Rezension von: Friedländer, R[ichard] ›In welchem Zeitpunkt ist es angezeigt, mit der elektrischen Behandlung acut entzündlicher Krankheiten des Nervensystems zu beginnen?‹ 1887-206/1887
S.

R. Friedländer. In welchem Zeitpunkt ist es angezeigt, mit der elektri    
schen Behandlung acut entziindlicher Krankheiten des Nervensystems    
zu beginnen? (Centralblatt f. Nervenheilkunde Nr. 2, 1887.)    
Friedländer tritt der verbreiteten Anschauung entgegen, dass man    
in dem acuten Stadium entzündlicher Affectionen des Nervensystems    
constanten Strom nicht anwenden dürfe und behauptet vielmehr,    
dass man durch vorsichtige Dosirung des Stromes (schwache    
Intensität, bei Rücksicht auf die Stromdichte) im Stande sei, den ent-    
zündlichen Process aufzuhalten. Als Beleg theilt er einen Fall acuter    
Poliomyelitis bei    einem 1ljährigen Kinde mit. welcher einen sehr    
günstigen Verlauf unter sofortiger Anwendung des constanten Stromes    
nahm. Die kleine Patientin, am 23. August 1886 unter hohem Fieber    
erkrankt, zeigte am 29. d. M. complete Lühmung des linken Armes    
bis aut geringe Fingerbewegungen, Störung der Beweglichkeit um das    
rechte Bchultergelenk, dabei Schmerzen in der Halswirbelsäule,_Druck-    
empfindlichkeit über den Dorn- und Querfortsätzen des 5., 6, 7. Hals-    
und 1. Brustwirbels; die Sehnenreflexe an den Armen fehlend, die    
Sensibilität. Blasen- und Mlastdarmfunctionen, Functionen des Gehirns    
und der Sinnesnerven intact. Es wurde noch am selben Tage die    
elektrische Behandlung eingeleitet, und zwar -rûckenstationsweise mit    
Anoden'atte von 55 Quadratcentimeter, in 3 Stationen auf den oberen    
Halswirbeln. Kathode eben so gross auf dem lanubrium und im Epi-    
gastrium. Die Stromstürke bis 8 Milliamperes und die Behandlungs-    
zeit im Ganzen etwas über 2 Minuten. Diese Behandlung wurde täglich    
einmal wiederholt, dabei möglichste Ruhe angerathen.    
Das Allgemeinbefinden besserte sich nun sehon in den nächsten    
Tagen, die Druckempfindlichkeit der Halswirbelsäüle schwand bald;    
dafür wurden nach und nach Brust- und Lendenwirbel druckempfind-    
lich und es stellten sich leichte Bewegungsstürungen an den Beinen    
ein. Dieselben erreichten jedoch keine besondere Stärke.    
Nach 12wöchentlicher Behandlung waren die Bewegungen des    
rechten Armes in Kraft und Excursionsweite wieder ganz gehörig, es    
bestand am linken Arm deutliche Nchwäche des Deltoideus mit mässigem    
Schwund dieses Muskels; die (ibrigen Nuskeln gut, aber schwächer    
als rechts. Die Sehnenrefiexe an den Armen waren wiedergekehrt,    die    
Parese der Beine bis auf geringe Schwiche um das linke Fussgelenk    
geschwunden.    
Der Fall beweist jedenfalls. dass frühzeitiges Elektrisiren bei der    
acuten Poliomyelitis nicht schadet, wenn es von kundiger Hand unter    
den angegebenen Bedingungenminimale Stromstärke!) geübt wird.    
Der Autor    verhehlt sich aber selbst nicht, dass ein ähnlich günstiger    
Ausgang anderemale ohne jeden Bingriff vorkommt.    
Freud (Wien).