Professor S. Hammerschlag [Nachruf] 1904-051/1904
S.

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Wien, Freitag Neue Freie Presse. 11. November 1904 Nr. 14446

[Professor S. Hammerschlag.] Ueber den
heute unter großer Teilnahme beerdigten emeritierten Religions-
lehrer der Wiener israelitischen Gymnasialjugend, Professor
S. Hammerschlag, schreibt uns ein ehemaliger Schüler,
Professor Siegmund Freud: „S. Hammerschlag, der vor
etwa 30 Jahren seine Tätigkeit als israelitischer Religions-
lehrer eingestellt hatte, gehörte zu den Persönlichkeiten, denen
es möglich war, unverwischbare Eindrücke in der Entwicklung
seiner Schüler zu hinterlassen. In seiner Seele glühte ein
starker Funken von dem Geiste der großen jüdischen Wahr-
heitsbekenner und Propheten, der nicht eher erlosch, als bis
hohes Alter seine Kräfte schwächte. Aber die Leidenschaftlichkeit
seines Wesens war glücklich gemildert durch das ihn beherr-
schende Humanitätsideal unserer deutschen klassischen Periode,
und seine Bildung ruhte auf dem Grunde philologischer und
altklassischer Studien, denen er seine eigene Jugend gewidmet
hatte. Der Religionsunterricht diente ihm als ein Weg der
Erziehung zur Humanität, und aus dem Material der jüdi-
schen Geschichte wußte er die Mittel zu finden, um die im 
Herzen der Jugend sich bergenden Quellen der Begeisterung
anzuschlagen und sie weit hinaus über nationale oder dogma-
tische Beschränktheit sprudeln zu lassen. Wer von seinen
Schülern ihn dann in seiner Häuslichkeit aufsuchen durfte,
der erwarb einen väterlich fürsorglichen Freund an ihm und
konnte inne werden, daß eine verständige Zärtlichkeit der
Grundzug seines Wesens war. Den Empfindungen einer durch
Jahrzehnte ungeschwächten Dankbarkeit gegen den verehrten
Lehrer hat an seiner Bahre der Historiker Dr. Fried-
jung
würdigsten Ausdruck gegeben.“