Psychoanalyse 1923-022/1926
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    Psychoanalyse ist der Name 1. eines Verfahrens zur
    Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum
    zugänglich sind; 2. einer Behandlungsmethode neuroti-
    scher Störungen, die sich auf diese Untersuchung
    gründet; 3. einer Reihe von psychologischen, auf sol-
    chem Wege gewonnenen Einsichten, die allmählich zu
    einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammen-
    wachsen.

    1. Geschichte. Man versteht die Psychoanalyse
    immer noch am besten, wenn man ihre Entstehung und
    Entwicklung verfolgt. In den Jahren 1880 und 1881 be-
    schäftigte sich Dr. Josef Breuer in Wien, bekannt als
    Internist und Experimentalphysiologe, mit der Behand-
    lung eines während der Pflege ihres kranken Vaters
    an schwerer Hysterie erkrankten Mädchens, dessen
    Zustandsbild aus motorischen Lähmungen, Hemmungen
    und Bewußtseinsstörungen zusammengesetzt war. Einem
    Wink der sehr intelligenten Patientin folgend, versetzte
    er sie in Hypnose und erreichte so, daß sie durch Mit-
    teilung der sie beherrschenden Stimmungen und Ge-
    danken jedesmal wieder in normale seelische Verfas-
    sung geriet. Durch konsequente Wiederholung des-
    selben mühseligen Verfahrens gelang es ihm, sie von
    allen ihren Hemmungen und Lähmungen zu befreien, so
    daß er am Ende seine Mühe durch einen großen thera-
    peutischen Erfolg wie durch unerwartete Einsichten in
    das Wesen der rätselhaften Neurose belohnt fand. Doch
    hielt sich Breuer von der weiteren Verfolgung seines
    Fundes ferne und veröffentlichte nichts darüber etwa
    ein Jahrzehnt lang, bis es dem persönlichen Einfluß des
    Referenten (Freud, der 1886 aus der Schule Charcots
    nach Wien zurückgekehrt war) gelang, ihn zur Wieder-
    aufnahme des Gegenstandes und zur gemeinsamen
    Arbeit an demselben zu bewegen. Die beiden, Breuer
    und Freud, veröffentlichten dann 1893 eine vorläufige
    Mitteilung „Über den psychischen Mechanismus hyste-
    rischer Phänomene“ und 1895 ein Buch „Studien über
    Hysterie“ (1922 in vierter Auflage abgedruckt), in dem
    sie ihr Heilverfahren als das „kathartische“ be-
    zeichneten.

    Die Katharsis. Aus den Untersuchungen, die
    den Studien von Breuer und Freud zugrunde lagen, er-
    gaben sich vor allem zwei Resultate, die auch durch
    die spätere Erfahrung nicht erschüttert wurden, erstens:
    daß die hysterischen Symptome Sinn und Bedeutung
    haben, indem sie Ersatz sind für normale seelische
    Akte; und zweitens: daß die Aufdeckung dieses un-
    bekannten Sinnes mit der Aufhebung der Symptome
    zusammenfällt, daß also hierbei wissenschaftliche For-
    schung und therapeutische Bemühung sich decken. Die
    Beobachtungen waren an einer Reihe von Kranken ge-
    macht, die so behandelt wurden wie Breuers erste
    Patientin, also in tiefe Hypnose versetzt, und die
    Erfolge erschienen glänzend, bis sich später deren
    schwache Seite herausstellte. Die theoretischen Vor-
    stellungen, welche Breuer und Freud sich damals
    machten, waren von Charcots Lehren über die trauma-
    tische Hysterie beeinflußt und konnten sich an die Er-
    mittlungen seines Schülers P. Janet anlehnen, die zwar
    früher veröffentlicht worden waren als die „Studien“,
    aber doch zeitlich hinter Breuers erstem Fall zurück-
    standen. Von allem Anfang an war in ihnen das
    affektive Moment in den Vordergrund gerückt; die
    hysterischen Symptome sollten dadurch entstehen, daß
    ein mit starkem Affekt geladener seelischer Vorgang
    irgendwie verhindert wurde, sich auf dem normalen
    bis zum Bewußtsein und zur Motilität führenden Wege
    abzugleichen (Abreagieren), worauf dann der ge-
    wissermaßen „eingeklemmte“ Affekt auf falsche
    Wege geriet und einen Abfluß in die Körperinnervation
    fand (Konversion). Die Gelegenheiten, bei denen
    solche pathogene Vorstellungen entstanden, wurden
    von Breuer und Freud als „psychische Trau-
    men
    “ bezeichnet, und da sie oftmals längst vergange-
    nen Zeiten angehörten, konnten die Autoren sagen, die
    Hysterischen litten großenteils an (unerledigten) Re-
    miniszenzen.

    Die „Katharsis“ erfolgte dann unter der Be-
    handlung durch Eröffnung des Weges zum Bewußtsein
    und normale Entladung des Affekts. Die Annahme un-
    bewußter
    seelischer Vorgänge war, wie man sieht,
    ein unerläßliches Stück dieser Theorie. Auch Janet
    hatte mit unbewußten Akten im Seelenleben gearbeitet,
    aber wie er in späteren Polemiken gegen die Psycho-
    analyse betonte, war dies für ihn nur ein Hilfsausdruck,
    „une façon de parler“, mit dem er keine neue Einsicht
    andeuten wollte.

    In einem theoretischen Abschnitt der Studien teilte
    Breuer einige spekulative Gedanken über die Er-
    regungsvorgänge im Seelischen mit, welche richtung-
    gebend für die Zukunft geblieben sind und noch heute
    nicht ihre volle Würdigung gefunden haben. Damit
    hatten seine Beiträge zu diesem Wissensgebiet ein
    Ende, er zog sich bald nachher von der gemeinsamen
    Arbeit zurück.

    Der Übergang zur Psychoanalyse.
    Schon in den „Studien“ hatten sich Gegensätze in den
    Auffassungen der beiden Autoren angezeigt. Breuer
    nahm an, daß die pathogenen Vorstellungen darum
    traumatische Wirkung äußern, weil sie in „hypnoi-
    den Zuständen
    “ entstanden sind, in denen die
    seelische Leistung besonderen Einschränkungen unter-
    liegt. Referent lehnte diese Erklärung ab und glaubte
    zu erkennen, daß eine Vorstellung dann pathogen wird,
    wenn ihr Inhalt den herrschenden Tendenzen des
    Seelenlebens widerstrebt, so daß sie die „Abwehr
    des Individuums hervorruft (Janet hatte den Hysteri-

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    schen eine konstitutionelle Unfähigkeit zum Zusammen-
    halten ihrer psychischen Inhalte zugeschrieben; an
    dieser Stelle schieden sich die Wege Breuers und
    Freuds von seinem). Auch die beiden Neuerungen, mit
    denen Ref. bald darauf den Boden der Katharsis ver-
    ließ, hatten bereits in den „Studien“ Erwähnung ge-
    funden. Sie wurden nun nach Breuers Rücktritt der
    Ausgang weiterer Entwicklungen.

    Verzicht auf die Hypnose. Die eine dieser
    Neuerungen fußte auf einer praktischen Erfahrung und
    führte zu einer Änderung der Technik, die andere be-
    stand in einem Fortschritt in der klinischen Erkenntnis
    der Neurose. Es zeigte sich bald, daß die therapeuti-
    schen Hoffnungen, die man auf die kathartische Be-
    handlung in der Hypnose gesetzt hatte, in gewissem
    Sinne unerfüllt blieben. Das Verschwinden der Sym-
    ptome ging zwar der Katharsis parallel, aber der Ge-
    samterfolg zeigte sich doch durchaus abhängig von der
    Beziehung des Patienten zum Arzt, benahm sich also
    wie ein Erfolg der „Suggestion“, und wenn diese Be-
    ziehung zerstört wurde, traten alle Symptome wieder
    auf, als ob sie niemals eine Lösung gefunden hätten.
    Dazu kam noch, daß die geringe Anzahl der Personen,
    welche sich in tiefe Hypnose versetzen ließen, eine
    ärztlich sehr bedeutsame Einschränkung in der Anwen-
    dung des kathartischen Verfahrens mit sich brachte.
    Aus diesen Gründen entschloß sich Ref., die Hypnose
    aufzugeben. Gleichzeitig aber entnahm er seinen Ein-
    drücken von der Hypnose die Mittel, sie zu ersetzen.

    Die freie Assoziation. Der hypnotische Zu-
    stand hatte beim Patienten eine solche Erweiterung
    der Assoziationsfähigkeit zur Folge gehabt, daß er so-
    fort den für sein bewußtes Nachdenken unzugänglichen
    Weg vom Symptom zu den mit ihm verknüpften Ge-
    danken und Erinnerungen zu finden wußte. Der Weg-
    fall der Hypnose schien eine hilflose Situation zu
    schaffen, aber Ref. erinnerte sich an Bernheims Nach-
    weis, daß das im Somnambulismus Erlebte nur schein-
    bar vergessen war und jederzeit durch die dringende
    Versicherung des Arztes, daß man es wisse, der Er-
    innerung zugeführt werden konnte. Er versuchte es
    also, auch seine nicht hypnotisierten Patienten zur
    Mitteilung von Assoziationen zu drängen, um durch
    solches Material den Weg zum Vergessenen oder Ab-
    gewehrten zu finden. Später merkte er, daß es eines
    solchen Drängens nicht bedürfe, daß beim Patienten
    fast immer reichliche Einfälle auftauchten, diese aber
    durch bestimmte Einwendungen, die er sich selbst
    machte, von der Mitteilung, ja vom Bewußtwerden
    selbst, abgehalten wurden. In der derzeit noch un-
    bewiesenen, später durch reichhaltige Erfahrung be-
    stätigten Erwartung, daß alles, was dem Patienten zu
    einem gewissen Ausgangspunkt einfiele, auch in inne-
    rem Zusammenhang mit diesem stehen müsse, ergab
    sich daraus die Technik, den Patienten zum Verzicht
    auf alle seine kritischen Einstellungen zu erziehen und
    das dann zutage geförderte Material von Einfällen zur
    Aufdeckung der gesuchten Zusammenhänge zu ver-
    werten. Ein starkes Zutrauen zur Strenge der Deter-
    minierung im Seelischen war sicherlich an der Wen-
    dung zu dieser Technik, welche die Hypnose ersetzen
    sollte, beteiligt.

    Die technische Grundregel. Dies Ver-
    fahren der „freien Assoziation“, ist seither in der psy-
    choanalytischen Arbeit festgehalten worden. Man leitet
    die Behandlung ein, indem man den Patienten auf-
    fordert, sich in die Lage eines aufmerksamen und
    leidenschaftslosen Selbstbeobachters zu versetzen,
    immer nur die Oberfläche seines Bewußtseins abzu-
    lesen und einerseits sich die vollste Aufrichtigkeit zur
    Pflicht zu machen, anderseits keinen Einfall von der
    Mitteilung auszuschließen, auch wenn man 1. ihn allzu
    unangenehm empfinden sollte, oder wenn man 2. ur-
    teilen müßte, er sei unsinnig, 3. allzu unwichtig, 4. er
    gehöre nicht zu dem, was man suche. Es zeigt sich
    regelmäßig, daß gerade Einfälle, welche die letzt-
    erwähnten Ausstellungen hervorrufen, für die Auffin-
    dung des Vergessenen von besonderem Werte sind.

    II. Die Psychoanalyse als Deutungs-
    kunst
    . Die neue Technik änderte den Eindruck der
    Behandlung so sehr ab, brachte den Arzt in so neue
    Beziehungen zum Kranken und lieferte soviel über-
    raschende Ergebnisse, daß es berechtigt schien, das
    Verfahren durch einen Namen von der kathartischen
    Methode zu scheiden Ref. wählte für die Behandlungs-
    weise, die nun auf viele andere Formen neurotischer
    Störung ausgedehnt werden konnte, den Namen Psy-
    choanaIyse
    . Diese Psychoanalyse war nun in
    erster Linie eine Kunst der Deutung und stellte sich die
    Aufgabe, die erste der großen Entdeckungen Breuers,
    daß die neurotischen Symptome ein sinnvoller Ersatz
    für andere, unterbliebene, seelische Akte seien, zu ver-
    tiefen. Es kam jetzt darauf an, das Material, welches
    die Einfälle der Patienten lieferten, so aufzufassen, als
    ob es auf einen verborgenen Sinn hindeutete, diesen
    Sinn aus ihm zu erraten. Die Erfahrung zeigte bald,
    daß der analysierende Arzt sich dabei am zweck-
    mäßigsten verhalte, wenn er sich selbst bei gleich-
    schwebender Aufmerksamkeit
    seiner eige-
    nen unbewußten Geistestätigkeit überlasse, Nachdenken
    und Bildung bewußter Erwartungen möglichst ver-
    meide, nichts von dem Gehörten sich besonders im Ge-
    dächtnis fixieren wolle, und solcher Art das Unbewußte
    des Patienten mit seinem eigenen Unbewußten auf-
    fange. Dann merkte man, wenn die Verhältnisse nicht
    allzu ungünstig waren, daß die Einfälle des Patienten
    sich gewissermaßen wie Anspielungen an ein be-
    stimmtes Thema herantasteten, und brauchte selbst
    nur einen Schritt weiter zu wagen, um das ihm selbst
    Verborgene zu erraten und ihm mitteilen zu können.
    Gewiß war diese Deutungsarbeit nicht streng in Regeln
    zu fassen und ließ dem Takt und der Geschicklichkeit
    des Arztes einen großen Spielraum, allein, wenn man
    Unparteilichkeit mit Übung verband, gelangte man in
    der Regel zu verläßlichen Resultaten, d. h. zu solchen,
    die sich durch Wiederholung in ähnlichen Fällen be-
    stätigten. Zur Zeit, da über das Unbewußte, die Struk-
    tur der Neurosen und die pathologischen Vorgänge
    hinter denselben noch so wenig bekannt war, mußte
    man zufrieden sein, sich einer solchen Technik be-
    dienen zu können, auch wenn sie theoretisch nicht
    besser fundiert war. Man übt sie übrigens auch in der
    heutigen Analyse in gleicher Weise, nur mit dem Ge-
    fühl größerer Sicherheit und besserem Verständnis für
    ihre Schranken.

    Die Deutung der Fehlleistungen und
    Zufallshandlungen
    . Es war ein Triumph für
    die Deutungskunst der Psychoanalyse, als ihr der Nach-
    weis gelang, daß gewisse häufige seelische Akte der
    normalen Menschen, für die man bisher eine psycho-
    logische Erklärung überhaupt nicht in Anspruch ge-
    nommen hatten, so zu verstehen seien wie die Sym-
    ptome der Neurotiker, d. h. daß sie einen Sinn haben,
    welcher der Person nicht bekannt ist und durch analy-
    tische Bemühung leicht gefunden werden kann. Die
    betreffenden Phänomene, das zeitweilige Vergessen von
    sonst wohlbekannten Worten und Namen, das Ver-
    gessen von Vorsätzen, das so häufige Versprechen,

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    Verlesen, Verschreiben, Verlieren, Verlegen von Gegen-
    ständen, manche Irrtümer, Akte von anscheinend zu-
    fälliger Selbstbeschädigung, endlich Bewegungen, die
    man gewohnheitsmäßig, wie unabsichtlich und spielend
    ausführt, Melodien, die man „gedankenlos“ summt
    u. dgl. m. — all dies wurde der physiologischen Erklä-
    rung, wo eine solche überhaupt versucht worden war,
    entzogen, als psychisch streng determiniert aufgezeigt
    und als Äußerung von unterdrückten Absichten der
    Person oder als Folge von Interferenz zweier Ab-
    sichten, von denen die eine dauernd oder derzeit un-
    bewußt war, erkannt. Der Wert dieses Beitrages zur
    Psychologie war ein mehrfacher. Der Umfang der see-
    lischen Determinierung wurde dadurch in ungeahnter
    Weise erweitert, die angenommene Kluft zwischen
    normalem und krankhaftem seelischen Geschehen ver-
    ringert, in vielen Fällen ergab sich ein bequemer Ein-
    blick in das Spiel seelischer Kräfte, das man hinter
    den Phänomenen vermuten mußte. Endlich gewann
    man so ein Material, welches wie kein anderes ge-
    eignet ist, den Glauben an die Existenz unbewußter
    seelischer Akte auch bei solchen zu erwecken, denen
    die Annahme eines unbewußten Psychischen fremd-
    artig, ja sogar absurd erscheint. Das Studium der
    eigenen Fehlleistungen und Zufallshandlungen, wozu
    sich den meisten reichlich Gelegenheit bietet, ist noch
    heute die beste Vorbereitung für ein Eindringen in die
    Psychoanalyse. In der analytischen Behandlung be-
    hauptet die Deutung der Fehlleistungen einen Platz als
    Mittel zur Aufdeckung des Unbewußten neben der un-
    gleich wichtigeren Deutung der Einfälle.

    Die Deutung der Träume. Ein neuer Zugang
    zu den Tiefen des Seelenlebens eröffnete sich, als man
    die Technik der freien Assoziation auf die Träume,
    eigene oder die analytischer Patienten, anwendete. In
    der Tat rührt das Meiste und Beste, was wir von den
    Vorgängen in den unbewußten Seelenschichten wissen,
    aus der Deutung der Träume her. Die Psychoanalyse
    hat dem Traum die Bedeutung wiedergegeben, die ihm
    in alten Zeiten einst allgemein zuerkannt war, aber sie
    verfährt anders mit ihm. Sie verläßt sich nicht auf den
    Witz des Traumdeuters, sondern überträgt die Aufgabe
    zum größten Teil dem Träumer selbst, indem sie ihn
    nach seinen Assoziationen zu den einzelnen Elementen
    des Traumes befragt. Durch die weitere Verfolgung
    dieser Assoziationen kommt man zur Kenntnis von Ge-
    danken, welche den Traum vollkommen decken, sich
    aber — bis auf einen Punkt — als vollwertige, durch-
    aus verständliche Stücke der wachen Seelentätigkeit
    erkennen lassen. Es stellt sich so der erinnerte Traum
    als manifester Trauminhalt den durch Deu-
    tung gefundenen latenten Traumgedanken
    gegenüber. Der Vorgang, welcher die letzteren in den
    ersteren, eben den „Traum“, umgesetzt hat und der
    durch die Deutungsarbeit rückgängig gemacht wird,
    darf Traumarbeit genannt werden.

    Die latenten Traumgedanken heißen wir wegen ihrer
    Beziehung zum Wachleben auch Tagesreste. Sie
    werden durch die Traumarbeit, der man durchaus mit
    Unrecht „schöpferischen“ Charakter zuschreiben würde,
    in merkwürdiger Weise verdichtet, durch die
    Verschiebung psychischer Intensitäten ent-
    stellt
    , zur Darstellung ein visuellen Bil-
    dern
    hergerichtet, und unterliegen überdies, ehe es
    zur Gestaltung des manifesten Traumes kommt, einer
    sekundären Bearbeitung, welche dem neuen
    Gebilde etwas wie Sinn und Zusammenhang geben
    möchte. Dieser letzte Vorgang gehört eigentlich nicht
    mehr der Traumarbeit an.

    Dynamische Theorie der Traumbil-
    dung
    . Es hat nicht zuviel Schwierigkeiten gemacht,
    die Dynamik der Traumbildung zu durchschauen. Die
    Triebkraft zur Traumbildung wird nicht von den
    latenten Traumgedanken oder Tagesresten beigestellt,
    sondern von einer unbewußten, bei Tag verdrängten
    Strebung, mit der sich die Tagesreste in Verbindung
    setzen konnten, und die sich aus dem Material der
    latenten Gedanken eine Wunscherfüllung zu-
    rechtmacht. Somit ist jeder Traum einerseits eine
    Wunscherfüllung des Unbewußten, anderseits, insofern
    es ihm gelingt, den Schlafzustand vor Störung zu be-
    wahren, eine Erfüllung des normalen Schlafwunsches,
    der den Schlaf eingeleitet hat. Sieht man vom un-
    bewußten Beitrag zur Traumbildung ab und reduziert
    den Traum auf seine latenten Gedanken, so kann er
    alles vertreten, was das Wachleben beschäftigt hat,
    eine Überlegung, Warnung, einen Vorsatz, eine Vor-
    bereitung auf die nächste Zukunft oder ebenfalls die
    Befriedigung eines unerfüllten Wunsches. Die Unkennt-
    lichkeit, Fremdartigkeit, Absurdität des manifesten
    Traumes ist zu einem Teil die Folge der Überführung
    der Traumgedanken in eine andere als archaisch
    zu bezeichnende Ausdrucksweise, zum anderen Teil
    aber die Wirkung einer einschränkenden, kritisch ab-
    lehnenden Instanz, welche auch während des Schlafes
    nicht ganz aufgehoben ist. Es liegt nahe, anzunehmen,
    daß die „Traumzensur“, welche wir in erster
    Linie für die Entstellung der Traumgedanken zum
    manifesten Traum verantwortlich machen, eine Äuße-
    rung derselben seelischen Kräfte ist, welche tagsüber
    die unbewußte Wunschregung hintangehalten, ver-
    drängt
    , hatte.

    Es verlohnte sich, auf die Aufklärung der Träume
    näher einzugehen, denn die analytische Arbeit hat ge-
    zeigt, daß die Dynamik der Traumbildung dieselbe ist
    wie die der Symptombildung. Hier wie dort erkennen
    wir einen Widerstreit zweier Tendenzen, einer unbe-
    wußten, sonst verdrängten, die nach Befriedigung —
    Wunscherfüllung — strebt, und einer wahrscheinlich
    dem bewußten Ich angehörigen, ablehnenden und ver-
    drängenden, und als Ergebnis dieses Konflikts eine
    Kompromißbildung — den Traum, das Symptom —, in
    welcher beide Tendenzen einen unvollkommenen Aus-
    druck gefunden haben. Die theoretische Bedeutung
    dieser Übereinstimmung ist einleuchtend. Da der Traum
    kein pathologisches Phänomen ist, wird durch sie der
    Nachweis erbracht, daß die seelischen Mechanismen,
    welche die Krankheitssymptome erzeugen, auch schon
    im normalen Seelenleben vorhanden sind, daß die näm-
    liche Gesetzmäßigkeit Normales und Abnormales umfaßt,
    und daß die Ergebnisse der Forschung an Neurotikern
    oder Geisteskranken nicht bedeutungslos für das Ver-
    ständnis der gesunden Psyche sein können.

    Die Symbolik. Beim Studium der durch die
    Traumarbeit geschaffenen Ausdrucksweise stieß man
    auf die überraschende Tatsache, daß gewisse Gegen-
    stände, Verrichtungen und Beziehungen im Traum ge-
    wissermaßen indirekt durch „Symbole“ dargestellt wer-
    den, die der Träumer gebraucht, ohne ihre Bedeutung
    zu kennen, und zu denen auch gewöhnlich seine Asso-
    ziation nichts liefert. Ihre Übersetzung muß vom Ana-
    lytiker gegeben werden, der sie selbst nur empirisch,
    durch versuchsweises Einsetzen in den Zusammenhang
    finden kann. Es ergab sich später, daß Sprachgebrauch,
    Mythologie und Folklore die reichlichsten Analogien zu
    den Traumsymbolen enthalten. Die Symbole, an
    welche sich die interessantesten, noch ungelösten Pro-
    bleme knüpfen, scheinen ein Stück uralten seelischen

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    Erbgutes zu sein. Die Symbolgemeinschaft reicht über
    die Sprachgemeinschaft hinaus.

    III. Die ätiologische Bedeutung des
    Sexuallebens
    . Die zweite Neuheit, welche sich
    ergab, nachdem man die hypnotische Technik durch
    die freie Assoziation ersetzt hatte, war klinischer Natur
    und wurde bei der fortgesetzten Suche nach den trau-
    matischen Erlebnissen gefunden, von denen sich die
    hysterischen Symptome abzuleiten schienen. Je sorg-
    fältiger man diese Verfolgung betrieb, desto reichhal-
    tiger enthüllte sich die Verkettung solcher ätiologisch
    bedeutsamer Eindrücke, aber desto weiter griffen sie
    auch in die Pubertät oder Kindheit des Neurotikers zu-
    rück. Gleichzeitig nahmen sie einen einheitlichen Cha-
    rakter an, und endlich mußte man sich vor der Evidenz
    beugen und anerkennen, daß an der Wurzel aller Sym-
    ptombildung traumatische Eindrücke aus dem Sexual-
    leben der Frühzeit zu finden seien. Das sexuelle
    Trauma trat so an die Stelle des banalen Traumas und
    das letztere verdankte seine ätiologische Bedeutung
    der assoziativen oder symbolischen Beziehung zum
    ersteren, das vorangegangen war. Da die gleichzeitig
    vorgenommene Untersuchung von Fällen gemeiner, als
    Neurasthenie und Angstneuroseklassifizier-
    ter Nervosität den Aufschluß erbrachte, daß sich diese
    Störungen auf aktuelle Mißbräuche im Sexualleben
    zurückführen und durch Abstellung derselben beseitigen
    lassen, lag die Folgerung nahe, die Neurosen seien über-
    haupt der Ausdruck von Störungen im Sexualleben, die
    sog. Aktualneurosen der (chemisch vermittelte) Aus-
    druck von gegenwärtigen, die Psychoneurosen
    der (psychisch verarbeitete) Ausdruck von längstver-
    gangenen Schädigungen dieser biologisch so wichtigen,
    von der Wissenschaft bislang arg vernachlässigten
    Funktion. Keine der Aufstellungen der Psychoanalyse
    hat so hartnäckigen Unglauben und so erbitterten
    Widerstand gefunden, wie diese von der überragenden
    ätiologischen Bedeutung des Sexuallebens für die
    Neurosen. Es sei aber ausdrücklich bemerkt, daß auch
    die Psychoanalyse in ihrer Entwicklung bis auf den
    heutigen Tag keinen Anlaß gefunden hat, von dieser Be-
    hauptung zurückzutreten.

    Die infantile Sexualität. Durch ihre ätio-
    logische Forschung geriet die Psychoanalyse in die
    Lage, sich mit einem Thema zu beschäftigen, dessen
    Existenz vor ihr kaum vermutet worden war. Man
    hatte sich in der Wissenschaft daran gewöhnt, das
    Sexualleben mit der Pubertät beginnen zu lassen, und
    Äußerungen kindlicher Sexualität als seltene Anzeichen
    von abnormer Frühreife und Degeneration beurteilt.
    Nun enthüllte die Psychoanalyse eine Fülle von ebenso
    merkwürdigen als regelmäßigen Phänomenen, durch die
    man gezwungen wurde, den Beginn der Sexualfunktion
    beim Kinde fast mit dem Anfang des extrauterinen
    Lebens zusammenfallen zu lassen, und man fragte sich
    erstaunt, wie es möglich gewesen war, dies alles zu
    übersehen. Die ersten Einsichten in die kindliche Sexua-
    lität waren zwar durch analytische Erforschung Er-
    wachsener gewonnen und demnach mit all den Zweifeln
    und Fehlerquellen behaftet, die man einer so späten
    Rückschau zutrauen konnte, aber als man später (von
    1908 an) begann, Kinder selbst zu analysieren und un-
    befangen zu beobachten, gewann man für allen tatsäch-
    lichen Inhalt der neuen Auffassung die direkte Be-
    stätigung.

    Die kindliche Sexualität zeigte in manchen Stücken
    ein anderes Bild als die der Erwachsenen und über-
    raschte durch zahlreiche Züge von dem, was bei Er-
    wachsenen als „Perversion“ verurteilt wurde. Man
    mußte den Begriff des Sexuellen erweitern, bis er mehr
    umfaßte als das Streben nach der Vereinigung der bei-
    den Geschlechter im Sexualakt oder nach der Hervor-
    rufung bestimmter Lustempfindungen an den Genitalien.
    Aber diese Erweiterung belohnte sich dadurch, daß es
    möglich wurde, kindliches, normales und perverses
    Sexualleben aus einem Zusammenhange zu begreifen.

    Die analytische Forschung des Ref. verfiel zunächst
    in den Irrtum, die Verführung als Quelle der kind-
    lichen Sexualäußerungen und Keim der neurotischen
    Symptombildung weit zu überschätzen. Die Überwin-
    dung dieser Täuschung gelang, als sich die außerordent-
    lich große Rolle der Phantasietätigkeit im
    Seelenleben der Neurotiker erkennen ließ, die für die
    Neurose offenbar maßgebender war als die äußere
    Realität. Hinter diesen Phantasien kam dann das Mate-
    rial zum Vorschein, welches folgende Schilderung von
    der Entwicklung der Sexualfunktion zu geben gestattet.

    Die Entwicklung der Libido. Der Sexual-
    trieb, dessen dynamische Äußerung im Seelenleben
    Libido“ genannt sei, ist aus Partialtrieben zusam-
    mengesetzt, in die er auch wieder zerfallen kann, und
    die sich erst allmählich zu bestimmten Organisationen
    vereinigen. Quelle dieser Partialtriebe sind die Körper-
    organe, besonders gewisse ausgezeichnete erogene
    Zonen
    , aber Beiträge zur Libido werden auch von
    allen wichtigen funktionellen Vorgängen im Körper ge-
    liefert. Die einzelnen Partialtriebe streben zunächst un-
    abhängig voneinander nach Befriedigung, werden aber
    im Laufe der Entwicklung immer mehr zusammen-
    gefaßt, zentriert. Als erste (prägenitale) Organisations-
    stufe läßt sich die orale erkennen, in welcher ent-
    sprechend dem Hauptinteresse des Säuglings die
    Mundzone die Hauptrolle spielt. Ihr folgt die sa-
    distisch-anale
    Organisation, in welcher der
    Partialtrieb des Sadismus und die Afterzone
    sich besonders hervortun; der Geschlechtsunterschied
    wird hier durch den Gegensatz von aktiv und passiv
    vertreten. Die dritte und endgültige Organisationsstufe
    ist die Zusammenfassung der meisten Partialtriebe unter
    dem Primat der Genitalzonen. Sie hat einen
    Vorläufer in der phallischen Genitalorganisation,
    welche schon in der Kindheit erreicht wird und sich da-
    durch auszeichnet, daß sie nur ein Genitale, das männ-
    liche, kennt. Diese Entwicklung wird in der Regel rasch
    und unauffällig durchlaufen, doch bleiben einzelne An-
    teile der Triebe auf den Vorstufen des Endausganges
    stehen und ergeben so die Fixierungen der Libido,
    welche als Dispositionen für spätere Durchbrüche ver-
    drängter Strebungen wichtig sind und zur Entwicklung
    von späteren Neurosen und Perversionen in bestimmter
    Beziehung stehen. (S. „Libidotheorie“.)

    Die Objektfindung und der Ödipus-
    komplex
    . Der orale Partialtrieb findet zuerst seine
    Befriedigung in Anlehnung an die Sättigung des
    Nahrungsbedürfnisses und sein Objekt in der Mutter-
    brust. Er löst sich dann ab, wird selbständig und gleich-
    zeitig autoerotisch, d. h. er findet sein Objekt am
    eigenen Körper. Auch andere Partialtriebe benehmen
    sich zuerst autoerotisch und werden erst später auf ein
    fremdes Objekt gelenkt. Von besonderer Bedeutung ist
    es, daß die Partialtriebe der Genitalzone regelmäßig
    eine Periode intensiver autoerotischer Befriedigung
    durchmachen. Für die endgültige Genitalorganisation
    der Libido sind nicht alle Partialtriebe gleich verwend-
    bar, einige von ihnen (z. B. die analen) werden darum
    beiseite gelassen, unterdrückt oder unterliegen kompli-
    zierten Umwandlungen.

  • S.

    614

    Schon in den ersten Kinderjahren (etwa von 2 bis
    5 Jahren) stellt sich eine Zusammenfassung der Sexual-
    bestrebungen her, deren Objekt beim Knaben die Mutter
    ist. Diese Objektwahl nebst der dazugehörigen Einstel-
    lung von Rivalität und Feindseligkeit gegen den Vater
    ist der Inhalt des sog. Ödipuskomplexes, dem
    bei allen Menschen die größte Bedeutung für die End-
    gestaltung des Liebeslebens zukommt. Man hat es als
    charakteristisch für den Normalen hingestellt, daß er
    den Ödipuskomplex bewältigen lernt, während der
    Neurotiker an ihm haften bleibt.

    Der zweizeitige Ansatz der Sexual-
    entwicklung
    . Diese Frühperiode des Sexuallebens
    findet gegen das fünfte Jahr hin normalerweise ein Ende
    und wird von einer Zeit mehr oder minder vollkom-
    mener Latenz abgelöst, während welcher die ethi-
    schen Einschränkungen als Schutzbildungen gegen die
    Wunschregungen des Ödipuskomplexes aufgebaut wer-
    den. In der darauffolgenden Zeit der Pubertät er-
    fährt der Ödipuskomplex eine Neubelebung im Un-
    bewußten und geht seinen weiteren Umbildungen ent-
    gegen. Erst die Pubertätszeit entwickelt die Sexual-
    triebe zu ihrer vollen Intensität; die Richtung dieser
    Entwicklung und alle daran haftenden Dispositionen
    sind aber bereits durch die vorher abgelaufene infantile
    Frühblüte der Sexualität bestimmt. Diese zweizeitige,
    durch die Latenzzeit unterbrochene Entwicklung der
    Sexualfunktion scheint eine biologische Besonderheit
    der menschlichen Art zu sein und die Bedingung für die
    Entstehung der Neurosen zu enthalten.

    IV. Die Verdrängungslehre. Der Zusam-
    menhalt dieser theoretischen Erkenntnisse mit den un-
    mittelbaren Eindrücken der analytischen Arbeit führt
    zu einer Auffassung der Neurosen, die in ihren rohesten
    Umrissen etwa so lautet: Die Neurosen sind der Aus-
    druck von Konflikten zwischen dem Ich und solchen
    Sexualstrebungen, die dem Ich als unverträglich mit
    seiner Integrität oder seinen ethischen Ansprüchen er-
    scheinen. Das Ich hat diese nicht ichgerechten
    Strebungen verdrängt, d. h. ihnen sein Interesse
    entzogen und sie vom Bewußtwerden wie von der
    motorischen Abfuhr zur Befriedigung abgesperrt. Wenn
    man in der analytischen Arbeit versucht, diese ver-
    drängten Regungen bewußt zu machen, bekommt man
    die verdrängenden Kräfte als Widerstand zu
    spüren. Aber die Leistung der Verdrängung versagt an
    den Sexualtrieben besonders leicht. Deren aufgestaute
    Libido schafft sich vom Unbewußten her andere Aus-
    wege, indem sie auf frühere Entwicklungsphasen und
    Objekteinstellungen regrediert und dort, wo sich
    infantile Fixierungen vorfinden, an den schwachen
    Stellen der Libidoentwicklung zum Bewußtsein und zur
    Abfuhr durchbricht. Was so entsteht, ist ein Sym-
    ptom
    und demnach im Grunde eine sexuelle Ersatz-
    befriediung, aber auch das Symptom kann sich dem
    Einfluß der verdrängenden Kräfte des Ichs noch nicht
    ganz entziehen, so daß es sich Abänderungen und Ver-
    schiebungen gefallen lassen muß — ganz ähnlich wie
    der Traum —, durch welche sein Charakter als Sexual-
    befriedigung unkenntlich wird. Das Symptom erhält so
    den Charakter einer Kompromißbildung zwi-
    schen den verdrängten Sexualtrieben und den verdrän-
    genden Ichtrieben, einer gleichzeitigen aber beiderseits
    unvollkommenen Wunscherfüllung für beide Partner
    des Konflikts. Dies gilt in voller Strenge für die Sym-
    ptome der Hysterie, während an den Symptomen der
    Zwangsneurose häufig der Anteil der verdrängenden
    Instanz durch Herstellung von Reaktionsbildungen
    (Sicherungen gegen die Sexualbefriedigung) zu stärke-
    rem Ausdruck kommt.

    Die Übertragung. Wenn es noch eines wei-
    teren Beweises für den Satz bedürfte, daß die Trieb-
    kräfte der neurotischen Symptombildung sexueller Natur
    sind, so würde er in der Tatsache gefunden werden,
    daß sich regelmäßig während der analytischen Behand-
    lung eine besondere Gefühlsbeziehung des Patienten
    zum Arzt herstellt, welche weit über das rationelle Maß
    hinausgeht, von der zärtlichsten Hingebung bis zur
    hartnäckigsten Feindseligkeit variiert, und alle ihre
    Eigentümlichkeiten früheren, unbewußt gewordenen
    Liebeseinstellungen des Patienten entlehnt. Diese
    Übertragung, welche sowohl in ihrer positiven
    wie in ihrer negativen Form in den Dienst des Wider-
    standes
    tritt, wird in den Händen des Arztes zum
    mächtigsten Hilfsmittel der Behandlung und spielt in der
    Dynamik des Heilungsvorganges eine kaum zu über-
    schätzende Rolle.

    Die Grundpfeiler der psychoanalyti-
    schen Theorie
    . Die Annahme unbewußter seeli-
    scher Vorgänge, die Anerkennung der Lehre vom Wider-
    stand und der Verdrängung, die Einschätzung der
    Sexualität und des Ödipuskomplexes sind die Haupt-
    inhalte der Psychoanalyse und die Grundlagen ihrer
    Theorie, und wer sie nicht alle gutzuheißen vermag,
    sollte sich nicht zu den Psychoanalytikern zählen.

    V. Weitere Schicksale der Psycho-
    analyse
    . Etwa so weit, als im Vorstehenden ange-
    deutet, war die Psychoanalyse durch die Arbeit des
    Referenten vorgeschritten, der sie durch länger als ein
    Jahrzehnt allein vertrat. Im Jahre 1906 begannen die
    Schweizer Psychiater E. Bleuler und C. G. Jung leb-
    haften Anteil an der Analyse zu nehmen, 1907 fand in
    Salzburg eine erste Zusammenkunft ihrer Anhänger
    statt, und bald sah sich die junge Wissenschaft im
    Mittelpunkt des Interesses der Psychiater wie der
    Laien. Die Art der Aufnahme in dem autoritätssüchtigen
    Deutschland war gerade nicht rühmlich für die deutsche
    Wissenschaft und forderte selbst einen so kühlen Partei-
    gänger wie E. Bleuler zu einer energischen Abwehr
    heraus. Doch vermochten alle offiziellen Verurteilungen
    und Erledigungen auf Kongressen das innere Wachstum
    und die äußere Ausbreitung der Psychoanalyse nicht
    aufzuhalten, welche nun im Laufe der nächsten zehn
    Jahre weit über die Grenzen Europas vordrang und be-
    sonders in den Vereinigten Staaten Amerikas populär
    wurde, nicht zum mindesten dank der Förderung oder
    Mitarbeiterschaft von J. Putnam (Boston), Ernest Jones
    (Toronto, später London), Flournoy (Genf), Ferenczi
    (Budapest), Abraham (Berlin) und vieler anderer. Das
    über die Psychoanalyse verhängte Anathem veranlaßte
    ihre Anhänger sich zu einer internationalen Organi-
    sation zusammenzuschließen, welche im Jahre 1924
    ihren achten Privatkongreß in Salzburg abhielt und
    gegenwärtig die Ortsgruppen: Wien, Budapest, Berlin,
    Holland, Zürich, London, New York, Kalkutta und Mos-
    kau umfaßt. Auch der Weltkrieg unterbrach diese Ent-
    wicklung nicht. 1918/19 wurde von Dr. Anton v. Freund
    (Budapest) der Internationale psychoanaly-
    tische Verlag
    gegründet, der die der Psycho-
    analyse dienenden Zeitschriften und Bücher publiziert,
    1920 wurde von Dr. M. Eitingon die erste „Psycho-
    analytische Poliklinik“ zur Behandlung mittelloser Ner-
    vöser in Berlin eröffnet. Übersetzungen der Haupt-
    werke des Referenten ins französische, italienische und
    spanische, die eben jetzt vorbereitet werden, bezeugen
    das Erwachen des Interesses für die Psychoanalyse
    auch in der romanischen Welt. In den Jahren 1911 bis

  • S.

    615

    1913 zweigten von der Psychoanalyse zwei Richtungen
    ab, welche offenbar bestrebt waren, die Anstößigkeiten
    derselben zu mildern. Die eine, von C. G. Jung ein-
    geschlagene, suchte ethischen Ansprüchen gerecht zu
    werden, entkleidete den Ödipuskomplex seiner realen
    Bedeutung durch symbolisierende Umwertung und ver-
    nachlässigte in der Praxis die Aufdeckung der verges-
    senen, „prähistorisch“ zu nennenden Kindheitsperiode.
    Die andere, die Alf. Adler in Wien zum Urheber hat,
    brachte manche Momente der Psychoanalyse unter an-
    derem Namen wieder, z. B. die Verdrängung in sexuali-
    sierter Auffassung als „männlichen Protest“, sah aber
    sonst vom Unbewußten und von den Sexualtrieben ab
    und versuchte, Charakter- wie Neurosenentwicklung
    auf den Willen zur Macht zurückzuführen, der die aus
    Organminderwertigkeiten drohenden Gefahren durch
    Überkompensation hintanzuhalten strebt. Beide system-
    artig ausgebauten Richtungen haben die Entwicklung
    der Psychoanalyse nicht nachhaltig beeinflußt; von der
    Adlerschen ist bald klar geworden, daß sie mit der
    Psychoanalyse, die sie ersetzen wollte, zu wenig ge-
    mein hat.

    Neuere Fortschritte der Psychoana-
    lyse
    . Seitdem die Psychoanalyse Arbeitsgebiet einer
    so großen Zahl von Beobachtern geworden ist, hat sie
    Bereicherungen und Vertiefungen gewonnen, denen in
    diesem Aufsatz leider nur die knappste Erwähnung zu-
    teil werden kann.

    Der Narzismus. Ihr wichtigster theoretischer
    Fortschritt war wohl die Anwendung der Libidolehre
    auf das verdrängende Ich. Man kam dazu, sich das Ich
    selbst als ein Reservoir von — „narzistisch“ ge-
    nannter — Libido vorzustellen, aus welchem die Libido-
    besetzungen der Objekte erfließen und in welches diese
    wieder eingezogen werden können. Mit Hilfe dieser
    Vorstellung wurde es möglich, an die Analyse des Ichs
    heranzutreten und die klinische Scheidung der Psycho-
    neurosen in Übertragungsneurosen und nar-
    zistische
    Affektionen vorzunehmen. Bei den ersteren
    (Hysterie und Zwangsneurose) ist ein nach Übertra-
    gung auf fremde Objekte strebendes Maß von Libido
    verfügbar, welches zur Durchführung der analytischen
    Behandlung in Anspruch genommen wird; die narzisti-
    schen Störungen (Dementia praecox, Paranoia, Melan-
    cholie) sind im Gegenteil durch die Abziehung der
    Libido von den Objekten charakterisiert und darum der
    analytischen Therapie kaum zugänglich. Diese thera-
    peutische Unzulänglichkeit hat aber die Analyse nicht
    behindert, die reichhaltigsten Ansätze zum tieferen Ver-
    ständnis solcher den Psychosen zugerechneten Leiden
    zu machen.

    Wendung der Technik. Nachdem die Aus-
    bildung der Deutungstechnik sozusagen die Wißbegierde
    des Analytikers befriedigt hatte, mußte sich das Inter-
    esse dem Problem zuwenden, auf welchen Wegen die
    zweckdienlichste Beeinflussung des Patienten zu er-
    reichen sei. Es ergab sich bald als die nächste Auf-
    gabe des Arztes, dem Patienten zur Kenntnis und
    später zur Überwindung der Widerstände zu ver-
    helfen, die während der Behandlung bei ihm auftreten
    und die ihm anfänglich selbst nicht bewußt sind. Auch
    erkannte man gleichzeitig, daß das wesentliche Stück
    der HeiIungsarbeit in der Überwindung dieser Wider-
    stände besteht, und daß ohne diese Leistung eine dauer-
    hafte seelische Veränderung des Patienten nicht erzielt
    werden kann. Seitdem sich die Arbeit des Analytikers
    so auf den Widerstand des Kranken einstellt, hat die
    analytische Technik eine Bestimmtheit und Feinheit ge-
    wonnen, die mit der chirurgischen Technik wetteifert.
    Es ist also dringend davon abzuraten, daß man ohne
    strenge Schulung psychoanalytische Behandlungen
    unternimmt, und der Arzt, der solches im Vertrauen
    auf sein staatlich anerkanntes Diplom wagt, ist um
    nichts besser als ein Laie.

    VI. Die Psychoanalyse als therapeu-
    tische Methode
    . Die Psychoanalyse hat sich nie
    für eine Panacee ausgegeben oder beansprucht, Wun-
    der zu tun. Auf einem der schwierigsten Gebiete ärzt-
    licher Tätigkeit ist sie für einzelne Leiden die einzig
    mögliche, für andere die Methode, welche die besten
    oder dauerhaftesten Resultate liefert, niemals ohne ent-
    sprechenden Aufwand an Zeit und Arbeit. Dem Arzt,
    welcher ganz in der Aufgabe der Hilfeleistung aufgeht,
    lohnt sie die Mühe reichlich durch ungeahnte Einsichten
    in die Verwicklungen des seelischen Lebens und die
    Zusammenhänge zwischen Seelischem und Leiblichem.
    Wo sie gegenwärtig nicht Abhilfe, sondern nur theore-
    tisches Verständnis bieten kann, bahnt sie vielleicht
    den Weg für eine spätere direktere Beeinflussung der
    neurotischen Störungen. Ihr Arbeitsgebiet sind vor
    allem die beiden Übertragungsneurosen, Hysterie und
    Zwangsneurose, bei denen sie zur Aufdeckung der
    inneren Struktur und der wirksamen Mechanismen so-
    viel beigetragen hat, außerdem aber alle Arten von
    Phobien, Hemmungen, Charakterverbildungen, sexuelle
    Perversionen und Schwierigkeiten des Liebeslebens.
    Nach Angaben einiger Analytiker ist auch die analy-
    tische Behandlung grober Organerkrankungen nicht
    aussichtslos (Jelliffe, Groddeck), da nicht selten ein
    psychischer Faktor an der Entstehung und Erhaltung
    dieser Affektionen mitbeteiligt ist. Da die Psychoana-
    lyse ein Maß von psychischer Plastizität bei ihren
    Patienten in Anspruch nimmt, muß sie sich bei deren
    Auswahl an gewisse Altersgrenzen halten, und da sie
    eine lange und intensive Beschäftigung mit dem ein-
    zelnen Kranken bedingt, wäre es unökonomisch, sol-
    chen Aufwand an völlig wertlose Individuen, die neben-
    bei auch neurotisch sind, zu vergeuden. Welche Modi-
    fikationen erforderlich sind, um das psychoanalytische
    Heilverfahren breiteren Volksschichten zugänglich zu
    machen und schwächeren Intelligenzen anzupassen, muß
    erst die Erfahrung an poliklinischem Material lehren.

    Ihr Vergleich mit hypnotischen und
    suggestiven Methoden
    . Das psychoanaly-
    tische Verfahren unterscheidet sich von allen sug-
    gestiven, persuasiven u. dgl. darin, daß es kein see-
    lisches Phänomen beim Patienten durch Autorität unter-
    drücken will. Es sucht die Verursachung des Phä-
    nomens zu ergründen und es durch dauernde Verände-
    rung seiner Entstehungsbedingungen aufzuheben. Den
    unvermeidlichen suggestiven Einfluß des Arztes lenkt
    man in der Psychoanalyse auf die dem Kranken zu-
    geteilte Aufgabe, seine Widerstände zu überwinden,
    d. h. die Heilungsarbeit zu leisten. Gegen die Gefahr,
    die Erinnerungsangaben des Kranken suggestiv zu ver-
    fälschen, schützt man sich durch vorsichtige Hand-
    habung der Technik. Im allgemeinen ist man aber
    gerade durch die Erweckung der Widerstände gegen
    irreführende Wirkungen des suggestiven Einflusses
    geschützt. Als das Ziel der Behandlung kann hinge-
    stellt werden, durch die Aufhebung der Widerstände
    und Nachprüfung der Verdrängungen des Kranken die
    weitgehendste Vereinheitlichung und Stärkung seines
    Ichs herbeizuführen, ihm den psychischen Aufwand für
    innere Konflikte zu ersparen, das beste aus ihm zu ge-
    stalten, was er nach Anlagen und Fähigkeiten werden
    kann, und ihn so nach Möglichkeit leistungs- und ge-
    nußfähig zu machen. Die Beseitigung der Leidens-

  • S.

    616

    symptome wird nicht als besonderes Ziel angestrebt,
    sondern ergibt sich bei regelrechter Ausführung der
    Analyse gleichsam als Nebengewinn. Der Analytiker
    respektiert die Eigenart des Patienten, sucht ihn nicht
    nach seinen — des Arztes — persönlichen Idealen umzu-
    modeln und freut sich, wenn er sich Ratschläge ersparen
    und dafür die Initiative des Analysierten wecken kann.

    Ihr Verhältnis zur Psychiatrie. Die
    Psychiatrie ist gegenwärtig eine wesentlich deskriptive
    und klassifizierende Wissenschaft, welche immer noch
    mehr somatisch als psychologisch orientiert ist, und der
    es an Erklärungsmöglichkeiten für die beobachteten
    Phänomene fehlt. Die Psychoanalyse steht aber nicht
    im Gegensatz zu ihr, wie man nach dem nahezu ein-
    mütigen Verhalten der Psychiater glauben sollte. Sie
    ist vielmehr als Tiefenpsychologie, Psycho-
    logie der dem Bewußtsein entzogenen Vorgänge im
    Seelenleben, dazu berufen, ihr den unerläßlichen Unter-
    bau zu liefern und ihren heutigen Einschränkungen ab-
    zuhelfen. Die Zukunft wird voraussichtlich eine wissen-
    schaftliche Psychiatrie erschaffen, welcher die Psycho-
    analyse als Einführung gedient hat.

    VII. Kritiken und Mißverständnisse
    der Psychoanalyse
    . Das meiste, was auch in
    wissenschaftlichen Werken gegen die Psychoanalyse
    vorgebracht wird, beruht auf ungenügender Informa-
    tion, die ihrerseits durch affektive Widerstände be-
    gründet scheint. So ist es irrig, der Psychoanalyse
    Pansexualismus“ vorzuwerfen und ihr nach-
    zusagen, daß sie alles seelische Geschehen von der
    Sexualität ableite und auf sie zurückführe. Die Psycho-
    analyse hat vielmehr von allem Anfang an die Sexual-
    triebe von anderen unterschieden, die sie vorläufig
    „Ichtriebe“ genannt hat. Es ist ihr nie eingefallen,
    „Alles“ erklären zu wollen, und selbst die Neurosen
    hat sie nicht aus der Sexualität allein, sondern aus dem
    Konflikt zwischen den sexuellen Strebungen und dem
    Ich abgeleitet. Der Name Libido bedeutet in der
    Psychoanalyse (außer bei C. G. Jung) nicht psychische
    Energie schlechtweg, sondern die Triebkraft der Sexual-
    triebe. Gewisse Behauptungen, wie daß jeder Traum
    eine sexuelle Wunscherfüllung sei, sind überhaupt nie-
    mals aufgestellt worden. Der Vorwurf der Einseitig-
    keit ist gegen die Psychoanalyse, die als Wissen-
    schaft vom seelisch Unbewußten
    ihr be-
    stimmtes und beschränktes Arbeitsgebiet hat, ebenso
    unangebracht, wie wenn man ihn gegen die Chemie er-
    heben würde. Ein böses und nur durch Unkenntnis ge-
    rechtfertigtes Mißverständnis ist es, wenn man meint,
    die Psychoanalyse erwarte die Heilung neurotischer
    Beschwerden vom „freien Ausleben“ der Sexualität.
    Das Bewußtmachen der verdrängten Sexualgelüste in
    der Analyse ermöglicht vielmehr eine Beherrschung
    derselben, die durch die vorgängige Verdrängung nicht
    zu erreichen war. Man kann mit mehr Recht sagen,
    daß die Analyse den Neurotiker von den Fesseln seiner
    Sexualität befreit. Es ist ferner durchaus unwissen-
    schaftlich, die Psychoanalyse danach zu beurteilen, ob
    sie geeignet ist, Religion, Autorität und Sittlichkeit zu
    untergraben, da sie wie alle Wissenschaft durchaus
    tendenzfrei ist und nur die eine Absicht kennt, ein
    Stück der Realität widerspruchsfrei zu erfassen. End-
    lich darf man es gerade als einfältig bezeichnen, wenn
    man auf die Befürchtung stößt, die sogenannten höch-
    sten Güter der Menschheit, Forschung, Kunst, Liebe,
    sittliches und soziales Empfinden, würden ihren Wert
    oder ihre Würde einbüßen, weil die Psychoanalyse in
    der Lage ist, deren Abkunft von elementaren, anima-
    lischen Triebregungen aufzuzeigen.

    VIII. Die nicht medizinischen Anwen-
    dungen und Beziehungen der Psycho-
    analyse
    . Die Würdigung der Psychoanalyse würde
    unvollständig sein, wenn man versäumte mitzuteilen,
    daß sie als die einzige unter den medizinischen Dis-
    ziplinen die breitesten Beziehungen zu den Geistes-
    wissenschaften hat und im Begriffe ist, für Religions-
    und Kulturgeschichte, Mythologie und Literaturwissen-
    schaft eine ähnliche Bedeutung zu gewinnen wie für
    die Psychiatrie. Dies könnte wundernehmen, wenn
    man erwägt, daß sie ursprünglich kein anderes Ziel
    hatte als das Verständnis und die Beeinflussung neuro-
    tischer Symptome. Allein es ist leicht anzugeben, an
    welcher Stelle die Brücke zu den Geisteswissen-
    schaften geschlagen ward. Als die Analyse der Träume
    Einsicht in die unbewußten seelischen Vorgänge gab
    und zeigte, daß die Mechanismen, welche die patholo-
    gischen Symptome schaffen, auch im normalen Seelen-
    leben tätig sind, wurde die Psychoanalyse zur
    Tiefenpsychologie
    und als solche der Anwen-
    dung auf die Geisteswissenschaften fähig, konnte sie eine
    gute Anzahl von Fragen lösen, vor denen die schul-
    gemäße Bewußtseinspsychologie ratlos Halt machen
    mußte. Frühzeitig schon stellten sich die Beziehungen
    zur menschlichen Phylogenese her. Man erkannte,
    wie häufig die pathologische Funktion nichts anderes
    ist als Regression zu einer früheren Entwicklungs-
    stufe der normalen. C. G. Jung wies zuerst nachdrück-
    lich auf die überraschende Übereinstimmung zwischen
    den wüsten Phantasien der Dementia praecox-Kranken
    und den Mythenbildungen primitiver Völker hin; Refe-
    rent machte aufmerksam, daß die beiden Wunsch-
    regungen, welche den Ödipuskomplex zusammen-
    setzen, sich inhaltlich voll mit den beiden Haupt-
    verboten des Totemismus decken (den Totem
    nicht zu töten und kein Weib der eigenen Sippe zu
    ehelichen), und zog daraus weitgehende Schlüsse. Die
    Bedeutung des Ödipuskomplexes begann zu giganti-
    schem Maß zu wachsen, man gewann die Ahnung, daß
    staatliche Ordnung, Sittlichkeit, Recht und Religion in
    der Urzeit der Menschheit miteinander als Reaktions-
    bildung auf den Ödipuskomplex entstanden seien. Otto
    Rank warf helle Lichter auf Mythologie und Literatur-
    geschichte durch Anwendung der psychoanalytischen
    Einsichten, ebenso Th. Reik auf die Geschichte der
    Sitten und Religionen, der Pfarrer O. Pfister (Zürich)
    weckte das Interesse der Seelsorger und Lehrer und
    ließ den Wert psychoanalytischer Gesichtspunkte für
    die Pädagogik verstehen. Weitere Ausführungen über
    diese Anwendungen der Psychoanalyse sind hier nicht
    am Platze; möge die Bemerkung genügen, daß deren
    Ausdehnung noch nicht abzusehen ist.

    Charakter der Psychoanalyse als em-
    pirische Wissenschaft
    . Die Psychoanalyse ist
    kein System wie die philosophischen, das von einigen
    scharf definierten Grundbegriffen ausgeht, mit diesen
    das Weltganze zu erfassen sucht, und dann, einmal
    fertig gemacht, keinen Raum mehr hat für neue Funde
    und bessere Einsichten. Sie haftet vielmehr an den
    Tatsachen ihres Arbeitsgebietes, sucht die nächsten
    Probleme der Beobachtung zu lösen, tastet sich an der
    Erfahrung weiter, ist immer unfertig, immer bereit, ihre
    Lehren zurechtzurücken oder abzuändern. Sie verträgt
    es so gut wie die Physik oder die Chemie, daß ihre
    obersten Begriffe unklar, ihre Voraussetzungen vorläu-
    fige sind, und erwartet eine schärfere Bestimmung der-
    selben von zukünftiger Arbeit.

  • S.

    HANDWÖRTERBUCH DER
    SEXUALWISSENSCHAFT

    Enzyklopädie der natur- und kulturwissen-
    schaftlichen Sexualkunde des Menschen

    herausgegeben von

    MAX MARCUSE

    Zweite stark vermehrte Auflage mit 140 Abbildungen

    A. MARCUS & E. WEBERS VERLAG
    BONN 1926