingtheit der Paranoia
    durch die Homosexualität hatten wir allerdings nicht als allgemein
    und ausnahmslos gültig hingestellt, aber nur darum nicht, weil
    unsere Beobachtungen nicht genug zahlreich waren. Er gehörte
    sonst zu jenen, die infolge gewisser Zusammenhänge nur dann
    bedeutungsvoll sind, wenn sie Allgemeinheit beanspruchen können.
    In der psychiatrischen Literatur fehlte es gewiß nicht an Fällen,
    in denen sich der Kranke von Angehörigen des anderen
    Geschlechtes verfolgt glaubte, aber es blieb ein anderer Eindruck,
    von solchen Fällen zu lesen, als einen derselben selbst vor sich
    zu sehen. Was ich und meine Freunde hatten beobachten und
    analysieren können, hatte bisher die Beziehung der Paranoia zur
    Homosexualität ohne Schwierigkeit bestätigt. Der hier vorgeführte
    Fall sprach mit aller Entschiedenheit dagegen. Das Mädchen
    schien die Liebe zu einem Mann abzuwehren, indem sie den
    Geliebten unmittelbar in den Verfolger verwandelte; vom Einfluß
    des Weibes, von einem Sträuben gegen eine homosexuelle Bindung

    war nichts zu finden.

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    202 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    Bei dieser Sachlage war es wohl das Einfachste, die Partei-
    nahme får eine allgemein gültige Abhängigkeit des Verfolgungs-
    wahnes von der Homosexualitåt und alles, was sich weiter daran
    knüpfte, wieder aufzugeben. Man mußte wohl auf diese Erkenntnis
    verzichten, wenn man sich nicht etwa durch diese Abweichung
    von der Erwartung bestimmen ließ, sich auf die Seite des
    Rechtsfreundes zu schlagen und wie er ein richtig gedeutetes
    Erlebnis anstatt einer paranoischen Kombination anzuerkennen,
    Ich sah aber einen anderen Ausweg, welcher die Entscheidung
    zunächst hinausschob. Ich erinnerte mich daran, wie oft man in
    die Lage gekommen war, psychisch Kranke falsch zu beurteilen,
    weil man sich nicht eindringlich genug mit ihnen beschäftigt
    und so zu wenig von ihnen erfahren hatte. Ich erklärte also, es
    sei mir unmöglich, heute ein Urteil zu äußern, und bitte sie
    vielmehr, mich ein zweites Mal zu besuchen, um mir die
    Geschichte ausführlicher und mit allen, diesmal vielleicht über-
    gangenen, Nebenumständen zu erzählen. Durch die Vermittlung
    des Advokaten erreichte ich dies Zugeständnis von der sonst
    unwilligen Patientin; er kam mir auch durch die Erklärung zu
    Hilfe, daß bei dieser zweiten Unterredung seine Anwesenheit
    überflüssig sei.

    Die zweite Erzählung der Patientin hob die frühere nicht auf,
    brachte aber solche Ergänzungen, daß alle Zweifel und Schwierig-
    keiten wegfielen. Vor allem, sie hatte den jungen Mann nicht
    einmal, sondern zweimal in seiner Wohnung besucht. Beim
    zweiten Zusammensein ereignete sich die Störung durch das
    Geräusch, an welches sie ihren Verdacht angeknüpft hatte; den
    ersten Besuch hatte sie bei der ersten Mitteilung unterschlagen,
    ausgelassen, weil er ihr nicht mehr bedeutsam vorkam. Bei
    diesem ersten Besuch hatte sich nichts Auffälliges zugetragen,
    wohl aber am Tage nachher. Die Abteilung des großen Unter-
    nehmens, bei welcher sie tätig war, stand unter der Leitung
    einer alten Dame, die sie mit den Worten beschrieb: Sie hat

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    Mitteilung eines Falles von Paranoia 293

    weiße Haare wie meine Mutter. Sie war es gewöhnt, von dieser
    alten Vorgesetzten sehr zärtlich behandelt, auch wohl manchmal
    geneckt zu werden, und hielt sich fiir ihren besonderen Liebling.
    Am Tage nach ihrem ersten Besuch bei dem jungen Beamten
    erschien dieser in den Geschäftsräumen, um der alten Dame
    etwas dienstlich mitzuteilen, und während er leise mit dieser
    sprach, entstand in ihr plötzlich die GewiBheit, er mache ihr
    Mitteilung von dem gestrigen Abenteuer, ja, er unterhalte längst
    ein Verhältnis mit ihr, von dem sie selbst nur bisher nichts
    gemerkt habe. Die weiBhaarige, miitterliche Alte wisse nun alles.
    Im weiteren Verlaufe des Tages konnte sie aus dem Benehmen
    und den Äußerungen der Alten diesen ihren Verdacht bekråftigen.
    Sie ergriff die nächste Gelegenheit, den Geliebten wegen seines
    Verrates zur Rede zu stellen. Der sträubte sich natürlich energisch
    gegen das, was er eine unsinnige Zumutung hieß, und es gelang
    ihm in der Tat, sie für diesmal von ihrem Wahn abzubringen,
    so daß sie einige Zeit — ich glaube einige Wochen — später
    vertrauensvoll genug war, den Besuch in seiner Wohnung zu
    wiederholen. Das Weitere ist uns aus der ersten Erzählung der
    Patientin bekannt.

    Was wir neu erfahren haben, macht zunächst dem Zweifel
    an der krankhaften Natur der Verdächtigung ein Ende. Unschwer
    erkennt man, daß die weißhaarige Vorsteherin ein Mutterersatz
    ist, daß der geliebte Mann trotz seiner Jugend an die Stelle des
    Vaters gerückt wird, und daß es die Macht des Mutterkomplexes
    ist, welche die Kranke zwingt, ein Liebesverhältnis zwischen den
    beiden ungleichen Partnern, aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotze
    anzunehmen. Damit verflüchtigt sich aber auch der anscheinende
    Widerspruch gegen die von der psychoanalytischen Lehre genährte
    Erwartung, eine überstarke homosexuelle Bindung werde sich
    als die Bedingung zur Entwicklung eines Verfolgungswahnes
    herausstellen. Der ursprüngliche Verfolger, die Instanz, deren
    Einfluß man sich entziehen will, ist auch in diesem Falle nicht

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    204 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    der Mann, sondern das Weib. Die Vorsteherin weiß von den
    Liebesbeziehungen des Mädchens, miBbilligt sie und gibt ihr
    diese Verurteilung durch geheimnisvolle Andeutungen zu erkennen.
    Die Bindung an das gleiche Geschlecht widersetzt sich den
    Bemühungen, ein Mitglied des anderen Geschlechts zum Liebes-
    objekt zu gewinnen. Die Liebe zur Mutter wird zur Wort
    fithrerin all der Strebungen, welche in der Rolle eines „Gewissens“
    das Mädchen bei dem ersten Schritt auf dem neuen, in vielen
    Hinsichten gefährlichen Weg zur normalen Sexualbefriedigung
    zuriickhalten wollen, und sie erreicht es auch, die Beziehung
    zum Manne zu stéren.

    Wenn die Mutter die Sexualbetåtigung der Tochter hemmt
    oder aufhält, so erfüllt sie eine normale Funktion, welche durch
    Kindheitsbeziehungen vorgezeichnet ist, starke, unbewuBte Moti-
    vierungen besitzt und die Sanktion der Gesellschaft gefunden hat.
    Sache der Tochter ist es, sich von diesem Einfluß abzulösen und
    sich auf Grund breiter, rationeller Motivierung für ein Maß von
    Gestattung oder Versagung des Sexualgenusses zu entscheiden.
    Verfällt sie bei dem Versuch dieser Befreiung in neurotische
    Erkrankung, so liegt ein in der Regel überstarker, sicherlich aber
    unbeherrschter Mutterkomplex vor, dessen Konflikt mit der neuen
    libidinésen Strömung je nach der verwendbaren Disposition in
    der Form dieser oder jener Neurose erledigt wird. In allen Fällen
    werden die Erscheinungen der neurotischen Reaktion nicht
    durch die gegenwärtige Beziehung zur aktuellen Mutter, sondern
    durch die infantilen Beziehungen zum urzeitlichen Mutterbild
    bestimmt werden.

    Von unserer Patientin wissen wir, daB sie seit langen Jahren
    vaterlos war, wir diirfen auch annehmen, daB sie nicht bis zum
    Alter von dreißig Jahren frei vom Manne geblieben ware, wenn
    ihr nicht eine starke Gefühlsbindung an die Mutter eine Stütze
    geboten hätte. Diese Stütze wird ihr zur lästigen Fessel, da ihre
    Libido auf den Anruf einer eindringlichen Werbung zum Manne

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    Mitteilung eines Falles von Paranoia 295

    zu streben beginnt. Sie sucht sie abzustreifen, sich ihrer homo-
    sexuellen Bindung zu entledigen. Ihre Disposition — von der
    hier nicht die Rede zu sein braucht — gestattet, daß dies in
    der Form der paranoischen Wahnbildung vor sich gehe. Die
    Mutter wird also zur feindseligen, mißgünstigen Beobachterin
    und Verfolgerin. Sie könnte als solche überwunden werden, wenn
    nicht der Mutterkomplex die Macht behielte, die in seiner.
    Absicht liegende Fernhaltung vom Manne durchzusetzen. Am
    Ende dieser ersten Phase des Konflikts hat sie sich also der
    Mutter entfremdet und dem Manne nicht angeschlossen. Beide
    konspirieren ja gegen sie. Da gelingt es der kräftigen Bemühung
    des Mannes, sie entscheidend an sich zu ziehen. Sie überwindet
    den Einspruch der Mutter und ist bereit, dem Geliebten eine
    neue Zusammenkunft zu gewähren. Die Mutter kommt in den
    weiteren Geschehnissen nicht mehr vor; wir dürfen aber daran
    festhalten, daß in dieser Phase der geliebte Mann nicht direkt
    zum Verfolger geworden war, sondern auf dem Wege über die
    Mutter und kraft seiner Beziehung zur Mutter, welcher in der
    ersten Wahnbildung die Hauptrolle zugefallen war.

    Man sollte nun glauben, der Widerstand sei endgültig über-
    wunden und das bisher an die Mutter gebundene Mädchen habe
    es erreicht, einen Mann zu lieben. Aber nach dem zweiten
    Beisammensein erfolgt eine neue Wahnbildung, welche es durch
    geschickte Benützung einiger Zufälligkeiten durchsetzt, diese Liebe
    zu verderben, und somit die Absicht des Mutterkomplexes erfolg-
    reich fortführt. Es erscheint uns noch immer befremdlich, daß
    das Weib sich der Liebe zum Manne mit Hilfe eines paranoischen
    Wahnes erwehren sollte. Ehe wir aber dieses Verhältnis näher
    beleuchten, wollen wir den Zufälligkeiten einen Blick schenken,
    auf welche sich die zweite Wahnbildung, die allein gegen den
    Mann gerichtete, stützt.

    Halb entkleidet auf dem Divan neben dem Geliebten liegend
    hört sie ein Geräusch wie ein Ticken, Klopfen, Pochen, dessen

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    296 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    Ursache sie nicht kennt, das sie aber später deutet, nachdem sie
    auf der Treppe des Hauses zwei Männern begegnet ist, von denen
    einer etwas wie ein verdecktes Kästchen trägt. Sie gewinnt die
    Überzeugung, daß sie im Auftrage des Geliebten während des
    intimen Beisammenseins belauscht und photographiert wurde. Es
    liegt uns natürlich fern zu denken, wenn dies ungliickselige
    Geräusch sich nicht ereignet hätte, wire auch die Wahnbildung
    nicht zustandegekommen. Wir erkennen vielmehr hinter dieser
    Zufalligkeit etwas Notwendiges, was sich ebenso zwanghaft durch-
    setzen mußte wie die Annahme eines Liebesverhiltnisses zwischen
    dem geliebten Manne und der alten, zum Mutterersatz erkorenen
    Vorsteherin. Die Beobachtung des Liebesverkehres der Eltern ist
    ein selten vermiBtes Stück aus dem Schatze unbewuBter Phantasien,
    die man bei allen Neurotikern, wahrscheinlich bei allen Menschen-
    kindern, durch die Analyse auffinden kann. Ich heiße diese
    Phantasiebildungen, die der Beobachtung des elterlichen Geschlechts-
    verkehres, die der Verführung, der Kastration und andere,
    Urphantasien und werde an anderer Stelle deren Herkunft
    sowie ihr Verhältnis zum individuellen Erleben eingehend unter-
    suchen. Das zufällige Geräusch spielt also nur die Rolle einer
    Provokation, welche die typische, im Elternkomplex enthaltene
    Phantasie von der Belauschung aktiviert. Ja, es ist fraglich, ob
    wir es als ein „zufälliges“ bezeichnen sollen. Wie O. Rank mir
    bemerkt hat, ist es vielmehr ein notwendiges Requisit der
    Belauschungsphantasie und wiederholt entweder das Geräusch,
    durch welches sich der Verkehr der Eltern verrät, oder auch das,
    wodurch sich das lauschende Kind zu verraten fiirchtet. Nun
    erkennen wir aber mit einem Male, auf welchem Boden wir
    uns befinden. Der Geliebte ist noch immer der Vater, an Stelle
    der Mutter ist sie selbst getreten. Die Belauschung muB dann
    einer fremden Person zugeteilt werden. Es wird uns ersichtlich,
    auf welche Weise sie sich von der homosexuellen Abhängigkeit
    von der Mutter freigemacht hat. Durch ein Stiickchen Regression;

  • S.

    Mitteilung eines Falles von Paranoia 297

    anstatt die Mutter zum Liebesobjekt zu nehmen, hat sie sich
    mit ihr identifiziert, ist sie selbst zur Mutter geworden. Die
    Möglichkeit dieser Regression weist auf den narziBtischen Ursprung
    ihrer homosexuellen Objektwahl und somit auf die bei ihr
    vorhandene Disposition zur paranoischen Erkrankung hin. Man
    kónnte einen Gedankengang entwerfen, der zu demselben Ergebnis
    fithrt wie diese Identifizierung: Wenn die Mutter das tut, darf
    ich es auch; ich habe dasselbe Recht wie die Mutter.

    Man kann in der Aufhebung der Zufälligkeiten einen Schritt
    weiter gehen, ohne zu fordern, daB ihn der Leser mitmache,
    denn das Unterbleiben einer tieferen analytischen Untersuchung
    macht es in unserem Falle unmöglich, hier über eine gewisse
    Wahrscheinlichkeit hinauszukommen, Die Kranke hatte in unserer
    ersten Besprechung angegeben, daß sie sich sofort nach der
    Ursache des Geräusches erkundigt und die Auskunft erhalten habe,
    wahrscheinlich habe die auf dem Schreibtisch befindliche kleine
    Standuhr getickt. Ich nehme mir die Freiheit, diese Mitteilung
    als eine Erinnerungståuschung aufzulösen. Es ist mir viel glaub-
    hafter, daß sie zunächst jede Reaktion auf das Geräusch unter-
    lassen, und daB ihr dies erst nach dem Zusammentreffen mit den
    beiden Männern auf der Treppe bedeutungsvoll erschienen ist.
    Den Erklårungsversuch aus dem Ticken der Uhr wird der Mann,
    der das Geräusch vielleicht überhaupt nicht gehört hatte, später
    einmal gewagt haben, als ihn der Argwohn des Mädchens
    bestürmte. „Ich weiß nicht, was du da gehört haben kannst;
    vielleicht hat gerade die Standuhr getickt, wie sie es manchmal
    tut.“ Solche Nachträglichkeit in der Verwertung von Eindrücken
    und solche Verschiebung in der Erinnerung sind gerade bei der
    Paranoia häufig und für sie charakteristisch. Da ich aber den
    Mann nie gesprochen habe und die Analyse des Mädchens nicht
    fortsetzen konnte, bleibt meine Annahme unbeweisbar.

    Ich könnte es wagen, in der Zersetzung der angeblich realen
    „Zufälligkeit“ noch weiter zu gehen. Ich glaube überhaupt nicht,

  • S.

    298 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    daß die Standuhr getickt hat, oder daß ein Geräusch zu hören
    war. Die Situation, in der sie sich befand, rechtfertigte eine
    Empfindung von Pochen oder Klopfen an der Klitoris. Dies war
    es dann, was sie nachträglich als Wahrnehmung von einem
    äußeren Objekt hinausprojizierte. Ganz Ähnliches ist im Traume
    möglich. Eine meiner hysterischen Patientinnen berichtete ein-
    mal einen kurzen Wecktraum, zu dem sich kein Material von
    Einfällen ergeben wollte. Der Traum hieß: Es klopft, und sie
    wachte auf. Es hatte niemand an die Tiir geklopft, aber sie war
    in den Nåchten vorher durch die peinlichen Sensationen von
    Pollutionen geweckt worden und hatte nun ein Interesse daran,
    zu erwachen, sobald sich die ersten Zeichen der Genitalerregung
    einstellten. Es hatte an der Klitoris geklopft. Den nämlichen
    Projektionsvorgang möchte ich bei unserer Paranoika an die
    Stelle des zufilligen Geråusches setzen. Ich werde selbstverståndlich
    nicht dafür einstehen, daß mir die Kranke bei einer flüchtigen
    Bekanntschaft unter allen Anzeichen eines ihr unliebsamen
    Zwanges einen aufrichtigen Bericht iiber die Vorgånge bei den
    beiden zårtlichen Zusammenkiinften gegeben, aber die vereinzelte
    Klitoriskontraktion stimmt wohl zu ihrer Behauptung, daB eine
    Vereinigung der Genitalien dabei nicht stattgefunden habe. An
    der resultierenden Ablehnung des Mannes hat sicherlich neben
    dem „Gewissen“ auch die Unbefriedigung ihren Anteil.

    Wir kehren nun zu der auffålligen Tatsache zuriick, daB sich
    die Kranke der Liebe zum Manne mit Hilfe einer paranoischen
    Wahnbildung erwehrt. Den Schlüssel zum Verständnis gibt die
    Entwicklungsgeschichte dieses Wahnes. Dieser richtete sich
    ursprünglich, wie wir erwarten durften, gegen das Weib, aber
    nun wurde auf dem Boden der Paranoia der Fort-
    schritt vom Weibe zum Manne als Objekt voll-
    zogen. Ein solcher Fortschritt ist bei der Paranoia nicht
    gewöhnlich; wir finden in der Regel, daB der Verfolgte an den-
    selben Personen, also auch an demselben Geschlecht, fixiert bleibt,

  • S.

    Mitteilung eines Falles von Paranoia 299

    dem seine Liebeswahl vor der paranoischen Umwandlung galt.
    Aber er wird durch die neurotische Affektion nicht ausgeschlossen ;
    unsere Beobachtung diirfte fiir viele andere vorbildlich sein. Es
    gibt außerhalb der Paranoia ‘viele ähnliche Vorgänge, welche
    bisher nicht unter diesem Gesichtspunkte zusammengefaBt worden
    sind, darunter sehr allgemein bekannte. So wird z. B. der soge-
    nannte Neurastheniker durch seine unbewuDte Bindung an
    inzestuüse Liebesobjekte davon abgehalten, ein fremdes Weib
    zum Objekt zu nehmen, und in seiner Sexualbetåtigung auf die
    Phantasie eingeschränkt. Auf dem Boden der Phantasie bringt er
    aber den ihm versagten Fortschritt zustande und kann Mutter
    und Schwester durch fremde Objekte ersetzen. Da bei diesen der
    Einspruch der Zensur entfällt, wird ihm die Wahl dieser Ersatz-
    personen in seinen Phantasien bewußt.

    Die Phänomene des versuchten Fortschrittes, von dem neuen
    meist regressiv erworbenen Boden her, stellen sich den Bemühungen
    zur Seite; welche bei manchen Neurosen unternommen werden,
    um eine bereits innegehabte, aber verlorene Position der Libido
    wieder zu gewinnen. Die beiden Reihen von Erscheinungen sind
    begrifflich kaum voneinander zu trennen. Wir neigen allzusehr
    zu der Auffassung, daß der Konflikt, welcher der Neurose zu-
    grunde liegt, mit der Symptombildung abgeschlossen sei. In
    Wirklichkeit geht der Kampf vielfach auch nach der Symptom-
    bildung weiter. Auf beiden Seiten tauchen neue Triebanteile auf,
    welche ihn fortführen. Das Symptom selbst wird zum Objekt
    dieses Kampfes; Strebungen, die es behaupten wollen, messen
    sich mit anderen, die seine Aufhebung und die Herstellung des
    früheren Zustandes durchzusetzen bemüht sind. Häufig werden
    Wege gesucht, um das Symptom zu entwerten, indem man das
    Verlorene und durch das Symptom Versagte von anderen Zugängen
    her zu gewinnen trachtet. Diese Verhältnisse werfen ein klärendes
    Licht auf eine Aufstellung von C. G. Jung, demzufolge eine
    eigentümliche psychische Trägheit, die sich der Veränderung und

  • S.

    300 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    dem Fortschritt widersetzt, die Grundbedingung der Neurose ist.
    Diese Trágheit ist in der Tat sehr eigentümlich; sie ist keine
    allgemeine, sondern eine höchst spezialisierte, sie ist auch auf
    ihrem Gebiete nicht Alleinherrscherin, sondern kåmpft mit Fort-
    schritts- und Wiederherstellungstendenzen, die sich selbst nach
    der Symptombildung der Neurose nicht beruhigen. Spürt man
    dem Ausgangspunkte dieser speziellen Trågheit nach, so enthüllt
    sie sich als die Äußerung von sehr frühzeitig erfolgten, sehr
    schwer låsbaren Verkniipfungen von Trieben mit Eindriicken und
    den in ihnen gegebenen Objekten, durch welche die Weiter-
    entwicklung dieser Triebanteile zum Stillstand gebracht wurde.
    Oder, um es anders zu sagen, diese spezialisierte „psychische
    Trägheit“ ist nur ein anderer, kaum ein besserer, Ausdruck für
    das, was wir in der Psychoanalyse eine Fixierung zu nennen
    gewohnt sind.