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MITTEILUNG EINES DER PSYCHOANALY-
TISCHEN THEORIE WIDERSPRECHENDEN
FALLES VON PARANOIAZuerst erschienen in der „Intern. Zeitschr, für
ärztl. Psychoanalyse“, III, 1915, dann in der Vierten
Folge der „Sammlung kleiner Schriften zur Neu-
rosenlehre*.Vor Jahren ersuchte mich ein bekannter Rechtsanwalt um
Begutachtung eines Falles, dessen Auffassung ihm zweifelhaft
erschien. Eine junge Dame hatte sich an ihn gewendet, um
Schutz gegen die Verfolgungen eines Mannes zu finden, der sie
zu einem Liebesverhältnis bewogen hatte. Sie behauptete, daß
dieser Mann ihre Gefügigkeit mißbraucht hatte, um von unge-
sehenen Zuschauern photographische Aufnahmen ihres zärtlichen
Beisammenseins herstellen zu lassen; nun läge es in seiner Hand,
sie durch das Zeigen dieser Bilder zu beschämen und zum
Aufgeben ihrer Stellung zu zwingen. Der Rechtsfreund war
erfahren genug, das krankhafte Gepräge dieser Anklage zu erkennen,
meinte aber, es komme so viel im Leben vor, was man für
unglaubwürdig halten möchte, daß ihm das Urteil eines Psychiaters
über die Sache wertvoll wäre. Er versprach, mich ein nächstes
Mal in Gesellschaft der Klägerin zu besuchen.Ehe ich meinen Bericht fortsetze, will ich bekennen, daß ich
das Milieu der zu untersuchenden Begebenheit zur Unkennt-
lichkeit verändert habe, aber auch nichts anderes als dies. Ich
halte es sonst für einen Mißbrauch, aus irgend welchen, wennS.
Mitteilung eines Falles von Paranoia 289
auch aus den besten Motiven, Ziige einer Krankengeschichte in
der Mitteilung zu entstellen, da man unmöglich wissen kann,
welche Seite des Falles ein selbständig urteilender Leser heraus-
greifen wird, und somit Gefahr läuft, diesen letzteren in die Irre
zu führen.Die Patientin, die ich nun bald darauf kennen lernte, war ein
dreißigjähriges Mädchen von ungewöhnlicher Anmut und Schönheit;
sie schien viel jünger zu sein, als sie angab, und machte einen
echt weiblichen Eindruck. Gegen den Arzt benahm sie sich voll
ablehnend und gab sich keine Mühe, ihr Mißtrauen zu ver-
bergen. Offenbar nur unter dem Drucke des mitanwesenden
Rechtsfreundes erzählte sie die folgende Geschichte, die mir ein
später zu erwähnendes Problem aufgab. Ihre Mienen und Affekt-
åuBerungen verrieten dabei nichts von einer schamhaften
Befangenheit, wie sie der Einstellung zu dem fremden Zuhörer
entsprochen hätte. Sie stand ausschließlich unter dem Banne der
Besorgnis, die sich aus ihrem Erlebnis ergeben hatte.Sie war jahrelang Angestellte in einem großen Institut
gewesen, in dem sie einen verantwortlichen Posten zur eigenen
Befriedigung und zur Zufriedenheit der Vorgesetzten innehatte,
Liebesbeziehungen zu Männern hatte sie nie gesucht; sie lebte
ruhig neben einer alten Mutter, deren einzige Stütze sie war.
Geschwister fehlten, der Vater war vor vielen Jahren gestorben.
In der letzten Zeit hatte sich ein männlicher Beamter desselben
Bureaus ihr genähert, ein sehr gebildeter, einnehmender Mann,
dem auch sie ihre Sympathie nicht versagen konnte. Eine Heirat
zwischen ihnen war durch äußere Verhältnisse ausgeschlossen,
aber der Mann wollte nichts davon wissen, dieser Unmöglichkeit
wegen den Verkehr aufzugeben. Er hielt ihr vor, wie unsinnig
es sei, wegen sozialer Konventionen auf alles zu verzichten, was
sie sich beide wünschten, worauf sie ein unzweifelhaftes Anrecht
hätten, und was wie nichts anderes zur Erhöhung des Lebens
beitrüge. Da er versprochen hatte, sie nicht in Gefahr zu bringen,Freud, V. 19
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290 ‚Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre
willigte sie endlich ein, ihn in seiner Junggesellenwohnung bei
Tage zu besuchen. Dort kam es nun zu Kiissen und Umarmungen,
sie lagerten sich nebeneinander, er bewunderte ihre zum Teil
enthiillte Schönheit. Mitten in dieser Schåferstunde wurde sie
durch ein einmaliges Geräusch wie ein Pochen oder Ticken
erschreckt. Es kam von der Gegend des Schreibtisches her,
welcher schräg vor dem Fenster stand; der Zwischenraum
zwischen Tisch und Fenster war zum Teil von einem schweren
Vorhang eingenommen. Sie erzählte, daß sie den Freund sofort
nach der Bedeutung des Geräusches gefragt und von ihm die
Auskunft bekommen hatte, es rithre wahrscheinlich von der
kleinen, auf dem Schreibtisch befindlichen Stehuhr her; ich werde
mir aber die Freiheit nehmen, zu diesem Teil ihres Berichts
später eine Bemerkung zu machen.Als sie das Haus verlieB, traf sie moch auf der Treppe mit
zwei Männern zusammen, die bel ihrem Anblick einander etwas
zuflüsterten. Einer der beiden Unbekannten trug einen verhiillten
Gegenstand wie ein Kästchen. Die Begegnung beschäftigte ihre
Gedanken; noch auf dem Heimwege bildete sie die Kombination,
dies Kästchen könnte leicht ein photographischer Apparat gewesen
sein, der Mann, der es trug, ein Photograph, der während ihrer
Anwesenheit im Zimmer hinter dem Vorhang versteckt geblieben
war, und das Ticken, das sie gehört, das Geräusch des Abdriickens,
nachdem der Mann die besonders verfängliche Situation heraus-
gefunden, die er im Bilde festhalten wollte. Ihr Argwohn gegen
den Geliebten war von da an nicht mehr zum Schweigen zu
bringen; sie verfolgte ihn mündlich und schrifilich mit der
Anforderung, ihr Aufklårung und Beruhigung zu geben, und
mit Vorwürfen, erwies sich aber unzugánglich gegen die Ver-
sicherungen, die er ihr machte, mit denen er die Aufrichtigkeit
seiner Gefithle und die Grundlosigkeit ihrer Verdåchtigung ver
trat. Endlich wandte sie sich an den Advokaten, erzählte ihm
ihr Erlebnis und übergab ihm die Briefe, die sie in dieserS.
Mitteilung eines Falles von Paranoia 291
Angelegenheit von dem Verdåchtigten erhalten hatte. Ich konnte
später in einige dieser Briefe Einsicht nehmen; sie machten mir
den besten Eindruck; ihr Hauptinhalt war das Bedauern, daß ein
so schönes, zärtliches Einvernehmen durch diese „unglückselige
krankhafte Idee“ zerstört worden sei.Es bedarf wohl keiner Rechtfertigung, daß ich das Urteil des
Beschuldigten auch zu dem meinigen machte. Aber der Fall
hatte für mich ein anderes als bloß diagnostisches Interesse, Es
war in der psychoanalytischen Literatur behauptet worden, daß
der Paranoiker gegen eine Verstärkung seiner homosexuellen
Strebungen ankämpft, was im Grunde auf eine narziBtische
Objektwahl zurückweist. Es war ferner gedeutet worden, daß der
Verfolger im Grunde der Geliebte oder der ehemals Geliebte sei.
Aus der Zusammensetzung beider Aufstellungen ergibt sich die
Forderung, der Verfolger müsse von demselben Geschlecht sein
wie der Verfolgte. Den Satz von der Bedingtheit der Paranoia
durch die Homosexualität hatten wir allerdings nicht als allgemein
und ausnahmslos gültig hingestellt, aber nur darum nicht, weil
unsere Beobachtungen nicht genug zahlreich waren. Er gehörte
sonst zu jenen, die infolge gewisser Zusammenhänge nur dann
bedeutungsvoll sind, wenn sie Allgemeinheit beanspruchen können.
In der psychiatrischen Literatur fehlte es gewiß nicht an Fällen,
in denen sich der Kranke von Angehörigen des anderen
Geschlechtes verfolgt glaubte, aber es blieb ein anderer Eindruck,
von solchen Fällen zu lesen, als einen derselben selbst vor sich
zu sehen. Was ich und meine Freunde hatten beobachten und
analysieren können, hatte bisher die Beziehung der Paranoia zur
Homosexualität ohne Schwierigkeit bestätigt. Der hier vorgeführte
Fall sprach mit aller Entschiedenheit dagegen. Das Mädchen
schien die Liebe zu einem Mann abzuwehren, indem sie den
Geliebten unmittelbar in den Verfolger verwandelte; vom Einfluß
des Weibes, von einem Sträuben gegen eine homosexuelle Bindungwar nichts zu finden.
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202 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre
Bei dieser Sachlage war es wohl das Einfachste, die Partei-
nahme får eine allgemein gültige Abhängigkeit des Verfolgungs-
wahnes von der Homosexualitåt und alles, was sich weiter daran
knüpfte, wieder aufzugeben. Man mußte wohl auf diese Erkenntnis
verzichten, wenn man sich nicht etwa durch diese Abweichung
von der Erwartung bestimmen ließ, sich auf die Seite des
Rechtsfreundes zu schlagen und wie er ein richtig gedeutetes
Erlebnis anstatt einer paranoischen Kombination anzuerkennen,
Ich sah aber einen anderen Ausweg, welcher die Entscheidung
zunächst hinausschob. Ich erinnerte mich daran, wie oft man in
die Lage gekommen war, psychisch Kranke falsch zu beurteilen,
weil man sich nicht eindringlich genug mit ihnen beschäftigt
und so zu wenig von ihnen erfahren hatte. Ich erklärte also, es
sei mir unmöglich, heute ein Urteil zu äußern, und bitte sie
vielmehr, mich ein zweites Mal zu besuchen, um mir die
Geschichte ausführlicher und mit allen, diesmal vielleicht über-
gangenen, Nebenumständen zu erzählen. Durch die Vermittlung
des Advokaten erreichte ich dies Zugeständnis von der sonst
unwilligen Patientin; er kam mir auch durch die Erklärung zu
Hilfe, daß bei dieser zweiten Unterredung seine Anwesenheit
überflüssig sei.Die zweite Erzählung der Patientin hob die frühere nicht auf,
brachte aber solche Ergänzungen, daß alle Zweifel und Schwierig-
keiten wegfielen. Vor allem, sie hatte den jungen Mann nicht
einmal, sondern zweimal in seiner Wohnung besucht. Beim
zweiten Zusammensein ereignete sich die Störung durch das
Geräusch, an welches sie ihren Verdacht angeknüpft hatte; den
ersten Besuch hatte sie bei der ersten Mitteilung unterschlagen,
ausgelassen, weil er ihr nicht mehr bedeutsam vorkam. Bei
diesem ersten Besuch hatte sich nichts Auffälliges zugetragen,
wohl aber am Tage nachher. Die Abteilung des großen Unter-
nehmens, bei welcher sie tätig war, stand unter der Leitung
einer alten Dame, die sie mit den Worten beschrieb: Sie hatS.
Mitteilung eines Falles von Paranoia 293
weiße Haare wie meine Mutter. Sie war es gewöhnt, von dieser
alten Vorgesetzten sehr zärtlich behandelt, auch wohl manchmal
geneckt zu werden, und hielt sich fiir ihren besonderen Liebling.
Am Tage nach ihrem ersten Besuch bei dem jungen Beamten
erschien dieser in den Geschäftsräumen, um der alten Dame
etwas dienstlich mitzuteilen, und während er leise mit dieser
sprach, entstand in ihr plötzlich die GewiBheit, er mache ihr
Mitteilung von dem gestrigen Abenteuer, ja, er unterhalte längst
ein Verhältnis mit ihr, von dem sie selbst nur bisher nichts
gemerkt habe. Die weiBhaarige, miitterliche Alte wisse nun alles.
Im weiteren Verlaufe des Tages konnte sie aus dem Benehmen
und den Äußerungen der Alten diesen ihren Verdacht bekråftigen.
Sie ergriff die nächste Gelegenheit, den Geliebten wegen seines
Verrates zur Rede zu stellen. Der sträubte sich natürlich energisch
gegen das, was er eine unsinnige Zumutung hieß, und es gelang
ihm in der Tat, sie für diesmal von ihrem Wahn abzubringen,
so daß sie einige Zeit — ich glaube einige Wochen — später
vertrauensvoll genug war, den Besuch in seiner Wohnung zu
wiederholen. Das Weitere ist uns aus der ersten Erzählung der
Patientin bekannt.Was wir neu erfahren haben, macht zunächst dem Zweifel
an der krankhaften Natur der Verdächtigung ein Ende. Unschwer
erkennt man, daß die weißhaarige Vorsteherin ein Mutterersatz
ist, daß der geliebte Mann trotz seiner Jugend an die Stelle des
Vaters gerückt wird, und daß es die Macht des Mutterkomplexes
ist, welche die Kranke zwingt, ein Liebesverhältnis zwischen den
beiden ungleichen Partnern, aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotze
anzunehmen. Damit verflüchtigt sich aber auch der anscheinende
Widerspruch gegen die von der psychoanalytischen Lehre genährte
Erwartung, eine überstarke homosexuelle Bindung werde sich
als die Bedingung zur Entwicklung eines Verfolgungswahnes
herausstellen. Der ursprüngliche Verfolger, die Instanz, deren
Einfluß man sich entziehen will, ist auch in diesem Falle nichtS.
204 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre
der Mann, sondern das Weib. Die Vorsteherin weiß von den
Liebesbeziehungen des Mädchens, miBbilligt sie und gibt ihr
diese Verurteilung durch geheimnisvolle Andeutungen zu erkennen.
Die Bindung an das gleiche Geschlecht widersetzt sich den
Bemühungen, ein Mitglied des anderen Geschlechts zum Liebes-
objekt zu gewinnen. Die Liebe zur Mutter wird zur Wort
fithrerin all der Strebungen, welche in der Rolle eines „Gewissens“
das Mädchen bei dem ersten Schritt auf dem neuen, in vielen
Hinsichten gefährlichen Weg zur normalen Sexualbefriedigung
zuriickhalten wollen, und sie erreicht es auch, die Beziehung
zum Manne zu stéren.Wenn die Mutter die Sexualbetåtigung der Tochter hemmt
oder aufhält, so erfüllt sie eine normale Funktion, welche durch
Kindheitsbeziehungen vorgezeichnet ist, starke, unbewuBte Moti-
vierungen besitzt und die Sanktion der Gesellschaft gefunden hat.
Sache der Tochter ist es, sich von diesem Einfluß abzulösen und
sich auf Grund breiter, rationeller Motivierung für ein Maß von
Gestattung oder Versagung des Sexualgenusses zu entscheiden.
Verfällt sie bei dem Versuch dieser Befreiung in neurotische
Erkrankung, so liegt ein in der Regel überstarker, sicherlich aber
unbeherrschter Mutterkomplex vor, dessen Konflikt mit der neuen
libidinésen Strömung je nach der verwendbaren Disposition in
der Form dieser oder jener Neurose erledigt wird. In allen Fällen
werden die Erscheinungen der neurotischen Reaktion nicht
durch die gegenwärtige Beziehung zur aktuellen Mutter, sondern
durch die infantilen Beziehungen zum urzeitlichen Mutterbild
bestimmt werden.Von unserer Patientin wissen wir, daB sie seit langen Jahren
vaterlos war, wir diirfen auch annehmen, daB sie nicht bis zum
Alter von dreißig Jahren frei vom Manne geblieben ware, wenn
ihr nicht eine starke Gefühlsbindung an die Mutter eine Stütze
geboten hätte. Diese Stütze wird ihr zur lästigen Fessel, da ihre
Libido auf den Anruf einer eindringlichen Werbung zum ManneS.
Mitteilung eines Falles von Paranoia 295
zu streben beginnt. Sie sucht sie abzustreifen, sich ihrer homo-
sexuellen Bindung zu entledigen. Ihre Disposition — von der
hier nicht die Rede zu sein braucht — gestattet, daß dies in
der Form der paranoischen Wahnbildung vor sich gehe. Die
Mutter wird also zur feindseligen, mißgünstigen Beobachterin
und Verfolgerin. Sie könnte als solche überwunden werden, wenn
nicht der Mutterkomplex die Macht behielte, die in seiner.
Absicht liegende Fernhaltung vom Manne durchzusetzen. Am
Ende dieser ersten Phase des Konflikts hat sie sich also der
Mutter entfremdet und dem Manne nicht angeschlossen. Beide
konspirieren ja gegen sie. Da gelingt es der kräftigen Bemühung
des Mannes, sie entscheidend an sich zu ziehen. Sie überwindet
den Einspruch der Mutter und ist bereit, dem Geliebten eine
neue Zusammenkunft zu gewähren. Die Mutter kommt in den
weiteren Geschehnissen nicht mehr vor; wir dürfen aber daran
festhalten, daß in dieser Phase der geliebte Mann nicht direkt
zum Verfolger geworden war, sondern auf dem Wege über die
Mutter und kraft seiner Beziehung zur Mutter, welcher in der
ersten Wahnbildung die Hauptrolle zugefallen war.Man sollte nun glauben, der Widerstand sei endgültig über-
wunden und das bisher an die Mutter gebundene Mädchen habe
es erreicht, einen Mann zu lieben. Aber nach dem zweiten
Beisammensein erfolgt eine neue Wahnbildung, welche es durch
geschickte Benützung einiger Zufälligkeiten durchsetzt, diese Liebe
zu verderben, und somit die Absicht des Mutterkomplexes erfolg-
reich fortführt. Es erscheint uns noch immer befremdlich, daß
das Weib sich der Liebe zum Manne mit Hilfe eines paranoischen
Wahnes erwehren sollte. Ehe wir aber dieses Verhältnis näher
beleuchten, wollen wir den Zufälligkeiten einen Blick schenken,
auf welche sich die zweite Wahnbildung, die allein gegen den
Mann gerichtete, stützt.Halb entkleidet auf dem Divan neben dem Geliebten liegend
hört sie ein Geräusch wie ein Ticken, Klopfen, Pochen, dessenS.
296 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre
Ursache sie nicht kennt, das sie aber später deutet, nachdem sie
auf der Treppe des Hauses zwei Männern begegnet ist, von denen
einer etwas wie ein verdecktes Kästchen trägt. Sie gewinnt die
Überzeugung, daß sie im Auftrage des Geliebten während des
intimen Beisammenseins belauscht und photographiert wurde. Es
liegt uns natürlich fern zu denken, wenn dies ungliickselige
Geräusch sich nicht ereignet hätte, wire auch die Wahnbildung
nicht zustandegekommen. Wir erkennen vielmehr hinter dieser
Zufalligkeit etwas Notwendiges, was sich ebenso zwanghaft durch-
setzen mußte wie die Annahme eines Liebesverhiltnisses zwischen
dem geliebten Manne und der alten, zum Mutterersatz erkorenen
Vorsteherin. Die Beobachtung des Liebesverkehres der Eltern ist
ein selten vermiBtes Stück aus dem Schatze unbewuBter Phantasien,
die man bei allen Neurotikern, wahrscheinlich bei allen Menschen-
kindern, durch die Analyse auffinden kann. Ich heiße diese
Phantasiebildungen, die der Beobachtung des elterlichen Geschlechts-
verkehres, die der Verführung, der Kastration und andere,
Urphantasien und werde an anderer Stelle deren Herkunft
sowie ihr Verhältnis zum individuellen Erleben eingehend unter-
suchen. Das zufällige Geräusch spielt also nur die Rolle einer
Provokation, welche die typische, im Elternkomplex enthaltene
Phantasie von der Belauschung aktiviert. Ja, es ist fraglich, ob
wir es als ein „zufälliges“ bezeichnen sollen. Wie O. Rank mir
bemerkt hat, ist es vielmehr ein notwendiges Requisit der
Belauschungsphantasie und wiederholt entweder das Geräusch,
durch welches sich der Verkehr der Eltern verrät, oder auch das,
wodurch sich das lauschende Kind zu verraten fiirchtet. Nun
erkennen wir aber mit einem Male, auf welchem Boden wir
uns befinden. Der Geliebte ist noch immer der Vater, an Stelle
der Mutter ist sie selbst getreten. Die Belauschung muB dann
einer fremden Person zugeteilt werden. Es wird uns ersichtlich,
auf welche Weise sie sich von der homosexuellen Abhängigkeit
von der Mutter freigemacht hat. Durch ein Stiickchen Regression;S.
Mitteilung eines Falles von Paranoia 297
anstatt die Mutter zum Liebesobjekt zu nehmen, hat sie sich
mit ihr identifiziert, ist sie selbst zur Mutter geworden. Die
Möglichkeit dieser Regression weist auf den narziBtischen Ursprung
ihrer homosexuellen Objektwahl und somit auf die bei ihr
vorhandene Disposition zur paranoischen Erkrankung hin. Man
kónnte einen Gedankengang entwerfen, der zu demselben Ergebnis
fithrt wie diese Identifizierung: Wenn die Mutter das tut, darf
ich es auch; ich habe dasselbe Recht wie die Mutter.Man kann in der Aufhebung der Zufälligkeiten einen Schritt
weiter gehen, ohne zu fordern, daB ihn der Leser mitmache,
denn das Unterbleiben einer tieferen analytischen Untersuchung
macht es in unserem Falle unmöglich, hier über eine gewisse
Wahrscheinlichkeit hinauszukommen, Die Kranke hatte in unserer
ersten Besprechung angegeben, daß sie sich sofort nach der
Ursache des Geräusches erkundigt und die Auskunft erhalten habe,
wahrscheinlich habe die auf dem Schreibtisch befindliche kleine
Standuhr getickt. Ich nehme mir die Freiheit, diese Mitteilung
als eine Erinnerungståuschung aufzulösen. Es ist mir viel glaub-
hafter, daß sie zunächst jede Reaktion auf das Geräusch unter-
lassen, und daB ihr dies erst nach dem Zusammentreffen mit den
beiden Männern auf der Treppe bedeutungsvoll erschienen ist.
Den Erklårungsversuch aus dem Ticken der Uhr wird der Mann,
der das Geräusch vielleicht überhaupt nicht gehört hatte, später
einmal gewagt haben, als ihn der Argwohn des Mädchens
bestürmte. „Ich weiß nicht, was du da gehört haben kannst;
vielleicht hat gerade die Standuhr getickt, wie sie es manchmal
tut.“ Solche Nachträglichkeit in der Verwertung von Eindrücken
und solche Verschiebung in der Erinnerung sind gerade bei der
Paranoia häufig und für sie charakteristisch. Da ich aber den
Mann nie gesprochen habe und die Analyse des Mädchens nicht
fortsetzen konnte, bleibt meine Annahme unbeweisbar.Ich könnte es wagen, in der Zersetzung der angeblich realen
„Zufälligkeit“ noch weiter zu gehen. Ich glaube überhaupt nicht,S.
298 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre
daß die Standuhr getickt hat, oder daß ein Geräusch zu hören
war. Die Situation, in der sie sich befand, rechtfertigte eine
Empfindung von Pochen oder Klopfen an der Klitoris. Dies war
es dann, was sie nachträglich als Wahrnehmung von einem
äußeren Objekt hinausprojizierte. Ganz Ähnliches ist im Traume
möglich. Eine meiner hysterischen Patientinnen berichtete ein-
mal einen kurzen Wecktraum, zu dem sich kein Material von
Einfällen ergeben wollte. Der Traum hieß: Es klopft, und sie
wachte auf. Es hatte niemand an die Tiir geklopft, aber sie war
in den Nåchten vorher durch die peinlichen Sensationen von
Pollutionen geweckt worden und hatte nun ein Interesse daran,
zu erwachen, sobald sich die ersten Zeichen der Genitalerregung
einstellten. Es hatte an der Klitoris geklopft. Den nämlichen
Projektionsvorgang möchte ich bei unserer Paranoika an die
Stelle des zufilligen Geråusches setzen. Ich werde selbstverståndlich
nicht dafür einstehen, daß mir die Kranke bei einer flüchtigen
Bekanntschaft unter allen Anzeichen eines ihr unliebsamen
Zwanges einen aufrichtigen Bericht iiber die Vorgånge bei den
beiden zårtlichen Zusammenkiinften gegeben, aber die vereinzelte
Klitoriskontraktion stimmt wohl zu ihrer Behauptung, daB eine
Vereinigung der Genitalien dabei nicht stattgefunden habe. An
der resultierenden Ablehnung des Mannes hat sicherlich neben
dem „Gewissen“ auch die Unbefriedigung ihren Anteil.Wir kehren nun zu der auffålligen Tatsache zuriick, daB sich
die Kranke der Liebe zum Manne mit Hilfe einer paranoischen
Wahnbildung erwehrt. Den Schlüssel zum Verständnis gibt die
Entwicklungsgeschichte dieses Wahnes. Dieser richtete sich
ursprünglich, wie wir erwarten durften, gegen das Weib, aber
nun wurde auf dem Boden der Paranoia der Fort-
schritt vom Weibe zum Manne als Objekt voll-
zogen. Ein solcher Fortschritt ist bei der Paranoia nicht
gewöhnlich; wir finden in der Regel, daB der Verfolgte an den-
selben Personen, also auch an demselben Geschlecht, fixiert bleibt,S.
Mitteilung eines Falles von Paranoia 299
dem seine Liebeswahl vor der paranoischen Umwandlung galt.
Aber er wird durch die neurotische Affektion nicht ausgeschlossen ;
unsere Beobachtung diirfte fiir viele andere vorbildlich sein. Es
gibt außerhalb der Paranoia ‘viele ähnliche Vorgänge, welche
bisher nicht unter diesem Gesichtspunkte zusammengefaBt worden
sind, darunter sehr allgemein bekannte. So wird z. B. der soge-
nannte Neurastheniker durch seine unbewuDte Bindung an
inzestuüse Liebesobjekte davon abgehalten, ein fremdes Weib
zum Objekt zu nehmen, und in seiner Sexualbetåtigung auf die
Phantasie eingeschränkt. Auf dem Boden der Phantasie bringt er
aber den ihm versagten Fortschritt zustande und kann Mutter
und Schwester durch fremde Objekte ersetzen. Da bei diesen der
Einspruch der Zensur entfällt, wird ihm die Wahl dieser Ersatz-
personen in seinen Phantasien bewußt.Die Phänomene des versuchten Fortschrittes, von dem neuen
meist regressiv erworbenen Boden her, stellen sich den Bemühungen
zur Seite; welche bei manchen Neurosen unternommen werden,
um eine bereits innegehabte, aber verlorene Position der Libido
wieder zu gewinnen. Die beiden Reihen von Erscheinungen sind
begrifflich kaum voneinander zu trennen. Wir neigen allzusehr
zu der Auffassung, daß der Konflikt, welcher der Neurose zu-
grunde liegt, mit der Symptombildung abgeschlossen sei. In
Wirklichkeit geht der Kampf vielfach auch nach der Symptom-
bildung weiter. Auf beiden Seiten tauchen neue Triebanteile auf,
welche ihn fortführen. Das Symptom selbst wird zum Objekt
dieses Kampfes; Strebungen, die es behaupten wollen, messen
sich mit anderen, die seine Aufhebung und die Herstellung des
früheren Zustandes durchzusetzen bemüht sind. Häufig werden
Wege gesucht, um das Symptom zu entwerten, indem man das
Verlorene und durch das Symptom Versagte von anderen Zugängen
her zu gewinnen trachtet. Diese Verhältnisse werfen ein klärendes
Licht auf eine Aufstellung von C. G. Jung, demzufolge eine
eigentümliche psychische Trägheit, die sich der Veränderung undS.
300 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre
dem Fortschritt widersetzt, die Grundbedingung der Neurose ist.
Diese Trágheit ist in der Tat sehr eigentümlich; sie ist keine
allgemeine, sondern eine höchst spezialisierte, sie ist auch auf
ihrem Gebiete nicht Alleinherrscherin, sondern kåmpft mit Fort-
schritts- und Wiederherstellungstendenzen, die sich selbst nach
der Symptombildung der Neurose nicht beruhigen. Spürt man
dem Ausgangspunkte dieser speziellen Trågheit nach, so enthüllt
sie sich als die Äußerung von sehr frühzeitig erfolgten, sehr
schwer låsbaren Verkniipfungen von Trieben mit Eindriicken und
den in ihnen gegebenen Objekten, durch welche die Weiter-
entwicklung dieser Triebanteile zum Stillstand gebracht wurde.
Oder, um es anders zu sagen, diese spezialisierte „psychische
Trägheit“ ist nur ein anderer, kaum ein besserer, Ausdruck für
das, was wir in der Psychoanalyse eine Fixierung zu nennen
gewohnt sind.
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