Rezension von: Buss, Otto ›Zur Lehre von der Dystrophia muscularis progressiva‹ 1887-205/1887
  • S.

    Nr. 1.    Centralblastt für Kinderhilkunde.    15    
    Otto Buss. Zur Lehre von der Dyatrophia muscularis progressiva    
    (Berl. kl. Wochenschr. Nr. 4, 1887).    
    Beobachtung zweier Geschwister, eines 16jährigen Knaben und    
    eines 13jahrigen MAdchens, welche von einem blutsverwandten Eltern-    
    paar abstammen. Bei dem Knaben begann die Affection im Alter von    
    10 Jahren mit Reissen und Ziehen in den Gliedern; hierauf langsam    
    aber stetig zunehmende Schwäche des ganzen Körpers, welche ibm    
    das Gehen und Treppensteigen beschwerlich machte. Seine Waden    
    sollen damals dicker gewesen sein als zur Zeit der Beobachtung.    
    Der    16jährige Kranke zeigt etwas stupiden Gesichtsausdruek.    
    einen greisenhaften Zug um den Mund, welcher von dér Verdünnung.    
    besonders der Oberlippe, herrührt. Der Panniculus adiposus ist ziem-    
    lich gut entwickelt, Sensibilität intact; Hirnerscheinungen fehlen.    
    Die oberen Extremitäten zeigen deutliche Atrophie der Oberarme    
    durch Abnahme der M. Biceps und Brachialis internus. Ersterer Muskel    
    fühlt sich sehr derb und straff gespannt an und verhindert durch seine    
    Retraction die völlige Streckung im Ellbogengelenk. Ferner sind in    
    geringerem Grade atrophisch: die Pectorales, Gucullares und die tübrigen    
    Rückenmuskeln. Die oberen und hinteren Partien des Deltoides und    
    der obere Theil des Triceps sind anscheinend leicht hypertrophisch.    
    Die Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit ist im Deltoides am    
    deutlichsten. Die Muskeln der Unterarme sind gut, die Kraft beider    
    Hände gering.    
    An den unteren Extremititen keine auffällige Volumsverrin-    
    Autheben. des Beines geschieht in Rückenlage nur unvollständig. Auf-    gerung der Muskeln, welche sich sehr hart und derb anfublen. Das    
    richten sichtlich schwer. Der Gang mit nach hinten übergebeugtem    
    Rumpf und starker Lordose des unteren Theiles der Wirbelsäule.    
    Patient tritt mit den F'ussspitzen auf, die Beine werden breit aufgesetzt,    
    die Arme rom Körper abstehend gehalten. Treppensteigen sehr er-    
    schwert, das Aufrichten aus horizontaler Lage geschieht in der für    
    die Pseudohypertrophie charakteristischen Weise. Ein aus dem linken    
    Biceps excidirtes Muskelstückchen zeigte frisch untersucht blasse Får-    
    bung, sehr wechselnde Breite der Primitivfasern, welche zum Theil    
    ihre Querstreifungeingebüsst hatten und mit zahlreichen Körnchen    erfallt waren. Das interstitielle Bindegewebe vermehrt.    
    Die zweite Kranke, die 13jährige Sehwester, soll ebenfalls um    
    das zehnte Lebensjahr die ersten Erscheinungen von Ermüdung und    
    Sehwäche gezeigt haben. Bei ihr keine Atrophie im Gesichte und an    
    den Armen, dagegen sind die Muskeln des Schultergürtels leicht    
    atrophisch. Die Muskeln der unteren Extremitäten fühlen sich derb an:    
    Gang, Haltung, Treppensteigen in der für Pseudohypertrophie charakte-    
    ristischen Weise.    
    Die elektrische Erregbarkeit in beiden Fallen erhalten, keine    
    Entartungsreaction, keine fibrillären Zuckungen.    
    Buss tritt mit Recht dafür ein, dass seine beiden Falle eine    
    Mittelstellung zwischen der Pseudohypertrophie, der juvenilen Atrophie    
    von Erb und der an den Gesichtsmuskeln beginnenden, infantilen Atro-    
    phie von Duchenne einnehmen und schliesst daraus, dass diese    
    klinischen Formen nur Spielarten derselben Erkrankung, der primären    

     

  • S.

    16    Centralblatt für Kinderheilkunde.    Nr. 1.    
    Myopathie sind. Er steht dabei in voller Uebereinstimmung mit Charcot,    
    welcher in seinen ,Neuen Vorlesungen hervorgehoben, dass nicht die    
    Volumszu- oder Abnahme, sondern die Krattverminderung bei geweb-    
    lieher Veränderung der Musculatur das für die primäre Myopathie    
    Charakteristische ist.    
    Freud (Wien).