Rezension von: Bidenkapp, Georg ›Im Kampfe gegen Hirnbacillen‹ 1903-201/1903
S.

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Neue Freie Presse 8. Februar 1903 

[Dr. Georg Biedenkapp. „Im Kampfe gegen
Hirnbacillen
“. Berlin, 1902.] Hinter diesem wenig an-
sprechenden Titel birgt sich das Buch eines tapferen Mannes, der
dem Leser viel Beherzigenswertes zu sagen weiß. Mehr von dem
Inhalt verräth der Untertitel des Werkes: „Eine Philosophie der
kleinen Worte“. Der Autor kämpft nämlich gegen jene „zu Vieles
aus- oder einschließenden Wörtchen und Wortformen“, welche bei
denen, die sie mit Vorliebe zu gebrauchen pflegen, eine schädliche
Neigung zu „exclusiven oder superlativen Urtheilen“ bekunden.
Selbstverständlich — auch dieses Wort würde unser Autor bean-
standen — gilt der Kampf nicht jenen harmlosen Worten, sondern
der Neigung, sich an ihnen zu berauschen und der so gewonnenen
Hebung der Darstellung zuliebe an die nothwendigen Ein-
schränkungen seiner Aussage, wie an die unvermeidliche Bedingt-
heit der eigenen Urtheile zu vergessen. Es dient wirklich zur
nützlichen Mahnung, wenn Einem vorgehalten wird, wie Vieles als
„selbstverständlich“ oder als „unsinnig“ von den Menschen einer
früheren Generation bezeichnet wurde, was uns heute umgekehrt als
unsinnig oder als selbstverständlich gilt. Oder wenn wir an einer
Reihe gut gewählter Beispiele ersehen, welche Einengung ihres Ge-
sichtskreises selbst bedeutende Schriftsteller sich in Folge ihres Miß-
brauches von Superlativen vorwerfen lassen müssen. Die Mahnung
zur Nüchternheit in Urtheil und Ausdruck dient unserem Autor
indeß nur als Ausgangspunkt zu weiteren Erörterungen über
andere „Denkfehler“ der Menschen, über den Mittelpunktswahn, den
Glauben, über die atheistische Moral und dergleichen. In all diesen
Bemerkungen zeigt sich das ehrliche Bestreben des Autors, Ernst zu
machen mit der Durchführung jener Weltanschauung, die uns durch
die Ergebnisse der modernen Wissenschaft, im Besonderen der Ent-
wicklungslehre, aufgenöthigt wird. Es ist sehr viel psychologisch
Richtiges dabei, und manche Wahrheit von der Art, die schon oft
gesagt worden ist, aber nicht oft genug wiederholt werden kann.
Der Autor hat sich die undankbare Aufgabe gestellt, „die Menschen
zu bessern und zu bekehren“ auf dem Wege nüchterner Beein-
flussung, ohne sie durch Humor zum Lachen bewegen oder durch
Leidenschaft mit fortreißen zu wollen. Wünschen wir ihm dazu den
besten Erfolg! Professor Sigmund Freud.