Neurose und Psychose 1924-001/1926
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    [Metadaten zu den Personen, die zur Generierung dieses Textes beigetragen haben:

    Christine Diercks: Konzept für die Edition und die Datenbank, Richtlinien, Quellenforschung, Signaturen

    Julian Roedelius: technische Umsetzung der Datenbank

    Arkadi Blatow: Quellenforschung, Digitalisierung der Datenquellen, Bildbearbeitung, Faksimile-Ausgabe, Bibliografie

    Christine Diercks: Diplomatische Umschrift, Lektorat]

     

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    NEUROSE UND PSYCHOSE

    Zuerst erschienen in der „Internationalen
    Zeitschrift für Psychoanalyse“, X. Band,
    1924.

    In meiner kürzlich erschienenen Schrift „Das Ich und
    das Es“ habe ich eine Gliederung des seelischen Apparates
    angegeben, auf deren Grund sich eine Reihe von Bezie-
    hungen in einfacher und übersichtlicher Weise darstellen
    läßt. In anderen Punkten, zum Beispiel was die Herkunft
    und Rolle des Über-Ichs betrifft, bleibt genug des
    Dunkeln
    und Unerledigten. Man darf nun fordern, daß eine solche
    Aufstellung sich auch für andere Dinge als brauchbar und
    förderlich erweise, wäre es auch nur, um bereits Bekanntes
    in neuer Auffassung zu sehen, es anders zu gruppieren und
    überzeugender zu beschreiben. Mit solcher Anwendung könnte
    auch eine vorteilhafte Rückkehr von der grauen Theorie zur
    ewig grünenden Erfahrung verbunden sein.

    Am genannten Orte sind die vielfältigen Abhängigkeiten
    des Ichs geschildert, seine Mittelstellung zwischen Außen-
    welt und Es und sein Bestreben, all seinen Herren gleich-
    zeitig zu Willen zu sein. Im Zusammenhange eines von
    anderer Seite angeregten Gedankenganges, der sich mit der
    Entstehung und Verhütung der Psychosen beschäftigte, ergab

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    sich mir nun eine einfache Formel, welche die vielleicht
    wichtigste genetische Differenz zwischen Neurose und Psy-
    chose behandelt: die Neurose sei der Erfolg eines
    Konflikts zwischen dem Ich und seinem Es,
    die Psychose aber der analoge Ausgang einer
    solchen Störung in den Beziehungen zwischen
    Ich und Außenwelt.

    Es ist sicherlich eine berechtigte Mahnung, daß man
    gegen so einfache Problemlösungen mißtrauisch sein soll.
    Auch wird unsere äußerste Erwartung nicht weiter gehen,
    als daß diese Formel sich im Gröbsten als richtig erweise.
    Aber auch das wäre schon etwas. Man besinnt sich auch
    sofort an eine ganze Reihe von Einsichten und Funden,
    welche unseren Satz zu bekräftigen scheinen. Die Über-
    tragungsneurosen entstehen nach dem Ergebnis aller unserer
    Analysen dadurch, daß das Ich eine im Es mächtige Trieb-
    regung nicht aufnehmen und nicht zur motorischen Erledigung
    befördern will, oder ihr das Objekt bestreitet, auf das sie zielt.
    Das Ich erwehrt sich ihrer dann durch den Mechanismus
    der Verdrängung; das Verdrängte sträubt sich gegen dieses
    Schicksal, schafft sich auf Wegen, über die das Ich keine
    Macht hat, eine Ersatzvertretung, die sich dem Ich auf dem
    Wege des Kompromisses aufdrängt, das Symptom; das Ich
    findet seine Einheitlichkeit durch diesen Eindringling bedroht
    und geschädigt, setzt den Kampf gegen das Symptom fort,
    wie es sich gegen die ursprüngliche Triebregung gewehrt
    hatte, und dies alles ergibt das Bild der Neurose. Es ist
    kein Einwand, daß das Ich, wenn es die Verdrängung vor-
    nimmt, im Grunde den Geboten seines Über-Ichs folgt, die
    wiederum solchen Einflüssen der realen Außenwelt ent-

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    stammen, welche im Über-Ich ihre Vertretung gefunden
    haben. Es bleibt doch dabei, daß das Ich sich auf die Seite
    dieser Mächte geschlagen hat, daß in ihm deren Anforde-
    rungen stärker sind als die Triebansprüche des Es, und daß
    das Ich die Macht ist, welche die Verdrängung gegen jenen
    Anteil des Es ins Werk setzt und durch die Gegenbesetzung
    des Widerstandes befestigt. Im Dienste des Über-Ichs und
    der Realität ist das Ich in Konflikt mit dem Es geraten und
    dies ist der Sachverhalt bei allen Übertragungsneurosen.

    Auf der anderen Seite wird es uns ebenso leicht, aus
    unserer bisherigen Einsicht in den Mechanismus der Psy-
    chosen Beispiele anzuführen, welche auf die Störung des
    Verhältnisses zwischen Ich und Außenwelt hinweisen. Bei
    der Amentia Meynerts, der akuten halluzinatorischen Ver-
    worrenheit, der vielleicht extremsten und frappantesten Form
    von Psychose, wird die Außenwelt entweder gar nicht wahr-
    genommen oder ihre Wahrnehmung bleibt völlig unwirksam
    Normalerweise beherrscht ja die Außenwelt das Ich auf zwei
    Wegen: erstens durch die immer von neuem mög-
    lichen aktuellen Wahrnehmungen, zweitens durch den
    Erinnerungsschatz früherer Wahrnehmungen, die als „Innen-
    welt“ einen Besitz und Bestandteil des Ichs bilden. In der
    Amentia wird nun nicht nur die Annahme neuer Wahr-
    nehmungen verweigert, es wird auch der Innenwelt, welche
    die Außenwelt als ihr Abbild bisher vertrat, die Bedeutung
    (Besetzung) entzogen; das Ich schafft sich selbstherrlich
    eine neue Außen- und Innenwelt und es ist kein Zweifel an
    zwei Tatsachen, daß diese neue Welt im Sinne der Wunsch-
    regungen des Es aufgebaut ist, und daß eine schwere, uner-
    träglich erscheinende Wunschversagung der Realität das

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    Motiv dieses Zerfalles mit der Außenwelt ist. Die innere
    Verwandtschaft dieser Psychose mit dem normalen Traum
    ist nicht zu verkennen. Die Bedingung des Träumens ist aber
    der Schlafzustand, zu dessen Charakteren die volle Abwen-
    dung von Wahrnehmung und Außenwelt gehört.

    Von anderen Formen von Psychose, den Schizophrenien,
    weiß man, daß sie zum Ausgang in affektiven Stumpfsinn,
    das heißt zum Verlust alles Anteiles an der Außenwelt ten-
    dieren. Über die Genese der Wahnbildungen haben uns
    einige Analysen gelehrt, daß der Wahn wie ein aufgesetzter
    Fleck dort gefunden wird, wo ursprünglich ein Einriß in
    der Beziehung des Ichs zur Außenwelt entstanden war. Wenn
    die Bedingung des Konflikts mit der Außenwelt nicht noch
    weit auffälliger ist, als wir sie jetzt erkennen, so hat dies
    seinen Grund in der Tatsache, daß im Krankheitsbild der
    Psychose die Erscheinungen des pathogenen Vorganges oft
    von denen eines Heilungs- oder Rekonstruktionsversuches
    überdeckt werden.

    Die gemeinsame Ätiologie für den Ausbruch einer Psycho-
    neurose oder Psychose bleibt immer die Versagung, die
    Nichterfüllung eines jener ewig unbezwungenen Kindheits-
    wünsche, die so tief in unserer phylogenetisch bestimmten
    Organisation wurzeln. Diese Versagung ist im letzten Grunde
    immer eine äußere; im einzelnen Fall kann sie von jener
    inneren Instanz (im Über-Ich) ausgehen, welche die Ver-
    tretung der Realitätsforderung übernommen hat. Der patho-
    gene Effekt hängt nun davon ab, ob das Ich in solcher
    Konfliktspannung seiner Abhängigkeit von der Außenwelt
    treu bleibt und das Es zu knebeln versucht, oder ob es
    sich vom Es überwältigen und damit von der Realität los-

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    reißen läßt. Eine Komplikation wird in diese anscheinend
    einfache Lage aber durch die Existenz des Über-Ichs ein-
    getragen, welches in noch nicht durchschauter Verknüpfung
    Einflüsse aus dem Es wie aus der Außenwelt in sich ver-
    einigt, gewissermaßen ein Idealvorbild für das ist, worauf
    alles Streben des Ichs abzielt, die Versöhnung seiner mehr-
    fachen Abhängigkeiten. Das Verhalten des Über-Ichs wäre,
    was bisher nicht geschehen ist, bei allen Formen psychischer
    Erkrankung in Betracht zu ziehen. Wir können aber vor-
    läufig postulieren, es muß auch Affektionen geben, denen
    ein Konflikt zwischen Ich und Über-Ich zugrunde liegt. Die
    Analyse gibt uns ein Recht anzunehmen, daß die Melancholie
    ein Muster dieser Gruppe ist, und dann würden wir für

    solche Störungen den Namen „narzißtische Psychoneurosen“
    in Anspruch nehmen. Es stimmt ja nicht übel zu unseren
    Eindrücken, wenn wir Motive finden, Zustände wie die
    Melancholie von den anderen Psychosen zu sondern. Dann
    merken wir aber, daß wir unsere einfache genetische Formel
    vervollständigen konnten, ohne sie fallen zu lassen. Die
    Übertragungsneurose entspricht dem Konflikt zwischen Ich
    und Es, die narzißtische Neurose dem zwischen Ich und
    Über-Ich, die Psychose dem zwischen Ich und Außenwelt.
    Wir wissen freilich zunächst nicht zu sagen, ob wir wirklich
    neue Einsichten gewonnen oder nur unseren Formelschatz
    bereichert haben, aber ich meine, diese Anwendungsmöglichkeit
    muß uns doch Mut machen, die vorgeschlagene Gliederung
    des seelischen Apparates in Ich, Über-Ich und Es weiter im
    Auge zu behalten.

    Die Behauptung, daß Neurosen und Psychosen durch die
    Konflikte des Ichs mit seinen verschiedenen herrschenden

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    Instanzen entstehen, also einem Fehlschlagen in der Funktion
    des Ichs entsprechen, das doch das Bemühen zeigt, all die
    verschiedenen Ansprüche miteinander zu versöhnen, fordert
    eine andere Erörterung zu ihrer Ergänzung heraus. Man
    möchte wissen, unter welchen Umständen und durch welche
    Mittel es dem Ich gelingt, aus solchen gewiß immer vor-
    handenen Konflikten ohne Erkrankung zu entkommen. Dies
    ist nun ein neues Forschungsgebiet, auf dem sich gewiß
    die verschiedensten Faktoren zur Berücksichtigung einfinden
    werden. Zwei Momente lassen sich aber sofort herausheben.

    Der Ausgang aller solchen Situationen wird unzweifelhaft
    von ökonomischen Verhältnissen, von den relativen Größen
    der miteinander ringenden Strebungen abhängen. Und
    ferner: es wird dem Ich möglich sein, den Bruch nach

    irgendeiner Seite dadurch zu vermeiden, daß es sich selbst
    deformiert, sich Einbußen an seiner Einheitlichkeit gefallen
    läßt, eventuell sogar sich zerklüftet oder zerteilt. Damit
    rückten die Inkonsequenzen, Verschrobenheiten und Narr-
    heiten der Menschen in ein ähnliches Licht wie ihre
    sexuellen Perversionen, durch deren Annahme sie sich ja
    Verdrängungen ersparen.

    Zum Schlusse ist der Frage zu gedenken, welches der
    einer Verdrängung analoge Mechanismus sein mag, durch
    den das Ich sich von der Außenwelt ablöst. Ich meine, dies
    ist ohne neue Untersuchungen nicht zu beantworten, aber
    er müßte, wie die Verdrängung, eine Abziehung der vom

    Ich ausgeschickten Besetzung zum Inhalt haben.